Von Fröschen und Schweinchen

von Georg Kasch

Neuhardenberg, 14. August 2010. Wo sind eigentlich die gespreizten Schenkel hin? Nachmittags waren sie doch noch da, skizzenhaft auf ein Bühnenelement gepinselt. Abends dann steht nur noch wie ein Menetekel Å NÖFF NÖFF vertikal auf dem nicht minder rätselhaften Gebilde, das sich neben ein paar weiteren Elementen (eine Bank in Gestalt eines Fisches, eine Art Hochsitz aus Leiter und lila errötetem Phallus-Symbol, eine aufgemalte Fliederdolde) vor der Gartenfront von Schloss Neuhardenberg herumdrückt. Aber die so schlicht eingefangenen Schenkel, die in eine durch einen minimalistischen Strich angedeutete Vulva gipfelten (keines Rumpfes bedurfte es, keines Kopfs), war zu Premierenbeginn einfach weg.

Immerhin: Die Nöff'sche Bedeutung lässt sich klären (dank Wikipedia – das Programmheft beschränkt sich auf Probenfotos). Die Worte gehören zur schwedischen Mittsommernachtshymne Små grodorna, wo gestenreich die kleinen Frösche und die kleinen Schweinchen besungen werden. In Armin Holz' Kürzest-Version von August Strindbergs "Fräulein Julie" singt Libgart Schwarz mit trocken brecht'scher Diktion dieses Lied, auf schwedisch und auf deutsch. Und es ist gar nicht so klar, ob man sich dabei auf seinem Stuhl windet, weil es lustig ist, wenn eine ältere Dame ein Kinderlied mit doppeldeutigen Gesten versieht oder weil einen schlicht Fremdscham übermannt, dass sich eine Schauspiellegende komplett zum Affen macht.

Wie in einem DEFA-Märchenfilm

Aber auch bei Armin Holz, dem selbsternannten Außenseiter und Experten für versponnenen Symbolismus, weiß man nicht recht, wie ernst er seine einstündige Fingerübung für ausflugselige Berliner genommen hat. Schließlich wird noch mehr gesungen an diesem Abend, ein bisschen schief zu Lisa Bassenges Allerlei-Klängen. Dann darf Schwarz ausführlich und unnachahmlich gedehnt aus Oscar Wildes "Salome" rezitieren, während Sibylle Canonica und Sylvester Groth in weiß-goldenen Gewändern über die Bühne und ums Schloss tollen, als wären sie einem DEFA-Märchenfilm entsprungen. Ein Eindruck, der sich verstärkt durch die Mikroports, die ihre Stimmen weit wegheben, als tönten sie von einer alten Hörspielplatte.

Geht es um Liebe, um Erotik in zeitloser Balz? Der Selbstmord der Grafentochter, die sich in der Mittsommernacht dem Diener hingibt, der eigentlich was mit der Köchin hat, ist gestrichen, ebenso wie viele andere Passagen des ohnehin kurzen Stücks. Stattdessen Stimmungen, ein Mittsommernachtstraum zwischen Lust und Wahn. Wobei die Lust ausfällt. Nichts gegen das – zumindest im Vergleich zu ihren Figuren – gestandene Alter der Schauspielstars. Aber es gibt kaum etwas Unerotischeres als Groths Rumfummeln an Libgart Schwarzens Hintern. Und wenn dann Canonica, die anfangs noch neckisch zwischen Mädchen und Hyäne pendelt, in ihre beleidigte Fischmaulphase biegt und nuancenlos durch die Sätze hetzt, versteht man gar nicht, warum sich Groths Diener Jean auf diese adlige Hysterikerin eingelassen hat. Mittsommer halt.

Und sonst? Ach ja, die Grillen zirpten, später nieselte es leicht. Und gespeist hat es sich in der Brennerei des Schlosses auch ganz gut. Ein schöner Ausflug.

 

Fräulein Julie
von August Strindberg
Deutsch von Peter Weiss, Textfassung: Gerhard Ahrens / Armin Holz
Regie: Armin Holz, Bühne: Armin Holz / Matthias Weischer, Kostüme: Christine Birkle, Musik: Lisa Bassenge.
Mit: Sibylle Canonica, Libgart Schwarz und Sylvester Groth

www.schlossneuhardenberg.de

 

Just vor einem Jahr, im August 2009, setzt im Park von Neuhardenberg Volker Schlöndorff Lew Tolstois spätes Drama Und das Licht scheint in der Finsternis in Szene.

