Verkümmerte Flügel, blutverschmierte Hände

von Mounia Meiborg

Berlin, 28. August 2010. Der Sturm bricht im Dunkeln los. Ein ohrenbetäubender industrieller Krach eröffnet den Abend, ein Akkord aus Quietschen, Schleifen und Dröhnen, so laut und schräg und bedrohlich, dass es in den Plüschsesseln der Berliner Volksbühne ungemütlich wird. In dem Moment, der nur aus Akustik und Dunkelheit besteht, liegt so viel Schrecken - man könnte meinen, der samoanische Choreograph Lemi Ponifasio habe damit schon zu Beginn seiner Performance "Tempest: Without a body" alles zum Thema Kolonialismus gesagt, oder besser: herausgebrüllt.

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© Lemi Ponifasio

Als das Licht wieder angeht, hängt auf der linken Bühnenseite eine dicke Wand aus Pappmaché, mit dem schroffen Relief von unbehauenem Stein. Gut einen Meter über dem Boden endet sie und teilt diesen Abschnitt der Bühne in Hell und Dunkel. Eine Frau mit einem lumpenartigen Kleid und kleinen Flügeln am Rücken kommt unter der Mauer hindurch nach vorne, gebückt als trage sie eine schwere Last.

Mahnmal der Geknechteten
Langsam richtet sie ihre weit aufgerissenen Augen ins Publikum und schreit. Klagend und verzweifelt klingt das, beinahe unerträglich, mehrere Male. Zu Boden gedrückt, die Flügel verkümmert und untauglich zum Fliegen- so taucht die Frau in den aneinander gereihten Sequenzen immer wieder auf wie ein Mahnmal der Geknechteten.

Hier spätestens wird deutlich: "Tempest: without a body" kreist, wie die meisten Arbeiten von Lemi Ponifasio, um die Kolonialvergangenheit seines Heimatlandes, dem pazifischen Inselstaat Samoa. Im 19. Jahrhundert zunächst von Briten, Amerikanern und Deutschen besetzt, stand Samoa ab dem Ersten Weltkrieg unter neuseeländischer Herrschaft und erlangte schließlich 1962 die Unabhängigkeit.

Sprechgesang des Bürgerrechtlers
Um von Unterdrückung und Aufstand anschaulich zu erzählen, holt Ponifasio diesmal einen Bürgerrechtler auf die Bühne: Tame Iti, Anführer einer Protestgruppe der Maori, der seit den siebziger Jahren in Neuseeland aktiv ist. Sein zerfurchtes Gesicht mit der Stammestätowierung bürgt für Authentizität, der untersetzte Leib steckt in einem grauen Anzug. In litaneiartigem Sprechgesang trägt er einen Text des Regisseurs vor, eine Anklageschrift an die Kolonialherren, die sein Land stahlen und dessen Bewohner misshandelten.

Leider überwiegt beim nicht der Sprache mächtigen Zuschauer aber der Exotik-Faktor. Der entschlossene Gesichtsausdruck und die kraftvoll-poetischen Worte, nachzulesen im Programmheft, stehen im Kontrast zur leeren, kalten Bühne. Und so oszilliert der ganze Abend zwischen altem Ritus und moderner Theatersprache, zwischen Vogelgezwitscher und metallischen Soundcollagen .

Ein wichtiger und wiederkehrender Baustein ist der traditionelle Schlagtanz fa'ataupati. Fünf Männer, schwarz gekleidet und mit kahlem Schädel, trippeln auf die Bühne; es sieht aus als würden sie schweben. Dann beginnen sie, aufgestellt in einer Reihe, synchrone Bewegungen: Sie schlagen sich auf die Schenkel und auf die Brust, klatschen in die Hände und imitieren Schwimmbewegungen.

