Frischblut tanken beim Theater

20. August 2010. Es gab eine Zeit, da war Pop das Fluidum, mit dem sich das deutschsprachige Theater seine erschlafften Adern füllte. Legendär Peter Zadeks "Die Räuber" in Wilfried Minks Roy-Lichtenstein-Bühnenbildern in Bremen, Hans Neuenfels' "Medea" mit Dildo-Einsatz in Frankfurt, auch Klaus Michael Grübers postmodern collagierte "Winterreise" in Berlin. Befreiungsschläge, die nachhallen. Bis heute, wo viele Inszenierungen popkulturellen Zitatspielwiesen gleichen, oft als Konzeptmäntel übergeworfen einem Kaiser, der nackt bleibt. Neuer Wein in entkräfteten Schläuchen? Eher umgekehrt.

In dieses Bild passt die Nachricht, dass die Spex, Blatt gewordene Popkultur, nun ihrerseits das Theater anzapft, um sich frisches Leben in die angejährte Bude zu holen. Zunächst auf Popmusik abseits des Mainstreams spezialisiert, entwickelte sich die Zeitschrift Ende der 80er und in den 90ern zum Sprachrohr der linken Poptheorie.

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Theatermann Schlingensief auf dem Cover der aktuellen "Spex"

Und heute? Einen Berlin-Umzug und einige Sinnkrisen später fragt die Spex in ihrer aktuellen Ausgabe bei Christoph Schlingensief, Monika Gintersdorfer, René Pollesch und Helene Hegemann nach, wie Texte fürs Theater entstehen. Ein bisschen spät vielleicht, weil die postdramatische Debatte doch längst im Mainstream angekommen ist. Immerhin dürfen die vier Künstler in den Interviews ausgerechnet in einem Pop-Magazin so ausführlich antworten, wie das keine altehrwürdige Zeitung mehr hinbekommt.

Verkehrte Welt. Dabei sind die sehnsüchtigen Übergriffe des Pop aufs Theater kein Einzelfall. Gleichen Shows von Madonna, Pink und Co. nicht längst zirzensischen Spektakeln, wie das früher nur den großen Revuen von Florenz Ziegfeld und Erik Charell gelang? Komponieren nicht Herbert Grönemeyer und Rufus Wainwright exklusiv für Robert Wilsons Bühnenträume, drängeln Künstler wie Jonathan Meese und Daniel Richter nicht danach, ihre teuer verhökerten Spektakel-Bilder zu Kulissen zu degradieren? Und zu allem Überfluss hat unser aller Gold-Lena nach ihrem Eurovision-Songcontest-Sieg angekündigt, Schauspiel studieren zu wollen – an der Berliner "Ernst Busch", natürlich. Ja, ist denn "Love, oh Love" gar nichts mehr wert?

(Georg Kasch)

 

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Kommentare  
Spex-Blog: Das Theater ist ein Pop-Vampir
verkehrte welt, herr kasch!
theater ist doch der große mediale bastard, der in subkulturen vampirisch herumsaugt! was diskursiv schon über jahre durch die popkultur gescheucht wird, landet doch erst dann im theater, wenn das zeit magazin es goutiert und die intendanten es in der folge es dann goutieren. die folge sind etwa angestrengte "stücke für jugendliche", wo ein paar ausgediente rapper über die bühne hüpfen und vermeintliche straßenauthentizität vorgaukeln.

on top von herrn kasch dann noch der bornierte glaube, dass das, was das was auf nachtkritik als theater gedacht oder besprochen wird, könnte in gesellschaftlichen fragen nur ansatzweise an die relevanzgröße des pop herankommen, ist geradezu empörend.
ein beispiel: eine monika gintersdorfer und ihr zum theatertreffen eingeladenes stück "othello c'est qui" hatte seine premiere und zig auszeichnungen doch schon laaange hinter sich, als man hier oder eben beim theatertreffen notiz davon nahm. dazu kommt: pop als vielleicht globaler inszenierungsdiskurs ist zentrales motiv dieser arbeit. das, was gintersdorfer in ihren arbeiten also thematisiert, sind ja gewissermaßen spielformen des pop. da läuft's als genau andersherum: wissen wechselt vom pop ins theater. immer und immer wieder. in die andere richtung passiert das eigentlich überhaupt nicht.
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