Populärtheater aus Tampere

von Stefan Bläske

Tampere, August 2010. Sie saunieren gemeinsam, trinken, reden, tanzen. Die Stimmung auf dem Theaterfestival Teatterikesä in Tampere, 25 Flugminuten nördlich von Helsinki, ist wohlig warm und feucht fröhlich. Künstler und Kritiker, Festivalmacher und Funktionäre verteilen sich bei diesem ältesten und größten skandinavischen Festival auf über 100 Veranstaltungsorte in der ganzen Stadt. Nachts trifft man einander in der kuschligen Kneipe Telakka - und diskutiert natürlich übers Theater.

Inside the Sauna Psyche: Influences and Isolation

Über "Eight Fatal Bullets" zum Beispiel. Sie saufen, raufen, saufen weiter. Klettern volltrunken die Leiter in den Keller und treiben dort, was sich nun wirklich nicht gehört, schon gar nicht vor laufender Kamera. Ein Mann schlägt mit seinem Gewehr um sich, ein anderer fickt einen entblößten Frauenhintern. Die Kamera zoomt auf das nackte Fleisch, die Aufnahmen aus dem Kellerloch werden auf die Bühnenrückwand projiziert. "Hilfe, Regisseurstheater!", würden Gralshüter und Ressentimentkritiker hierzulande rufen, und auch in Finnland gibt es einen Aufreger: Ein Mann stürzt durch den Zuschauerraum auf die Bühne, empört sich und fordert ein Ende des Schmuddeltheaters und skandalträchtigen Treibens.

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Eight Fatal Bullets © Aki Loponen
 

Der Beschwerdeführer, der die Aufführung unterbricht, stellt sich rasch als Schauspieler heraus, seine Attacke als Persiflage und die von ihm ins Visier genommenen Szenen als Anspielungen auf Kristian Smeds europaweit erfolgreiche Inszenierung "Mental Finland" (ein Kurzportrait von Smeds und der finnischen Theaterlandschaft gibt es auf www.nachtkritik-spieltriebe3.de). Exportschlager Smeds ist ebenso wie die beschriebene Szene des Regisseurs Juha Luukkonen allerdings kaum repräsentativ für die finnische Theatermentalität: jedenfalls sind die auf dem Festival gezeigten finnischen Produktionen weder sonderlich selbstreflexiv noch irgendwie aufregend, jedenfalls nicht ästhetisch.

Das Interesse von Regisseuren und Zuschauern scheint nicht unbedingt einem kreativen und dramaturgisch stringenten Umgang mit Theaterformen als schlicht den erzählten Geschichten und Inhalten zu gelten. Volkstheater funktioniert hier auch als Volkshochschule, Schauspiel zugleich als Unterhaltung und moralische Anstalt, häufig als Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität und der Geschichte der noch so jungen finnischen Nation.

Identity Branding, Amateurs and Outlaws

In "A camp on the Edge of the world", das heißt in einem Kriegsgefangenenlager in Lappland, mit deutschen Aufsehern und russischen Gefangenen, gibt es Dank eines abkommandierten finnischen Übersetzers und eines samischen Rentierhirten Nachhilfeunterricht mit der schlichten (aber schön mit absurden und akrobatischen Elementen in Szene gesetzten) Botschaft, dass Natur und Menschlichkeit wichtiger sind als Nationalität und Rivalität.

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Eugen Schauman © Arto Timonen

In "Eugen Schauman" (eine von mehreren schwedischsprachigen finnischen Inszenierungen in Tampere) wird mit reichlich Waffenhantiererei die Geschichte des finnischen Nationalisten Schaumann nacherzählt, der als Akt des Widerstandes 1904 den russischen Generalgouverneur in Helsinki ermordete (der Besatzer-Bösewicht wird in der Jugendtheaterinszenierung als Darth Vader kostümiert).

"Eight Fatal Bullets" schließlich greift den (u.a. durch Mikko Niskanens Verfilmung) in Finnland bekannten Fall von 1969 auf, bei dem ein vierzigjähriger Farmer und Familienvater, alkoholisiert aggressiv, vier Polizisten erschoss. Die lange, laute und von Filmmusik wie "Spiel mir das Lied vom Tod" untermalte Inszenierung möchte ein Sittengemälde gesellschaftlicher Gewalt liefern und schlägt Bögen von Tagebüchern aus dem finnischen Bürgerkrieg 1918 über den Amoklauf 1969 bis hin zu aktuellen Phänomenen wie "School Shootings" und häuslicher Gewalt. Eine Dia-Show geschlagener, blutiger oder blauunterlaufener Gesichter bebildert die im Rocksong vorgetragene Statistik, dass jede sechste Minute ein Finne Opfer von Gewalt werde.

