Christoph Schlingensief ist gestorben
Gesamtkunstwerker
21. August 2010. Christoph Schlingensief ist tot. Er erlag am heutigen Samstag einem Krebsleiden, mit dem er sich auf der Bühne immer wieder offensiv auseinander gesetzt hat.

Am 3. Oktober 2010 hätte er die Saison der Berliner Staatsoper mit der Oper METANOIA – über das denken hinaus eröffnen, 2011 den deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig bespielen sollen. In Brüssel kam im Juni Via Intolleranza II heraus. Bis zuletzt arbeitete Schlingensief an seinen Memoiren, die ursprünglich im September erscheinen sollten. Der Termin musste verschoben werden, ein neuer steht noch nicht fest. Das Manuskript jedoch liege vor, so der Verlag Kölner Kiepenheuer & Witsch.
(dip)
Mehr: Über Schlingensiefs Schaffen lesen Sie hier. Außerdem: eine Sammlung verschiedener Stimmen und ein Blog zum Tod von Christoph Schlingensief.
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Ute Frings-Merck und Nikolaus Merck
Das Theater - und nicht nur das Theater, sondern auch die Kunstwelt und viele Menschen verlieren einen außergewöhnlichen "Alles-Künstler". Christoph Schlingensief war und ist ein Gesamtkunstwerk der besonderen Art.
In Ehren - Christoph Schlingensief !!!
Im jetzt erschienen Spex-Inetview hat er noch mal über seine Art zu schreiben berichtet. Er schreibt am liebsten nachts allein in irgendeinem Hotel. Der Text läuft wie in einem Kino auf einer Leinwand in seinem Kopf ab. In den Anfängen hatten er und Oskar Röhler für ihre Filme ganze Dialoge aus anderen Filmen übernommen und bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. „Man geht eben immer noch vom Genie aus, und daher darf nichts geschrieben werden, was nicht von einem selbst stammt. Das ist aber ein Vorwurf von gestern. (...) Ich habe nichts erlebt in meinem Leben, aber ich habe immer alles behauptet, zur Not mit den Worten anderer.“ Erlebt hat er dennoch viel, für ein so kurzes Leben und wir durften an fast allem teilhaben. Dafür Dank.
Mein Freund, das grad ist Dichters Werk,
dass er sein Träumen deut` und merk`.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
Wird ihm im Traume aufgetan:
All Dichtkunst und Poeterei
Ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.
Friedrich Nietzsche aus Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Möge etwas von Schlingensiefs Schaffenskraft auf andere Menschen abfärben.
Goethe, zitiert von Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik
D.A.G.
Letztendlich auch ein Apotheker vor einem riesigen Schrank voller Mittel, die er alle zur Anwendung brachte. Aber das Leben kann der Grund für einen langsamen und qualvollen Tod sein und dagegen ist noch kein Kraut gewachsen.
Respekt für den Künstler Schlingensief von meiner Seite und das Empfinden von Liebe für diesen Menschen. Selbst jetzt macht er mich immer noch lächeln. Und so muss ich mich dankbar und zugleich traurig verabschieden von einem, dem ich jetzt für lange Zeit nicht mehr begegnen kann, selbst wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte.
Es war so schön an ihm mit dem Fahrrad vorbei zu fahren und seinen lieben Gruß zu empfinden und ich hatte gerade diesen Sommer mehr Hoffnungen auf ihn als je zuvor...
"Mit einer so unglaublichen Kraft hat er alle um sich geschart, seine Gruppe Behinderter, dann auch Schauspielerinnen, Schauspieler, Menschen, die wie von einer umgekehrten Fliehkraft buchstäblich an ihn herangerissen wurden (die er an sich gerissen hat), und mit ihnen hat er hat seine Projekte durchgezogen, vorangepeitscht, auch das Projekt seines Opernhauses in Afrika - ich dachte immer, so jemand kann nicht sterben. Das ist, als ob das Leben selbst gestorben wäre. Er war nicht eigentlich Regisseur (trotz Bayreuth und Parsifal), er war alles, ich weiß kein andres Wort dafür: Er war DER Künstler schlechthin. Er hat eine neue Gattung geprägt, die sich jeder Einordnung entzogen hat. Es kann keinen wie ihn mehr geben. Ein furchtbar trauriger Tag."
