Inkommensurable Biographien treffen aufeinander

von Wolfgang Behrens

30. Juli 2010. Die schönste Kritik, die wohl je zu einer Inszenierung des vor Jahresfrist verstorbenen Peter Zadek geschrieben wurde, stammt - sorry, Herr Stadelmaier - aus der Feder von Benjamin Henrichs. Sie erschien am 23. Februar 1996 in der "Zeit" und sezierte mit seismographischem Gespür und unbedingter liebender Hingabe das Bühnendasein der Zadek-Schauspieler in Tschechows "Kirschgarten", seinerzeit neu inszeniert am Akademietheater Wien. Henrichs beschrieb in seinem Text auf wahrhaft wunderbare Weise die "fast unbegreifliche Beiläufigkeit und Entspanntheit" der Darsteller, von Angela Winker, Ulrich Wildgruber und all den anderen - Leute, die "auf der Bühne nur so dahin leben". Hier sollte auch der Nachgeborene eine Ahnung davon bekommen, was das Geheimnis der großen Zadek'schen Aufführungen war.

Trotzdem habe ich Henrichs' Kritik damals, als ich sie zum ersten Mal las, gehasst. Denn in einem kurzen Schlussabsatz brachte Henrichs Zadeks "Kirschgarten" gegen eine andere Aufführung in Stellung, die er einen Tag später in Berlin gesehen hatte - gegen Einar Schleefs "Puntila"-Inszenierung am Berliner Ensemble. Von "deutscher Kunststrafanstalt" war nun die Rede; Henrichs räumte ein, zur ersten Pause gegangen zu sein, und rief der Schleefkunst ein trotziges "Nieder mit den Holzfällern!" hinterher.

Eskalationen der Nachwendezeit

Zadek vs. Schleef - das war nicht nur die zufällige Konstellation zweier aufeinanderfolgender Premieren an einem Wochenende, das war vor allem ein regelrechter Krieg der Ästhetiken, der in den Jahren zuvor just am Berliner Ensemble eskaliert war, als Zadek dort als Direktoriumsmitglied und Schleef als raumgreifender Regisseur agierte. Da ich damals zu den Parteigängern Schleefs gehörte (und wohl bis heute gehöre), musste ich Henrichs' Text als pure Provokation empfinden.

Henrichs' so glänzende wie zuletzt auch polemische "Kirschgarten"-Rezension ist dankenswerterweise im Anhang des hier anzuzeigenden Buches nachzulesen, des dritten Bandes der Lebenserinnerungen von Peter Zadek: "Die Wanderjahre 1980-2009". Im Herzstück des Buches wird man unmittelbar hineingeführt in jene Konflikte der Nachwendezeit, als auch am Berliner Ensemble das Experiment unternommen wurde, den Osten mit dem Westen zu vereinigen. Und eines ist sicher: Zadek nimmt hier kein Blatt vor den Mund, wenn es gilt, seine - zweifellos egozentrische, aber ebenso zweifelsfrei grundehrliche - Sicht der Dinge zu bekunden.

Ungeschützt, rücksichtslos, schmerzlich unvollständig

Wie seine beiden Vorgänger ist auch der dritte Teil von Zadeks Autobiographie aus Gesprächen mit dem Verleger Helge Malchow hervorgegangen; Zadeks Lebensgefährtin Elisabeth Plessen hat sie in einen fortlaufenden Text gebracht. Das große Plus dieses Verfahrens wiegt das Minus, das im leicht Unsystematischen und manchmal schmerzlich Unvollständigen der Darstellung liegt, allemal auf: Man lauscht einem Peter Zadek, der ungeschützt und rücksichtslos formuliert, so, als säße man mit ihm in der Theaterkantine (wenn ihm auch, wie er auf S. 240 gesteht, das "Kantinenzusammensein" sehr fremd war - auch das am BE der 90er Jahre sicherlich ein Problem).

Und so räsoniert Zadek denn über das letztlich mit Pauken und Trompeten gescheiterte Projekt, das BE von 1992 an mit fünf Direktoren zu leiten: mit zweien aus dem Osten (Heiner Müller und Fritz Marquardt), zweien aus dem Osten, die in den Westen gegangen waren (Peter Palitzsch und Matthias Langhoff) und einem aus dem Westen (Peter Zadek). Offen schildert Zadek den clash of esthetics, der fast unvermeidlich war: Ost-Schauspieler wie etwa Hermann Beyer (den Zadek sehr schätzte), die zu Beginn einer Probe fragten: "Also was ist das Konzept, Herr Zadek, für diese Rolle?", was Herrn Zadek völlig aus dem Konzept brachte. Zadek überliefert hochkomische Episoden mit Heiner Müller (den Zadek "irgendwo liebte"), der Inszenierungen Zadeks mit vergifteten Komplimenten versah: "Das war aber sehr schön, Peter, eine schöne Operette." Und er berichtet detailfreudig von den Intrigen von, um und gegen Schleef, als dieser mit seiner Uraufführung von Hochhuths "Wessis in Weimar" die Kräfte des Hauses zum ersten Mal überzustrapazieren drohte.