Botschaft der Metaphern
Dass der Tanz ursprünglich daraus entstand, dass sich die Samoaner mit Schlägen Insekten vom Leib hielten, ist auch in Ponifasios Inszenierung sichtbar: Die Hände imitieren Flügelschläge, der Kopf ändert abrupt seine Richtung und die Körper drehen sich wie Brummkreisel um die eigene Achse. Mit großer Konzentration und Präzision entsteht so ein beeindruckendes Bewegungsballett, das durch die Anspielungen auf Insekten auch einige komische Momente enthält.

Es überwiegt jedoch das Symbolträchtige. Ein Mann unter der Mauer versucht sich aufzurichten, sackt in sich zusammen und liegt zuckend wie ein verendendes Tier am Boden. Eine Frau hebt ihre blutverschmierten Hände in die Höhe, sogleich wird die ganze Mauer durch eine Projektion in rote Farbe getaucht. Die Botschaft der Metaphern ist klar. Eine neue Lesart der Kolonialzeit wird aus ihnen nicht, im Gegenteil meint man, Stereotype reproduziert zu sehen.

Faszination und Unbehagen
Das ist das vielleicht größte Dilemma der Inszenierung: dass sie die koloniale Vergangenheit und die postkolonialen Strukturen der Gegenwart anprangert, aber zugleich Bilder schafft, die der ungeübte Beobachter leicht für folkloristisches Spektakel halten kann. Die Inszenierung des männlichen Körpers mit eingeölten, angestrahlten Muskeln als das Werkzeug eines Kriegers gehört zu diesen Klischees.

Und so bleibt am Ende eine Mischung aus Faszination und Unbehagen; das Gefühl, zum Voyeur geworden zu sein wie beim Betrachten einer wohlmeinenden, aber seichten Fernsehdokumentation über ein fernes Land.

 

Tempest: Without A Body
von Lemi Ponifasio
Regie: Lemi Ponifasio, Licht: Helen Todd, Bild: Marti Friedlander, Film: Ahmed Zaoui, Greg Wood, Video: Simon Riera, Joe Fish, Ton: Russel Walder, Lemi Ponifasio, Marc Chesterman.
Mit: Tame Iti, Ioane Papalii, Teataki Tamango, Arikitau Tentau, Bainrebu Tonganibeia, Frances Chan, Helmi Prasetyo Teater Ruang, Kelemete Fu'a, Eko Supriyanto, Maereke Teteka, Keith Binoka.

www.tanzimaugust.de
www.mau.co.nz

 

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Beim Internationalen Berliner Tanzfestival Tanz im August ist außerdem Alain Platels Abend über die Sehnsuchtsränder zwischen Kunst und Begehren Gardenia und zu Gast. Die Uraufführung von Ponifasios Performance Tempest: Without A Body fand 2007 in Wien statt.

 

Kritikenrundschau

Ein "geradezu unwahrscheinliches Stück" hat Michaela Schlagenwerth für die Berliner Zeitung (30.8.2010) gesehen. "Wann hat man so etwas zuletzt auf der Bühne gesehen? Soviel Düsternis und Pathos und Mythos?" Ponifasios "Tempest: Without a Body" sei "gleichzeitig eine Beschwörung der Geschichte wie deren Austreibung", ein Stück, "das von weit her kommt, um uns daran zu erinnern", dass Kolonialgeschichte "anderswo immer noch Gegenwart ist". Dabei gebe es keine Handlung, "nur Figuren, Symbole, die entschwinden und wie aus dem Nichts wieder auftauchen" und Tame Iti, diesen "maorischen Caliban". Nur in einem Moment, wenn sich ein nackter Körper im Licht auf einer Art Altar räkelt, drohe das "Pathos-Theater" Ponifasios "in den Schwulst abzugleiten". Schlagenwerth freut sich schon auf das nächste Berliner Ponifasio-Gastspiel und hält "Tempest" für den "absoluten Höhepunkt" beim Tanz im August.