Hase-Igel-"Wettlauf": War das Theater noch so fern, Schlingensief war schon da, und Schlingensief war (meineserachtens) Theatermann,
durch und durch, und ja, Schaffenskraft: Er war der Hase, er setzte in die Welt: Wo immer die Wirklichkeit so in die Möglichkeit getreten war, daß es zu ihr keine Möglichkeiten mehr
zu geben schien, dort vermochte dieser Schaffensmächtige ganz
offenbar, scheinbar im Federstrich, einen Container zu bauen oder
eine Partei zu gründen: und wie oft bin ich, immer noch recht theaterfern, durch die Brennerstraße, wo das Büro von Chance 2000
sich befand: Theater wurde mir möglich, wurde möglich erhalten durch einen wie Ihn: ein Theatermann, der sich sehr wohl hören ließ, als es um Oberhausen ging und sein Theater. Ja: Afrika, Oberhausen, die Kirche der Angst: Jetzt, wo ich schon längere Zeit regelmäßiger ins Theater gehe, ist Er wiederum zugegen, war, ist,wird sein irgendwie, wird gewesen sein, und er erinnerte mich an Berdjajews Religionsphilosophie, an das Silesius-Zitat des Russen: "Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben, werd ich zunicht, muß er vor Not den Geist aufgeben."
(Angelus Silesius "Der Cherubinische Wandersmann")
Christoph Schlingensief ist tot.
Und das ist wohl keines seiner Kunstwerke, oder ?
Stocken nicht ein "Gegner, ja Feind" seiner Kunst und ein "Freund, ein Liebender", für eine Nanosekunde lang, sich sogar darin als eigenartig verwandt erkennend, bei dem Satz "Und wenn auch das noch Theater wäre, und der Schelm gewissermaßen seiner eigenen Beerdigung beiwohnt, vielleicht in einem Container ...".
Er hat über das Sterben gesprochen und auch über den, der vom Tod zitiert hatte "Wo er ist, bin ich nicht, wo ich bin, ist er nicht.", er hat das offen, leichtsinnig ? und von Schwermut nicht geprägt wohl, aber angezogen ??, ausgetragen, ich glaube, er hatte eine ungeheure Fähigkeit, nicht bekümmert zu machen; immer wieder wird er mit dem "Archaischen" konnotiert, ein moderner Stoiker
irgendwie: Cottidie mori.
Silesius dazu: "Ich glaube keinen Tod; sterb ich gleich alle Stunden (Nanosekunden
???, M.), so hab ich jedesmal ein besser Leben funden." ("Der Cherubinische Wandersmann")
Was haben wir falsch gemacht ? warum können wir hier nicht weiter leben...
und dazu diese jungen stimmen:
jeder scheiss den du selber machst, bringt dich dann auch um! bei ihm war das sicher der fall! ich habe mit ihm genau so viel mitleid
wie die linken mit den tod haiders!
tötet kohl! so war die ansage dieses...nun hat er sich selbst getötet. (...)
jedoch auch:
wenn ein künstler nicht mehr provozieren darf wer dann?
nur noch die politiker anscheinend!
dann aber:
jelinek ist sowieso ein eigenes kapitel an verrücktheit und provokation - die soll mal die kirche im dorf lassen und die definition, wer sich "künstler" nennen darf bzw. soll, anderen überlassen.
nur weil es das lebensprinzip schlingensiefs war, immer und überall
zu provozieren, kann man noch lange nicht von einem "grossen" künstler sprechen ...
für die künstler war er ein gott, für uns ein trottel.
mir ist es als hätte sich eine der unheiligen "dioxinwolken" über
europäischer kultur und geistesleben endlich in luft aufgelöst!
ich gebe deinem letztgesagten absolut recht, nur kannst du das nicht für die "dumpfen" linken verabsolutieren, das machen die meisten, die rechten nur versteckter. und ich würde künstler und politiker trennen. künstler dürfen den anspruch haben widersprüchlich zu sein, manchmal ist es sogar ihre schöpferische quelle, das böse, das schlechte, manchmal bleibt auch was an ihrem charakter hängen und wenn sie daran leiden dürfen sie auch das gegenteil verlangen oder predigen.
und sogenannte künstler dürfen auch daran sterben.
wir leben mit sicherheit in einer zeit, in der oft die fama(der ruhm, aber auch das gerücht, dass da ein grosser künstler sei)
eines regisseurs größer ist als seine tatsächliche arbeitsleistung.