Alles Fragen der Besetzung

Und Schleef - o weh! - kriegt ordentlich sein Fett weg: "Einar Schleef hatte wahrscheinlich mehr unrecht als Schmerzen", sagt Zadek einmal. Und: sein Theater habe ihn "an Nürnberg erinnert". Und dergleichen mehr. Für Zadek steht es fest, dass das BE-Fünfer-Direktorium an der Frage der Wiederbeschäftigung des Regisseurs Schleef zerbrach, an nichts anderem. Das zumindest kann man in Frage stellen, wie überhaupt vieles, was Zadek postuliert, zum Widerspruch reizt.

So wenig selbstgerecht Zadek in seinen Erinnerungen erscheint - er schont sich selbst keineswegs, sitzt auch über seine eigenen Arbeiten sehr klarsichtig zu Gericht -, so sehr mag er nachträglich die Wirkung unterschätzen, die sein selbstgewisses "westliches" Auftreten an einem für das östliche Selbstverständnis so entscheidenden Theater wie dem BE hatte. Fritz Marquardt, einer der Direktoren, hat das an anderer Stelle eindrücklich geschildert. Und obwohl Zadek das Eigene des in der DDR verwurzelten Theaters recht genau zu benennen wusste, war er ihm und seinen Qualitäten gegenüber doch nahezu blind - er konnte und wollte es nicht wertschätzen: was drei Jahre nach dem Ende der DDR an einem der wichtigsten Ost-Berliner Theater eine sicher nicht ganz unproblematische Haltung war.

Doch es ist gut, sehr gut (und das gilt auch für Schleef-Parteigänger), dass man sich Zadeks Perspektive auf jene Jahre (und - nicht minder spannend - auf die Jahre zuvor und danach) nun lesend aneignen kann. Vieles klärt sich - und auf unterhaltsame Weise, da Zadek nie um pointierte, manchmal erschreckend treffende Charakterisierungen verlegen ist. Oder um ein paar gezielte Unverschämtheiten und wohl platzierte Kollegenschelte (zu Jürgen Flimms Theater etwa: "Es ist uninteressantes Theater, weil es nichts wagt. Es hat keine wirklich großen Würfe, die schief gehen, was ja auch interessant wäre. Deswegen finde ich es langweilig.")

Und das Almosen der Schauspieler

Meisterlich versteht es Zadek zudem, seine eigene Arbeitsweise zu erläutern, die ja nicht zuletzt in der Kunst der richtigen Besetzung bestand. Mit wenigen Worten beschwört er mitunter das Vermögen seiner geliebten Schauspieler (von Susanne Lothar bis zu Uwe Bohm, von Eva Mattes bis zu Gert Voss) oder die Atmosphäre seiner Inszenierungen. Jedenfalls rufen Zadeks Erinnerungen aus einer noch gar nicht so lange vergangenen Zeit zu uns herüber, als man über Theater noch bis aufs Blut stritt, weil dort inkommensurable Biographien aufeinandertrafen - und nicht bloß unverbindliche ästhetische Spielereien. Dem kann man sich nur schwer entziehen. Man sollte das lesen.

P.S. Eigentlich sollte es Standard sein, auch ein bisschen Lektoratskritik zu üben. Auf den ersten Blick haben die Leute von Kiepenheuer & Witsch hier gute Arbeit geleistet - in sprachlicher Hinsicht ist das Buch nahezu fehlerfrei. Doch schlampige Nachrecherchen müssen sich die Lektoren ankreiden lassen: Das geht von falsch geschriebenen Schauspielernamen (Fritz Schedewy statt Schediwy) über falsch referierte Fakten (keineswegs hat Peter Stein die Wiener "Wallenstein"-Proben von Andrea Breth übernommen, das war Thomas Langhoff) bis hin zu einem Buchtitel samt Autor, den es nicht gibt: Leahy, "The Aristocracy in the 18th Century". Da in letzterem Werk immerhin das "Ideal einer Regierung nach meinem [Zadeks] Geschmack" stehen soll, wüsste man doch gern, um was es sich da handelt.

 

Peter Zadek
Die Wanderjahre. 1980-2009
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Elisabeth Plessen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 519 Seiten, 24,95 Euro

 


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