 

Kritikenrundschau

"Fräulein Julie ist hier ein schwarzes Zauberstück der gemeinsamen Selbstauflösung. Sein Zauber liegt in den Stimmen von Sylvester Groth, Libgart Schwarz und Sibylle Canonica", freut sich Peter Kümmel (Die Zeit, 19.8.2010). Die Inszenierung unterm stillen Brandenburger Himmel gebe uns zu den Stimmen allerlei dazu. "Farb- und Lichtwechsel zeigen, wenn sich Machtverhältnisse ändern, Gesänge kommentieren lyrisch das Spiel oder unterlaufen es höhnisch. Der Regisseur, insgeheim ein Musiktheatermann, lässt den Fluss der Dinge in 'Stimmungen' gerinnen." Manchmal glaube man, Feuerschluckergesten in dieser Aufführung zu sehen, und "denkt, Armin Holz könne sich kaum zurückhalten, seinen Spielern Fackeln in die Hände zu geben". Die Aufführung wirke so traumschwer und eigensinnig verschwenderisch, als hätte man hinter einem Hörspielkiesweg noch rasch ein Schloss errichtet - um es gleich wieder abzubrennen.

Ganz anders Katrin Bettina Müller (taz, 17.8.2010), die sich als Fan des Theaters open air bekennt und sich in ihrer Kritik an starke Momente in Inszenierungen erinnert, in denen die Weite die Wahrnehmung verändert hat. "Die pornografischen Szenen, die das Grazer Theater im Bahnhof auf einem Acker weit weg von der Zuschauertribüne spielte, waren der witzigste Umgang mit Voyeurismus, der mir je unterkam. Und manchmal schafft die Entfernung, wie bei der niederländischen Regisseurin Lotte van der Berg, Befremdung und wir sehen den Leidenschaften und Morden dahinter zwischen den Abfallhalden zu, als wären wir aus aller Zivilisation herausgefallen." In Neuhardenberg aber saß man mit dem Rücken zum Park, die Schlossfassade diente als Kulisse und das Theater schrumpelte einfach zurück ins normale Format. "Man sah eine diffuse Inszenierung, die etwas ältlich und verklemmt an Szenen der Hysterie vorbeischrammte. Ach, hätte es doch gedonnert in diese Seichtheit hinein und das Knistern von hunderten von Regencapes das Kunstwollen milde zugedeckt."

Armin Holz und Dramaturg Gerhard Ahrens haben einerseits Strindbergs Text heftig gekürzt, ihm andererseits zahlreiche Fremdtexte eingefügt. "Diese kopfig bildungshuberische Fassung macht das Stück, selbst in der Übersetzung von Peter Weiss, weder heutig noch in seinem Spiel der moderaten Stimmungsschwankungen spannend", so Hartmut Krug in DLF Kultur heute (16.8.2010). "Was uns die Inszenierung letztlich erzählen will, bleibt unklar, ja, sie wirkt eher manchmal unfreiwillig komisch, sogar der neudeutsche Begriff 'fremdschämen' drängt sich auf." Armin Holz inszeniere das Stück als christlich-apokalyptisches Modell um Schuld und Leidenschaft. Seine Darsteller, deutlich, aber folgenlos älter als von Strindberg vorgesehen, "zeigen nur temperierte Gefühle und markieren allenfalls Heftigkeit oder Aggression."

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (16.8.2010): "Statt Stück und Figuren mit aggressiven Deutungsmanövern zu behelligen, lässt sie der junge Milde [Armin Holz] höflich in Ruhe. Ihnen mit eigenen Gedanken zu Leibe zu rücken, würde ihm möglicherweise wie eine aufdringliche Grenzverletzung, eine unsittliche Annäherung vorkommen. Um die Figuren in Watte zu packen, braucht er keine modischen Diskurs-, Video- oder Ironie-Girlanden. Die Holz-Regie-Watte ist von zeitloser Schlichtheit: prätentiöses Rumsteh- und Textaufsagetheater, das Langeweile mit Poesie und nicht vorhandene Schauspielerführung mit dem andernorts so schmerzlich vermissten Respekt vor dem Text verwechselt." Man sehne sich "angesichts des Holz-Watte-Nicht-Theaters unwillkürlich" nach den "Schandtaten und Interpretations-Barbareien" des Regietheaters. Einzig die tolle Libgart Schwarz bewege sich "souverän durch den Abend, indem sie Holz' Gespreiztheiten mit ihren eigenen dezent eingesetzten Manierismen unterläuft."

