Redaktionsblog - Zu welchem Ende erdulden wir Gerhard Stadelmaiers Kritikertypologie?
Der Ressentiment-Kritiker
9. August 2010. Adorno hat in seiner 1961/62 gehaltenen Vorlesung "Einleitung in die Musiksoziologie" eine mindestens so berüchtigte wie berühmte Hörertypologie entworfen, von der ich mir nie sicher war, ob sie nicht doch mit einem Hang zur Satire ausgestattet ist. Wunderbar plastisch ausgepinselte Karikaturen lässt der Philosoph der Neuen Musik da vor unserem geistigen Augen vorbeiziehen: den Bildungshörer etwa ("er hört viel, unter Umständen unersättlich, ist gut informiert, sammelt Schallplatten"), den emotionalen Hörer ("jedenfalls ist sein musikalisches Ich-Ideal dem Cliché des heftig zwischen Aufwallung und Melancholie hin- und herpendelnden Slawen nachgebildet") oder den Unterhaltungshörer ("er applaudiert als Gast von Rundfunkveranstaltungen begeistert auf Lichtsignale, die ihn dazu animieren").
Der Lesespaß, den die Vorlesung auch heute noch zu vermitteln versteht, wird allenfalls durch die unangenehm berührende Tatsache getrübt, dass Adorno - ohne es explizit zu sagen - sich selbst in die Hörertypologie einschreibt und an deren Spitze setzt: im Typus des Experten: "Wer etwa, zum erstenmal mit einem aufgelösten und handfester architektonischer Stützen entratenden Stück wie dem zweiten Satz von Weberns Streichtrio konfrontiert, dessen Formteile zu nennen weiß, der würde, fürs erste, diesem Typus genügen." Man versteht. Adorno genügte. Fürs erste.
Stadelmaiers Typologie
Die Frankfurter Allgemeine veröffentlichte am Wochenende einen Vorabdruck aus dem demnächst erscheinenden Buch "Parkett, Reihe 6, Mitte" ihres Großkritikers Gerhard Stadelmaier (den ich – bitte nicht missverstehen! – hier nicht in den Rang eines Adorno einsetzen möchte). Stadelmaier entwirft in dieser (im Vorabdruck gekürzten) Fassung seines Buchvorworts eine Theaterkritiker-Typologie. Hätte er sich – was sicherlich nicht in seiner Absicht stand – enger an Adorno angeschlossen, dann hätte es eigentlich eine Theaterzuschauer-Typologie sein müssen. In einem aber folgt Stadelmaier Adorno ganz unmittelbar: in dem zwar nicht direkt ausgesprochenen, aber ansonsten auch nicht weiter kaschierten Versuch, sich selbst als den Idealtypus des Kritikers zu installieren.
Denn ganz oben auf Stadelmaiers Kritikerpyramide thront der "autonome Kopf", ein "reizbares Subjekt", ein "aufgeklärter demokratischer Despot", dessen Tätigkeit "freie Rede auf offenem Markt" ist: "Dem Theater wie den Kollegen gegenüber bleibt dieser Kritiker naturgemäß ziemlich einsam. Aber frei." Stadelmaier dürfte diesem Typus genügen. Fürs erste.
Weitere Typen sind das "alte Kind" (sein "liebstes Werkzeug ist das 'Es war einmal'") und der Kulturpolitiker oder Taktiker (er "hat das Intendantenkarussell scharf im Auge"). Und dann gibt es natürlich noch den Kritikermob, den "hierzulande und gegenwärtig absolut dominanten, typisch deutschen Typ": den "Tendenzhuber" oder "Mitläufer". Hier jaule ich natürlich auf, denn ich fühle mich ertappt, erkannt, getroffen. Denn was Stadelmaier über diesen Typus, also mich, weiß, ist verblüffend: "Je mehr er sich gelangweilt hat, desto besser muss der Abend für ihn gewesen sein. Sein Masochismus würde ihm jedes Anzeichen von Amüsement, gar von Gelächter als untrügliches Zeichen eines misslungenen Abends signalisieren. Er will, dass das Theater weh tun muss. Je mehr es schmerzt, desto besser für ihn."
Ärger aus vollster Überzeugung
Ja, das ist mein Konterfei. Ich habe Aufführungen geliebt, von denen Stadelmaier weiß, dass sie langweilig waren: Aufführungen von Schleef, Schlingensief, Castorf, Castellucci oder Gotscheff. Ich habe sie aus Masochismus und Fanatismus geliebt, wider besseres Wissen, aber aus dem tiefen Wunsch heraus, keinen Trend zu verpassen. Immerhin gesteht mir Stadelmaier noch zu, "aus vollster Überzeugung" gehandelt zu haben.
