Der babylonische Feuerbringer und das Reclam-Heft

von Dina Netz

Essen, 5. August 2010. "Vielleicht will Zeus ja das Feuer der Menschen wieder löschen." So witzelt mein Sitznachbar unerschrocken, als er sich im strömenden Regen das vom Team der Stiftung Zollverein umsichtigerweise für jeden Zuschauer bereitgehaltene Plastikcape überzieht. Der für den Raum zuständige griechische Künstler Jannis Kounellis ist ein hohes Risiko eingegangen, indem er die Bühne für den "Gefesselten Prometheus" ins Freie baute. Eine andere Zuschauerin berichtet, dass der Premierenabend in Istanbul diesem Wagnis wegen eines Unwetters sogar zum Opfer fiel. Diesmal, in Essen, bibbern zwar alle mit nassen Füßen vor sich hin, aber die Aufführung kann stattfinden. Das Publikum beweist geradezu prometheischen Widerstandsgeist.

Das mag auch mit dem weiten Weg zu tun haben, den man schon zurückgelegt hat: Der Spielort "Gleisboulevard" liegt ziemlich am Rand des Geländes der Zeche Zollverein. Im Hintergrund die Umrisse der ehemaligen Waschkaue, vorn stehen leere, von Jannis Kounellis herbeigeschaffte Züge. Das Publikum sitzt auf einer Tribüne einer flachen Holzbühne gegenüber. Eine schwarze Katze klettert über die Gleise. Die erloschene Zeche im Hintergrund, während vorn der Feuerbringer Prometheus räsoniert - das ist imposant. Die Bühne selbst allerdings, die ja eigentlich nur aus Brettern und Zügen besteht, wirkt rätselhaft. Vielleicht sollen die leeren, beleuchteten Züge signalisieren, dass wir am Ende der Welt angekommen sind, also am Felsen im Kaukasus, an den Prometheus gekettet ist, wer weiß?

Immerhin: zwei szenische Einfälle

Zwölf Männer liegen am Boden, ihre Hände auf dem Rücken verkrampft, als wären sie gefesselt. Sie keuchen, Schüsse fallen, sie zucken. So eindrücklich und eindringlich beginnt Theodoros Terzopoulos' Inszenierung von Aischylos' "Der gefesselte Prometheus". Prometheus ist als Einziger nicht gefesselt: Er steht im Bühnenhintergrund und reflektiert seine Lage. Gefangen sind eigentlich die anderen, die Masse, die sich wie Würmer am Boden windet. Prometheus ragt über sie hinaus, weil er Mut bewiesen hat, indem er sich Zeus widersetzte, den Menschen formte und ihm das Feuer brachte. Und weil er seine jetzige Lage (Fels, Ketten, Adler, Leber...) annimmt als Konsequenz aus seinem Handeln.

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Prometheus, chorisch © Ellen Bornkessel

Das scheint Terzopoulos' Botschaft zu sein, für die er leider wenige szenische Einfälle hatte. Eigentlich nur noch einen weiteren: Immer mal wieder treten alle 13 inklusive Prometheus in eine Reihe und rufen "Der Tag wird kommen" - der Tag, an dem Prometheus befreit wird, ist gemeint. Doch bald darauf legen sich die zwölf Schauspieler wieder hin und verkrampfen sich.

Lautstarke Sprachverwirrung

Dass man recht schnell das Gefühl hat, dass einen das Bühnengeschehen nichts angeht, mag auch mit dem Sprachproblem zu tun haben: Die Schauspieler sprechen in ihrer jeweiligen Muttersprache Griechisch, Deutsch oder Türkisch. Wer Aischylos nicht internalisiert oder an der Abendkasse noch schnell das Reclam-Heft gekauft hat, kann den Dialogen nicht folgen. Dahinter mag die Absicht stecken, zu zeigen, dass die im "Gefesselten Prometheus" verhandelten Fragen ohnehin universell sind. Doch für nur des Deutschen Mächtige erzeugt die Aufführung eher babylonische Sprachverwirrung.

Dass die Aufmerksamkeit schnell erlahmt, mag auch mit der etwas altmodischen Spielweise zu tun haben. Die Schauspieler, allen weit voran Götz Argus als Prometheus, deklamieren den Text lautstark, wie es selbst auf einer Freilichtbühne nur gerade eben noch durchgeht. Diese Inszenierung des "Gefesselten Prometheus" jedenfalls hat das Feuer nicht zur Zeche Zollverein zurückgebracht.

Am Ende der Promethiade

Insgesamt kann man aber sehr wohl sagen, dass die "Promethiade" zumindest ein Licht auf Zollverein gezündet hat. Alle drei Regisseure haben sich intensiv mit dem Prometheus-Mythos auseinandergesetzt: Sie haben die Vorlage sehr ernst genommen und auf ihren Kern untersucht. Seien es die 103 Griechen, die in Prometheus in Athen von Rimini Protokoll zu Wort kommen, oder sei es der griechische Regisseur Theodoros Terzopoulos: der Widerstandsgeist des Prometheus scheint in ihnen lebendig - wenn alle ihre Landsleute so der Staatskrise trotzten, dann dürfte es mit dem Land bald wieder aufwärts gehen.

 

Der gefesselte Prometheus
des Aischylos
Übersetzung von Eleni Varopoulou, Heiner Müller, Sabahattin Eyüboglu
Regie, Dramaturgie, Kostümbild: Theodoros Terzopoulos, Raum: Jannis Kounellis, Musik: Takis Velliantitis, Lichtdesign: Theodoros Terzopoulos, Konstantino Bethanis. Produktionsleitung: Maria Vogiantzi.
Mit: Yetkin Dikinciler, Sophia Michopoulou, Götz Argus, Sophia Hill, Kerem Karaboga, Stathis Grapsas, Devrim Nas, Christian Holdt, Antonis Myriagkos, Laurens Walter, Thanasis Alevras, Maximilian Löwenstein, Umut Kircali, Nazmi Sinan Mihci, Andree-Östen Solvik, Alexandros Tountas.

www.zollverein.de/promethiade

 

Teil 1 der Ruhr-2010-Promethiade: Vergessen in zehn Schritten von Şahika Tekand.
Teil 2: Prometheus in Athen von Rimini Protokoll
Jossi Wieler inszenierte Prometheus, gefesselt in der vergangenen Spielzeit an der Schaubühne Berlin