"Unter freiem Nachthimmel und dem künstlichen Mondenschein eines Leuchtballons, gerahmt von märchenhaft illuminierten Bäumen und malerischen Lämpchenketten: In dieser Idylle müsste schon extrem konsistente Regie walten, damit das traumatische Kampfstück (...) nicht zur Gartenfesteinlage verkommt", warnt Reinhard Wengierek in der Welt (16.8.2010). Stattdessen aber tilge Armin Holz' "fahrig fade" Regie "alle Zwei- und Dreikämpfe, alle Siege und Niederlagen, alles Manische und Tragische". Noch nie habe man "die sonst großen Spieler, wahrlich Könner ihres Fachs, derart klein und hölzern" gesehen. "Ach, Armin Holz! Warum bloß gilt dieser esoterische Wuschelkopf nach mehreren Flops - zuletzt als Regisseur im Stadttheater Bochum sowie als Shakespeare-Inszenator bei den Ruhrfestspielen - noch immer als Geheimtipp?"

Ganz anders sieht das im Tagesspiegel (16.8.2010) Peter von Becker: "Im taghell somnambulen Witz, mit dem die wunderbar mädchenhafte Libgart Schwarz (...) hier wie ein verwunschenes, verwünschendes Kind immer mal ein Liedchen trällert", erscheine Strindbergs Drama auf einmal: "als kleiner, fein gemeiner Sommernachtsspuk". Auch Sibylle Canonica verlagere "alles Stückschwere ins Leichtfüßige, selbst wenn Jean ihr eben die Füße küssen muss. Die Canonica umschwirrt Schloss und Park, zieht die Aktion buchstäblich in jene Breite, die hier die falsche Tiefe ersetzt, und macht den Abgrund des Begehrens zur tückisch-spielerischen Untiefe." In einem "strindbergischen Blutrausch- und Rachemonolog" zeige sie schließlich auch "die Tragödin, die eigentlich in ihr steckt (und die eine jüngere Julie kaum darstellen könnte). Das reißt den Abend hoch, der gewiss auch mal ins unverbindlich Vertänzelte abzudriften droht. Im Kern jedoch verwandelt sich das schwerblütig nördliche Begehren in das elegantere Drama des 'Désir' à la Marivaux oder Musset".

Dirk Pilz
nähert sich der Aufführung in der Berliner Zeitung (16.8.2010) mit garstiger Ironie: Es habe sich in Neuhardenberg "eine Premiere zugetragen, die zu der seltenen Hoffnung Anlass gibt, in die Annalen der Theatergeschichte einzugehen. Man wird sie dereinst in der Rubrik für mutige Erkundungen ästhetischer Seitenwege wiederfinden." Zwar werde dem "heutigen, noch ganz dem Hier und Jetzt verhafteten Auge diese Theaterdarbietung als eine Ansammlung geistesarm biederer, ja unerhört belangloser Szenen vorkommen. Und dies mit einigem Recht, denn obwohl sich diese Aufführung dankenswerterweise nach einer Stunde für beendet erklärt, verstand sie es, dem Zuschauer einiges an Qualen zu bereiten." Alles wirke "so aufgesetzt körperlich, dass man meinen möchte, einer besonderen Art autistischen Spielens beizuwohnen." Holz verwandle so "Fräulein Julie" "in eine gähnend leere Freiluftnummer. Dies ist in der Tat ein ästhetischer Seitenweg, der bislang kaum beschritten wurde. Er verdient, in künftigen Theatergeschichten unbedingt erwähnt zu werden."

Kommentare  
Fräulein Julie in Neuhardenberg: Cinemascope
Bitte kein Kammerstück mit drei Schauspieler ins Freie verlegen und auf einer Cinemascope-Bühne ausagiert spielen lassen. Was für ein unkonzentriertes Gerenne ... warum wird nicht der Aussenraum genutzt, so getan, als ob man Wände an den Seiten, im Park habe.
Bitte keine Schauspieler zeitgeistig-dumpf zu Fummeleien und Tätscheleien verdonnern, peinlich für Libgart Schwarzl.
Was für eine schlechte Regie - schade, schade, schade.
Fräulein Julie in Neuhardenberg: Naturstürmer
Auf Holz geklopft, das Schauspiel als Naturereignis.