Ich bekenne: Ich habe mich, als ich Stadelmaiers Text am Samstag im Zug las – auf dem Weg zu einer Podiumsdiskussion über den Oberlangweiler Einar Schleef –, über Stadelmaiers Typologie geärgert, vermutlich über Gebühr geärgert. Geärgert habe ich mich über die Arroganz dessen, der sich im sicheren Besitz des richtigen Urteils wähnt. Der weiß, wann man sich langweilt. Von dieser Warte aus lässt sich trefflich kategorisieren: Wer meine Ansicht nicht teilt, der irrt. Der hechelt einem Trend hinterher. Ich hingegen stehe für das Zeitlose. Einsam, aber frei.
Stadelmaier suggeriert uns, dass es so etwas wie ein autonomes Urteil gebe. Eines, in dem sich keinerlei ästhetische Tendenz blickverhängend niederschlägt. Das ist Unsinn, denn ohne ästhetische Voreinstellungen lässt sich ein Theaterabend, lässt sich kein Kunstgegenstand betrachten. Man kann versuchen, diese Voreinstellungen mitzureflektieren, und vielleicht entkommt man dann dem Vorwurf, ein bloßer Trendschreiber zu sein. Stadelmaier jedenfalls reflektiert seine ästhetischen Voreinstellungen nicht mit.
Kraft seiner Starrheit
Ich weiß nicht, welche Aufführungen genau es waren, die Stadelmaier in einer Zeit geprägt haben, da wir uns den Kritiker als jungen Mann vorstellen müssen. Es werden die großen Inszenierungen der 70er Jahre gewesen sein: Stein, Zadek, Grüber, Bondy vielleicht. Und Stücke von Botho Strauß. Von daher bezieht Stadelmaier sein Maß, das seitdem unbarmherzig an alles angelegt wird – ob das Maß nun adäquat sei für das Gemessene oder nicht. Ein "Tendenzhuber" ist Stadelmaier damit wohl wirklich nicht, denn die Tendenz, der er anhängt, ist etwa 40 Jahre alt.
Bei Adorno gibt es übrigens auch den Ressentiment-Hörer. "Er verachtet das offizielle Musikleben als ausgelaugt und scheinhaft; aber er treibt nicht darüber hinaus, sondern flüchtet dahinter zurück in Perioden, die er vom vorherrschenden Warencharakter, der Verdinglichung, geschützt wähnt. Kraft seiner Starrheit zollt er derselben Verdinglichung Tribut, der er opponiert." Jawohl, das ist es. Es gibt noch einen fünften Kritiker-Typus, den Ressentiment-Kritiker. Und Stadelmaier ist der größte unter ihnen.
(Wolfgang Behrens)
Hier geht's zum Blog von Esther Slevogt über Gerhard Stadelmaiers Auftritt in Neuhardenberg.
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Herr Stadelmaier hat ein Buch geschrieben, was nicht weiter verwunderlich ist, tut er dies doch ständig, schreiben nämlich über das Theater, als Kritiker wie er behauptet. Er sitzt tagein tagaus im Parkett, Reihe 6, Mitte. Der typische Parkettbewohner, der es liebt sein zweites Wohnzimmer, mit den Bommeln am Vorhang vor dem Fenster, das man Bühne nennt und wo sich für ihn das Leben abspielt. Und so schreibt er, schauend in oder wenn man will aus diesem Fenster, alles was er so sieht auf seinen Spiralblock. Gleich einem Blockwart, beflissen die Mitbewohner beobachtend, beim Müll raus tragen oder argwöhnisch, wenn wieder jemand seine innige Ruhe stören will. Er ertappt sie alle, das alte Kind, den Tendenzhuber, den Taktiker und Politiker, jeden der sich an seinem weit geöffneten Fenster versucht vorbei zu drücken und hält ihnen seine blumige Gardinenpredigt, mindestens das ist sicher. Neidisch sieht er über die Straße zur anderen Seite, wo er ebenfalls Blockwarte vermutet, die ihm seine Arbeit streitig machen könnten. Nur nachts muss er es verlassen, sein geliebtes großes Wohnzimmerfenster und ziehen in seine dunkele Wohnung im Parterre. Und was steht dort geschrieben am Klingelbrett, nicht "Der Weltgeist" oder "Der Papst" oder gar "Gott". Nein, nur ein armer bürgerlicher Name. Einsam aber frei steht er dann nachts im Hinterhof und schreit den Mond an, ihm sein Leid klagend über diese verkommene Welt, gleich dem Protagonisten aus Dea Lohers Berliner Geschichte, seine "Theatergeschichte" verkündend.
Alle Kritiker waren voll des Lobes über Goschs "Möwe", Christine Wahl fand Cathleen Morgeneyer sogar "sensationell", nicht aber Stadelmaier. Manchmal will es einem scheinen, als ziehe Stadelmaier aus seiner abweichenden Haltung einen besonders intensiven Genuss, schließlich schreibt er nicht nur für das krude Tagesgeschäft, sondern bewegt sich in einem zeitlosen Rahmen, in dem sich einander fremde, ebenfalls zeitlose Geister gegenseitig inspirieren.
