Ein düsterer Klumpen Tod

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 19. August 2010. Zuerst sieht man lange rot. Blutrot. Den Film von einer Geburt, detailreich und Doku-tauglich. Und dann sieht man vor allem schwarz. Irgendwann geht ja doch das Theater los. Von einem toten Raben wird zuerst berichtet, der ein Ei auf der falschen Seite, durch den Schnabel ausscheiden wollte. Und schließlich steht sie - endlich - da, die Hauptfigur dieser so eigenartig verkopften wie verbildlichten Theaterproduktion von den Belgiern Claude Schmitz und Marie-France Collard: "Mary, Mother of Frankenstein".

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Publikum beim Young Directors Project hat dem letzten von vier Stücken in diesem Regie-Wettbewerb die kalte Schulter gezeigt, hat nicht mal recht Anstandsapplaus gespendet. Nach zwei Stunden wollte man nur noch raus aus der gedankentrüben, letztlich aber auch mit vielen Seichtheiten und billigen Effekten gespickten Düsternis.

Schauergeschichten an langen Regenabenden

Mary Shelley weilte mit ihrem künftigen Ehemann Percy Shelley und ihrer Schwester Claire Clairmont (die ihrerseits mit Lord Byron ein Verhältnis hatte) im Jahr 1816 am Genfer See. Man erzählte sich an Regenabenden Schauergeschichten. So begann die Sache mit "Frankenstein". Die Autorin hatte kein schönes Leben. Ihre Mutter war im Wochenbett gestorben, das Mädchen wuchs in der umklammernden Liebe des Vaters auf, machte sich dann davon. Viele Schicksalsschläge (drei von vier Kindern starben, der Ehemann ertrank bei einem Bootsausflug) galt es zu verkraften.

Die belgischen Theaterleute haben Biographisches verschnitten mit Szenen aus dem Frankenstein-Roman. Weil es um den (damals) "modernen Prometheus" geht, musste die Perspektive auf heutige Gentechnik auch noch rein. Und manches Dichtwerk von Lord Byron und Percy Shelley (der ja mit dem "Entfesselten Prometheus" zum Thema beigetragen hat) auch noch.

Schwarze Spitzenkleider, musikuntermalter Grusel

Wie sich das alles verträgt - und vor allem: wie es ein Theaterbesucher verträgt - schert diese Theaterleute aus Lüttich wenig. Sie lassen die Figuren und einige Versatzstücke (etwa ein schwarzes Bett, das dann auch als Grab dienen wird) zuerst aus dem Schwarz der großen Bühne auftauchen. Das wird aber stilistisch nicht durchgehalten. Mary steht in ihrem schwarzen Spitzenkleid da, auch die anderen sind in Kostüme der Zeit gekleidet. Bald kommt Frankenstein hereingetapst, die Szene mit dem Mädchen am See wird angespielt. Es gibt einigen musikuntermalten Grusel in diesem langatmigen schwarzen Rätseltheater, das nie einen dramaturgischen Sog findet, sondern recht beiläufig zusammengesetzt wirkt aus heterogenen Kopfgeburten.

Das Monster sitzt die meiste Zeit an einem langen Tisch und hält ein mit Vorwürfen an die Autorin gespicktes Plädoyer in eigener Sache. Er ist, wie wir ja aus dem Roman wissen, einsam. Viktor Frankenstein, der im Roman das Wesen aus Knochen und Leichenteilen zusammensetzt und belebt, ist natürlich auch da, gleich mehrfach: eine Dreiergruppe von weiß gewandeten Herren mit aufgeklebten Rauschebärten. Einem von ihnen wächst eine Beule am rechten Oberschenkel, die von den anderen amputiert wird. Und weil schon immer wieder von Schöpfung die Rede ist, schaut auch Gottvater (im Lendenschurz) kurz vorbei.

Gedankennebel, Zitatenbrühe

Wir können leider nur von der bedingungslosen Kapitulation berichten. Claude Schmitz lässt einen quasi vor der Bühne stehen und ratlos in den zapfendusteren Gedankennebel hineinschauen. An der Sprache - Englisch und Französisch in raschem Wechsel - kann es nicht liegen, denn beides wird zwar in einem etwas geschraubt-historischen, aber gut verständlichen Idiom vorgetragen.