In der spielfreien Zeit, im Sommer naturgemäß, wenn es draußen warm ist und alles ins Freie drängt, zieht es sie auch hinaus, die Schauspielverrückten der Republik, aus der Enge der Stadttheater hinaus an den Busen der Natur. Neuhardenberg hat sich in den letzten Jahren als Spielwiese für ihre Narreteien als besonders geeignet erwiesen, erst die Volksbühne mit Martin Wuttke an der Spitze als Darsteller der Persertragödie am geschichtsträchtigen Ort des Flughafengeländes, dann mit Dostojewskis Podpolje oder Lemschen Solaristräumen und im Doppelpack mit Jonathan Meese, dem Mythen- und Heldenperformer, als Nietzsches Zarathustra, schließlich Volker Schlöndorf und Gefolge, der russisches Schauspiel wohl mal unter echten Birken zeigen wollte und damit sogar bis auf Tolstois Landgut nach Russland vorgedrungen ist. Nun also auch Theatersonderling Armin Holz, der dafür in den Kritiken zu seiner Strindbergschen Sommernachtsphantasie mal wieder als unverbesserlicher Manierist des Unnatürlichen gescholten wird. Es gibt sie aller Orten die Naturstürmer, mal klopft man sich vor Vergnügen auf die Schenkel, mal vor Schmerzen an den Kopf. Was treibt sie alle zu diesen naturalistischen Weihespielen? Der Hang ins Freie zu flüchten, ist dem Menschen wohl in die Wiege gelegt. Der ausgeprägte Pantheismus der Stürmer, Dränger oder Romantiker, die Vereinigung des lyrischen Ichs mit der göttlichen Natur, sie sogar zur Idylle verklärend, hat sich aber neuerdings umgekehrt zu einem sich eher aufzwängenden Ich, Goethes „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!“ falsch deutend. Dagegen ist schwer anzukommen, es sei denn man zieht es vor, die eigenen vier Wände zur Bühne seiner Phantasien zu machen, was aber dem menschlichen Drang zur ewigen Selbstdarstellung widerstrebt. Da kommt ein Vorschlag der Berliner Tourismusbranche zur rechten Zeit, diesen Trend zu stoppen und die spielfreie Zeit zu verkürzen oder sogar ganz abzuschaffen. Darüber ließe sich in Anbetracht der qualvollen Langeweile aller Theaterschaffenden und ihres schon masochistischen Triebes, sich diesen jährlichen Freilichteskapaden immer wieder auszusetzen, ernsthaft nachdenken. Auf der grünen Wiese des Schlossplatzes, liest man nun in den Zeitungen, soll sogar ein ganzes Theater aus shakespeareschen Zeiten erstehen, es fehlen dazu nur 800.000 €. Last Gras darüber wachsen, möchte man da ausrufen. Die Natur erobert sich ihr Terrain zurück. Sie ist sich selbst genug und zeigt uns immer wieder ihren eigenen naturgegebenen Hang zur Dramatik. Lust und Leid liegen im Auge des Betrachters z.B. der Fluten an Elbe, Neiße, Oder, Spree. Hier hat der Mensch auch die Regie versucht zu übernehmen und ist naturgemäß tragisch gescheitert.

Aus alten Märchen winkt es (1822)
von Heinrich Heine

Aus alten Märchen winkt es
Hervor mit weißer Hand,
Da singt es und da klingt es
Von einem Zauberland:

Wo große Blumen schmachten
Im goldnen Abendlicht,
Und zärtlich sich betrachten
Mit bräutlichem Gesicht; -

Wo alle Bäume sprechen
Und singen, wie ein Chor,
Und laute Quellen brechen
Wie Tanzmusik hervor; -

Und Liebesweisen tönen,
Wie du sie nie gehört,
Bis wundersüßes Sehnen
Dich wundersüß betört!

Ach, könnt ich dorthin kommen
Und dort mein Herz erfreun,
Und aller Qual entnommen,
Und frei und selig sein!