In diesem so friedlich stillen und beruhigend wirkenden Land mit seinen freundlichen und lakonischen Menschen, seiner Weite der Wälder und Tiefschwärze der Seen ist es für den Fremdling erstaunlich zu sehen, wie wichtig das Thema Gewalt den Theatermachern zu sein scheint. Weniger erstaunlich freilich ist jenes Thema, das derzeit fast überall auf der Agenda steht - die Auseinandersetzung mit Wirtschaft, Krisen und dem schönen Schein.

Beyond Nokialandia: The Post-Political Critique of Neo-Liberalism

Regisseur Juha Jokela etwa möchte in seiner Satire-Show Mechanismen von Politik und Wirtschaft offenlegen und lässt gleich zu Beginn einen Berater-Guru wortreich erläutern, dass - oh Wunder - alle Wirtschaft und eigentlich auch alles Sozialleben "Performance" sei. Das Publikum zeigt sich angetan von der dreistündigen Manager-Persiflage "Performance Economy", und jedenfalls war die Tampere Hall, die mehr Kongresszentrum als Theater ist, der perfekte Rahmen: 1.700 Zuschauer applaudierten einer populistischen Show, die den Populismus von Führungskräften und Mechanismen der Macht zu entlarven vorgab. Ein erstaunlicher Erfolg.

Ebenso gut besucht ist auch das Festival als ganzes. Allein 10.000 Besucher sahen die 55 Vorstellungen im Hauptprogramm, viele Zehntausend sind es, wenn man die Nebenprogramme, Kneipen- und Straßentheater dazuzählt. Das Festival, das einst als konservativer Kontrapunkt zu den Neuerungsbestrebungen im Theater der 1960er gegründet worden ist, kommt gut an in der Bevölkerung, und insofern ist es problematisch und vielleicht gar anmaßend, als Außenstehender die eher volkstümlichen und konventionellen Ästhetiken zu bekritteln, schon gar die gutgemeinten, aber eben selten stringenten Kreativitätsversuche. Und doch wünscht man sich als von anderen europäischen Festivals verwöhnter Besucher doch ein bisschen interessantere Inszenierungen und Gruppen (die Finnland ja z.B. mit dem smedsensemble und Oblivia zu bieten hätte) und erfreut sich an manch internationalem Gastspiel und Gastregisseur.

The Cult of Primitivism: Old Themes, New Forms

Dass man alte Themen aufgreifen und damit durchaus neues Theater machen kann, zeigt unter anderem das estnische Teater NO99 mit der auf den Schamanen Joseph Beuys rekurrierenden Inszenierung "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" (nachtkritik hier).

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Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt
© Ene-Liis Semper

Eine sich selbst beklatschende Kultusministerin namens Hase hält Reden wie Wunschkonzerte: Kunst solle vor allem der Imagepflege des Landes dienen, Kulturförderung doch bitteschön an internationale Erfolge und Preise gekoppelt werden. Das junge estnische Ensemble indes konterkariert alle Forderungen nach "Effizienz" mit wunderbar verspielten, durchaus auch ausufernd langen und selbstverliebten Szenenfolgen und Improvisationen, in denen deutlich wird, dass Kunst ihren Namen nur da verdient, wo sie nicht Mittel zum Zweck ist, sondern auch scheitern und ins Leere laufen darf.

Zum fünften Mal bereits ist der lettische, europaweit arbeitende und reisende Regisseur Alvis Hermanis in Tampere zu Gast. Mit dem italienischen Emilia Romagna Teatro hat er den Roman "Panny z Wilka" des Polen Jaroslaw Iwaszkiewicz in warmes Bühnenlicht getaucht. Die titelgebenden jungen Frauen, "Le signorine di Wilko" sind sechs Schwestern, der Erzähler ein Mann, der ihnen in jungen Jahren Freund und Lehrer und auf je sehr verschiedene Art - aber wunderlicher Weise wohl nicht sexuell - nah war.