Vortragen: Vielleicht ist das der Schlüssel, warum aus diesem Theater nichts geworden ist. Tendenziell ist es eine zähflüssige Zitatbrühe, auf die Bilder aufgesetzt werden. Alles wirkt erdacht, konstruiert, montiert. Auf die Idee, dass Theater etwas mit Leben zu tun haben könnte, kommt man nicht im Entferntesten. "Ein Klumpen Tod" heißt es einmal. Dieser Theaterabend ist recht verklumpt.

 

Mary Mother of Frankenstein
von Claude Schmitz und Marie-France Collard
Regie: Claude Schmitz, Konzept und Text: Claude Schmitz/Marie-France Collard, Bühne und Licht: Simon Siegmann, Kostüme: Lies Maréchal/Greta Goiris, Video: Arié van Egmond.
Mit: Joseph Chance, Fabien Dehasseler, Hedydd Dylan, Yves-Noël Genod, Ciara Corscadden-Hennessy, Francine Landrain, Boris Lehman, Arié Mandelbaum, Séamus Maynard, Vincent Minne, Rebecca Smith-Williams, Arieh Worthalte.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr zum Young Directors Project bei den Salzburger Festspielen: Jakop Ahlbom eröffnete mit Innenschau, Angela Richter inszenierte Tod in Theben, und Sylvain Creuzevault und seine Gruppe gastierten mit Notre Terreur.

 

Kritikenrundschau

Christine Dössel findet in der Süddeutschen Zeitung (21.8.2010) denkbar deutliche Worte für "Mary Mother of Frankenstein": "ein Rohrkrepierer", "eine Totgeburt", "ein Fall von blutloser, prätentiöser Konzeptkunstanstrengung". Claude Schmitz' Abend sei eine "ärgerliche, sich selbst wahnsinnig wichtig, aber keine Figur sich zur Brust nehmende Kitschveranstaltung. Ein Grusical der pathetisch-verquasten Art", in dem es um all die "Ungeheuer und Geschwülste" gehe, "die der Alptraum der Verzweiflung gebiert". Sinn ergebe all das veranstaltete Wirrwarr keinen, "aber es ergibt auch keine dunkle Romantik, keine Gothic-Ästhetik, keinen Schmerz. Hier passt nichts zusammen, fügen sich die Mittel nicht zu einer überzeugenden Form."

Die vom Stück offenbar intendierte "politische Aussage" wirkt auch auf Barbara Petsch von der Presse (21.8.2010) "schwach und unklar". Die Kreation selbst hält sie für "ziemlich komplex"; man könne auch sagen, "Schmitz klaut postmodern, wo er kann, netter formuliert: Er lässt sich vielfältig inspirieren". Er schlinge "bilderreich Motive ineinander". Es steckten "viele Ideen in dieser Performance, die sich bei allerlei Stilen bedient, bei der Romantik, beim alten britischen Schauerroman - in dem das moderne Mystery-Genre wurzelt - oder auch bei der Science-Fiction. Die schwarzen Schöpfungsmythen (...) wirken bannend, fordernd, erschöpfend." Das sei, resümiert Petsch im Gegensatz zu Dössel, "zeitgenössisches Theater, wie es sein soll".

Claude Schmitz und seine "dokumentarfilmerische Co-Schöpferin" Marie-France Collard collagierten die Lebensstationen der Frankenstein-Erfinderin Mary Godwin, beschreibt es Karl Harb in den Salzburger Nachrichten (20.8.2010), und leiteten davon "umfänglichere allgemeine Fragen ab: ein erdichtetes Wesen als Ausgangspunkt für allfällige ethische und moralische Gesichtspunkte der modernen Gentechnologie, das Problem von Schöpfung und Erschaffung, (...) Zeugung und Geburt, Leben und Tod (...), abstrakter: Erfindung und Realität". Unter diesen "zentnerschweren Prämissen" breche der Abend "erwartungsgemäß ziemlich zusammen", obwohl zunächst "durchaus eindringliche, aus dem schwarzen Raum herausgeleuchtete Bilder" gelängen - "Tableaux, quasi im Stil eines flämischen Surrealismus". Of sei dieses Theater "nur noch ein Rätsel" und der Applaus "schätzungsweise der kürzeste, den je eine Salzburger Festspielpremiere erhalten hat".

 

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