Ach! jenes Land der Wonne,
Das seh ich oft im Traum;
Doch kommt die Morgensonne,
Zerfließt's wie eitel Schaum.
Fräulein Julie in Neuhardenberg: Kritiker sind böse Menschen
Strindbergs ‚Fräulein Julie’ in Neuhardenberg - Nachkritik zur Nachtkritik

Kritiker sind böse Menschen. Sind Kritiker böse Menschen? Im Prinzip ja. Vorzugweise Theaterkritiker. - Lange bevor er das Stück gesehen hat, entscheidet der Theaterkritiker, ob er diesmal eine positive, eine negative oder eine unverständliche Kritik schreibt. Er schaut auf den Kalender, studiert die Besetzungsliste und sucht nach Freunden oder Feinden. Erspäht er einen Regisseur oder Hauptdarsteller, der ihn einmal vor fünf Jahren auf einer Premierenfeier übersehen hat, ist die Sache klar. Der schon lange verstorbene Autor des Stücks wird gelobt, der Regisseur vernichtet, der Burg-Schauspieler milde verurteilt.
Zum schwarzen Rächer am Zuschauer wird der Theaterkritiker, wenn er in die Jury des Berliner Theatertreffens gelangt. Die besten Aufführungen des Jahres der besten deutschsprachigen Bühnen ab nach Berlin. Zuschauer massenhaft, Tickets Monate vorher ausverkauft, Marthaler im Hangar, Neuenfels im Festspielhaus, Kritiker im Kempinski. Und der theater¬begeisterte Besucher? Nach drei von fünf Aufführungen ging er in den letzten Jahren voll gedröhnt, gelangweilt oder ratlos nach Hause. Dort angekommen, stellte er sich die Frage, ob ein Abend im Kino nicht sinn- und freudvoller gewesen wäre.
Und jetzt nach Neuhardenberg aufs Schloss, zu Fräulein Julie und Armin Holz. Fünfundfünfzig Minuten konzentriertes Kammertheater; Strindberg gerafft, mit Zusatztexten und Liedern. Der Himmel über der Freilichtbühne bei der Premiere droht dunkel, bleibt aber gnädig. Libgart Schwarz, die Köchin, trällernd und klassenbewusst. Das Fräulein verwandelt sich mit der großartigen Sybille Canonica aus der anmutigen Mitsommernachts¬schwalbe zur rachelüsternen Erinnye. Sylvester Groth lässt Jean auf dem Boden der Realität. Jean bleibt Jean und behält mit leicht machohafter Geste die Zügel in der Hand. Er weiß, was er will und wird es wahrscheinlich bekommen.
Gutes Theater. Der Mann links von mir blickte schon vor Beginn finster auf die Bühne, schrieb dauernd etwas auf ein Blöckchen und rührte am Ende keine Hand. Die junge Frau auf dem Stuhl rechts klatschte begeistert, vermisste zwar ein bisschen den Selbstmord Julies, fand dann aber die geplante Urlaubsreise der Drei in den Süden wesentlich zeitgemäßer.
Fräulein Julie in Neuhardenberg: kein Stück von Strindberg
"Der Selbstmord der Grafentochter, die sich in der Mittsommernacht dem Diener hingibt, der eigentlich was mit der Köchin hat, ist gestrichen, ebenso wie viele andere Passagen des ohnehin kurzen Stücks."

Es ist lange her, daß ich im Rahmen eines Diplomanden-Seminars über Kommunikations-Psychologie "Fräulein Julie" gelesen habe. Es hat mich nicht vom Stockerl gehaut, aber ich habe es als eigentlich gar nicht schlecht in Erinnerung.

Nun verstehe ich ja, daß manche Leute manche Theaterstücke nicht mögen, ich verstehe auch, daß ein Regisseur "Fräulein Julie" nicht mag, aus welchen Gründen immer. Aber - muß er das verdammte Stück dann inszenieren? Kann er nicht ein anderes nehmen, das ihm mehr konveniert? Oder sind viele Regisseure so klamm, daß sie nehmen müssen, was ihnen hingeworfen wird, nur, damit sie nicht bei der Arbeitsagentur anstehen müssen?

Ist es tatsächlich ein unbescheidener Wunsch, nach dem Anschauen einer Strindberg-Inszenierung den Eindruck zu haben, ein Stück von Strindberg gesehen zu haben?

Viele Grüße
Wolfram Heinrich
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