Stadelmaiers Diktion klingt ebenfalls so, als befände er sich in einer anderen Zeit. Seinem bemüht schöngeistig verbrämten, altbackenen Stil haftet nun wirklich kein Goldklang an. Mitunter liefert er abstruse Wortkombinationen und bizarre Eigenschöpfungen von Ausdrücken, die wohl zu jenem Image gehören, das er von sich aufgebaut hat: feinsinnige Kauzigkeit und gebremster Elitarismus. Stadelmaier ist ein Anwalt des posthum Tauglichen. Sein scharfer Blick ist auf jene Stücke gerichtet, die selbst in 30 Jahren noch bestehen könnten. An schlechten Tagen klingt er wie ein Hochbetagter, der wider Willen mit den Aktualitäten der Porno-Industrie konfrontiert wurde.
Ich verstehe nicht, warum Herr Behrens – ein Nachtkritiker, der noch am meisten die Nähe zum schlichten User sucht -, sich über Stadelmaiers Reflexionen überhaupt ärgern kann. Stadelmaier äußerte nur seine Sicht der Dinge – und es gibt viele Sichten.
Immerhin, die große Lade der nichtnachgespielten Stücke kommt vor in dem Text, es wird ein kleiner Abriß zu einer groben Kritikertypologie geliefert: warum nicht ?
Da gibt es bei der Notiz "Muß ich jetzt wirklich an die, an den denken ..." hin und wieder auch ein Schmunzeln: Stünde nicht der bürgerliche Name "Stadelmaier" darüber würde erstens viel weniger, zweitens ein wenig anders, meist aber wohl eher garnicht darüber gesprochen bzw. geschrieben: Man mag sich ja ärgern, aber solange Stadelmaier offenbar sowohl seine Leser als auch seine "Nichtleser" bestens bedient, hat er wohl seinen Job, wie er ihn umreißt, getan..
Liebe Frau Capponi, mit Verlaub, Sie haben es ja zu den "Drei Schwestern" und dem "Diener zweier Herren" dennoch (?!) ganz gut
geschafft. Wenn Ihre Freunde dem Stadelmaier nach dem Mund reden sollten, so klingt das für mich, was Sie da geschrieben haben,
dann sollten Sie sich möglicherweise fragen, ob Sie die richtigen Freunde haben bzw. selbst dazu neigen, in einer Art "vorauseilendem
Gehorsam" zu agieren: im übrigen schläft die Frankfurter Konkurrenz, Herr Michalzik et al., nicht ...: Ein anderer Kritiker schrieb einmal als Jahresärgernis bei der jährlichen, auch nun wieder bevorstehenden (in der Veröffentlichung), Kritikerumfrage in TheaterHeute: "Die zunehmende Schubladisierung in der Theaterkritik".
Ja, richtig, so denke ich: Um diese geht es und auch um die Streichung bzw. dpa-Standardisierung (siehe Thomas Rothschild zum
"Freitag" ...) der regionalen resp. überregionalen Theaterkritik.
Da kann so ein, hin und wieder süffiger, Text (wie der von Stadel-
maier) vielleicht sogar wirklich beim Wort genommen werden, einen Anstoß gebend.
Wer des Inszenierens mächtig ist, der prüfe, ob er according "Stadelmaier-Regieart" etwas zuwege bringen könnte, zB. eine Inszenierung des "Inspektor Hound" oder "Tür und Tor": mit großer künstlerischer Freiheit gegen Stadelmaier gerichtet, wenn sie, wenn er Lust hat.
Wenn das nicht gängig erscheint, hinterläßt das vermutlich interessante Fragen.
Und wenn das dann doch nicht gar so viele Fragen hinterläßt, dann ist wohl auch das hinreichend beredt: Stichwort "Sommer , Vorspielzeit, Stimmungsmache... ..
Zu welchem Ende ?
In diesem Fall vermutlich zu einem rund um den nun gänzlich nichtssagenden § 12 herum: Was haben "wir" denn zu erdulden, Herr Melle ??
Schalten Sie ab, wenn es Ihnen nicht paßt, was Sie hier lesen (müssen ???), oder werden Sie wie Blut durch die Adern der Nachtkritikerin gepreßt, "We are blood" !; also, Butter bei die Fische: Was stört(e) Sie hier genau ?.
Und nein, ich schaue auch wirklich nur alle paar Wochen mehr hierhin.
Ist ja eh Sommerloch, aber warte, nur balde,
Dann trifft es auch Dich
Warte nur, Alde
Nicht Fleich und nicht Fich't.