(beim künstler: was ist bei ihm arbeitsleistung? was ist in der kunst arbeitsleistung?)
passt das etwa zu schlingensief: künstlerische unfähigkeit durch
geschickte öffentlichkeitsarbeit ersetzen?
(inwiefern war er künstlerisch unfähig? und zu welcher kunst? -
was wird zeitgemäß nicht alles kunst genannt! - soll man ihn überhaupt künstler nennen? - oder nicht besser: macher, provokateur usw.)
so kann man, wie schon immer, über kunst und künstler streiten.
unendlich, bis über den tod hinaus
Ob es wohl jemals gelingen wird, den olympischen Geist - höher, schneller, weiter, Gold-, Silber- und Bronzemedaille - aus der Welt der Kunst zu verjagen?
In der Zwischenzeit, bis es denn irgendwann gelungen sein wird, eine naheliegende Frage an Professor Henze: Wer, bittschön, ist der Zweitplacierte, wer der Bronzemedaillengewinner?
Viele Grüße
Wolfram Heinrich
Große Kinder sind es und wundersame Heilige und Sünder.
Und Kritik verstehen sie nicht (oder nur schlecht).
Können sie nicht ertragen. Warum?
Weil man ihnen dadurch das sogenannte Schöpferische stört und zerstört,und dadurch ihre künstlerische Existenz untergräbt.
Früher nannte man das Schöpferische göttlich.
Schlingensief als ein Gottgewollter.
Christliches - Spätgeborenes. (Nietzsche hat dazu einiges gesagt).
Schlingensief der sich opferte und sich für die (deutsche)Menschheit in den Staub, in den Dreck der schnöden Welt warf.(man hört auch, er habe damit gut leben können - wie gut hat er damit und dadurch leben können?)
Schlingensief, eine Art Messias der zeitgenössischen "Kunstszene"?
Seht ihr denn nicht den ewig jugendlichen Ministranten in ihm?!
Blutrote Rosen für den Vielgeliebte (und viel Geschmähten) -
sind Rosen nicht auch der Schmerzensmutter zugeordnet . . .
die Dornenkrone auf seinem Haupt
(Dionysos und/oder der Gekreuzigte)
wenn an den mächtigen nicht
meine seele sich rächt
wenn ich hinunter bin
von des genius feinden
nie überwunden
ins stille grab
dann vergesst nicht
o dann rettet
vom untergang
meinen namen
frei nach hölderlin
Weil aber auch niemand auf die kleinen Kinder und Finger aufpaßt.
Viele Grüße
Wolfram Heinrich
P. S.: Wenn ich jetzt nur mal die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nehme, dann fallen mir neben Dürrenmatt noch Loriot und Gerhard Polt ein.
das burgtheater hingegen ist offenbar noch in den ferien...
Gar in Verlassenheit. Menschen- und Gott-Verlassenheit.
Wenn Schlingensief "groß" sterben kann, dann entspricht das seiner
Arbeit in Allah-Öffentlichkeit.
Viel bewundert, viel geliebt - und das Gegenteil davon.
(er war ja auch ein sehr gewinnender und gutaussehender Bursche,
oder nicht?)
filme-theatermacher + aktionskünstler
"...auf zwingende weise waren die produktionen immer an politische, moralische und soziale an liegen gebunden. im fo-kuss:
deutschland als wunde, familie, krieg, religion.
all das setzte er mit einem die sparten durchdringenden denken und arbeiten und in weltumschlingenden (schlingenschiefischen) gesten ins bild. und in diesen bildern war immer der teufel (wahrscheinlich der puck aus dem mittsommernachtstraum) los
das chaos, der semiotische clash (auch idiotische clash manchmal)..
ein TOTALIRRITATOR
einmal soll er eine vorstellung unterbrochen haben, trat auf die
bühne und erzählte vom Tod seiner großmutter . . .
ich würde sagen er war ein schillernder provokateur vor allem
(Anmerkung der Redaktion: das unvollständige bzw. um Kommentare ergänze Zitat stammt aus dem Artikel von Margarethe Affenzeller im Standard, 23.8.2010)
bezüglich der vielen rosen und tränen
den echten und den unechten:
schenket die blumen während des lebens
denn auf den gräbern
sind sie vergebens
franz stelzhammer (stelzhamer)