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Le signorine di Wilko © Marcello Norbeth

Dieses Mannes Rückkehr nach Wilko und seine Erinnerungen setzt Hermanis zu melancholischem Tango und Bachs Cello-Suiten sinnlich in Szene, die Bühne aus Holz und Stroh und gelbem Licht wirkt wie ein Honigglas, die Erinnerungen warm und wie in Bernstein eingeschlossen. In den Vitrinen auf der Bühne stapeln sich die Marmeladengläser, die eingemachten Früchtchen, und räkeln sich die Frauen. Das mutet manchmal softpornographisch an, zumal Hermanis sich die Damen auf offener Bühne umkleiden lässt (die Handlung hat er, wie er kundtut, wegen der besser passenden und erotischen Mode vom Ende des Ersten zum Ende des Zweiten Weltkriegs verlegt). Zugleich hat die Inszenierung, in der es zu kurzen Berührungen nur im Ohnmachts- und Kinderspiel oder via Glasscheibe kommt, auch etwas prüdes, verklemmtes. Eine Männerphantasie eben. Und gleichwohl ist diese Inszenierung ein wunderhübsches Schmuckkästchen, eine poetisch-sinnliche Visualisierung wohliger, in Stroh gebetteter Erinnerungen

Acknowledgement

Vom lustvoll männlichen Blick auf die Frau ist auch Andriy Zholdaks Inszenierung im Theater Turku durchdrungen: der ukrainische Regisseur lässt "Anna Karenina" mit schwarzer Unterhose, pinken Federflügeln und kleinen silbernen Sternen auf den Brustwarzen posieren. Eine Partygöre, die sich zunächst leichtfüßig übers Parkett der Herrschaftshäuser bewegt, zwischen Offiziersuniformen und Russenpelzen, aber immer öfter gegen reale oder imaginäre Türen und Wände rennt - und am Ende wie ein weidwundes Reh humpelt und im Regen steht. Zholdaks Tolstoi-Adaption strotzt vor Symbolismen, vor wunderschönen Bildern und imponierenden Sound-Effekten. Ein sich verausgabender Dirigent treibt das Geschehen mit fuchtelnden Händen und expressivem Gesicht an, dirigiert Schreiarien und Liebesszenen genauso wie ein imaginäres Orchester und die ohrenschlackernmachenden Toneinspielungen vom Knarzen der sich schließenden Türen bis hin zum verzweifelten und zwischenzeitlich pantomimischen Klinkenrütteln. Das alles ist grenzwertig pathetisch und melodramatisch, insgesamt aber gerade darum so stimmig, kraft- und eindrucksvoll.

Mit dieser starken Anna, mit den jungen Frauen von Wilko und dem quicklebendigen Toten Hasen funkelten im Hohen Norden also mindestens drei Highlights am Himmel der so kurzen und schönen finnischen Sommernächte.

Die Zwischentitel sind die Kapitelüberschriften aus dem 2010 erschienenen Buch "The New Finnish Theatre" von Jeff Johnson.

Offenlegungstatbestand: Das finnische Kultusministerium und die finnische Botschaft in Deutschland, das Tampere Theatre Festival sowie das Teatterin tiedotuskeskus (Finnish Theatre Information Centre) haben Stefan Bläske, ebenso wie anderen internationalen Gästen und Journalisten, die Fahrt- und Übernachtungskosten finanziert.

 

Kahdeksan surmanluotia // Eight Fatal Bullets
Teatteri Vanha Juko
Text: Mikko Niskanen, Juha Luukkonen
Regie: Juha Luukkonen

Leiri maailman laidalla // A Camp on the Edge of the World

Rovaniemen Teatteri
Text: Seppo Saraspää, Lauri Sipari
Regie: Taava Hakala

Eugen Schauman
Teater Mestola
Text: Lasse Garoff, Jesper Karlsson & Martin Bahne
Regie: Martin Bahne

Esitystalous // Performance Economy

Espoon Kaupunginteatteri
Text und Regie: Juha Jokela

Kuidas seletada pilte surnud jänesele // Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt
NO99 (Estland)
Regie: Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper

Le signorine di Wilko // The Young Ladies of Wilko
Emilia Romagna Teatro (Italien)
nach: Jaroslaw Iwaskiewicz
Regie: Alvis Hermanis

Anna Karenina
Turun Kaupunginteatteri
nach: Leo Tolstoi
Regie: Andriy Zholdak

www.teatterikesa.fi

 

Mehr zum Teatterikesä: Um die finnische Theatertradition ging es auch in unserem Bericht über das 40. Tampere Theaterfestival im Sommer 2008.