Rüdiger Schaper
hat die Inszenierung offenbar schon andernorts gesehen und berichtet in seinem Ponifasio-Porträt für den Berliner Tagesspiegel (bereits am 8.8.2010) auch von der "Tempest"-Inszenierung. Diese könne man als "Hypnose" bezeichnen, als eine "hybride Vorstellung, in der sich die Konzentration eines Robert Wilson mit der Urgewalt einer Flutwelle und der intellektuellen Stringenz eines Peter Sellars verbindet". Der Abend reiße den Zuschauer "in einen Strudel schwarzer Bilder, in ein visuelles Gewitter unerklärbarer Mächte" hinein. Es sei "Ausdruck erschütternder Ohnmacht und nicht ohne berechnete Wirkung". Wenn Tame Iti, "Shakespeares Prospero und Caliban, in einer Person" das Publikum begrüße und zugleich verwünsche, müsse man das aushalten. Diesen "Sturm, der von der Bühne kommt und uns im Nacken trifft, von hinten wegbläst".

Der titelgebende Sturm werde für Ponifasio zur "vielschichtigen Metapher", schreibt Anne Peter in der taz-Berlin (30.8.2010). Das sei ein Verweis auf das Shakespeare-Drama, vor allem aber "ein Bild des Aufbegehrens der neuseeländischen Maori gegen ihre ehemaligen Kolonisatoren". Außerdem enthalte "Tempest" eine von Tame Iti "in forderndem Singsang" rezitierte "konkrete politische Anklage". Die Traditionen, aus denen Ponifasio schöpfe, seien uns zwar nur zum Teil geläufig, doch der Abend des "wirkungsbewussten Eklektikers" sie uns "keineswegs fremd". Die schönen Bilder seien deutungsoffen und "auch hier anschlussfähig". Die blutige Hand des Engels gibt allerdings Anlass zu einer Frage: "Vielleicht liegt es an solchen mitunter dick aufgetragenen (...) Bildern, an den zwar wohlgesetzten, aber sich wiederholenden Effekten, dass sich die Schreie des Engels im Verlauf des Abends abnutzen?"

Wiebke Hüster schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.9.2010), dass dem Tanztheater "die menschlich umfassenden Themen entglitten" seien. Jetzt sollten offenbar die "Gefolgsleute von Schamanen" die "Sache" retten. Das zum "Performance-Treffen" herabgewirtschaftete Festival zeige vornehmlich "Kleinkunst". Lemi Ponifasio habe einen "elektroakustischen Sturm" über die "nachtschwarze Bühne brausen" lassen. "Danach aber kam nichts mehr außer Krach und ein paar Auftritten eines schreienden asiatischen Mädchens mit schmutzigen Flügeln", das Walter Benjamins Engel der Geschichte habe darstellen sollen. Männer in blauen "Mao-Anzügen" seien herein marschiert und hätten in ihre Hände und auf ihre Schenkel geklatscht.

Ponifasio prangere die "kulturelle Gleichmacherei im global village" an, schreibt hingegen Dorion Weickmann von der Süddeutschen Zeitung (6.9.2010). Dessen "morbides Szenario" tauche zwar "zeitweise bedenklich in die Niederungen der Ethno-Fashion ab, kriegt aber gerade noch die rettende Kurve in Richtung Ausdruck". Was vor allem Ponifasios "wundersam handgesprächiger MAU-Kompanie" zu danken sei, "die mit Fingern und Unterarmen das Alphabet ihrer tänzerischen Tradition buchstabiert - scharfkantig stolz und angriffslustig zugleich". Hätte Ponifasio den Anzugauftritt Tame Itis und den "kreischenden Geschichtsengel" weggelassen, wäre die Inszenierung "vielleicht auf Orkanstärke angeschwollen". So bleibe "immerhin die rohe Gewalt einer übersteuerten Tonspur haften: aufheulende Flugzeugturbinen, Glockenläuten, Hundegebell und das Gedröhn des Herzschlags, der den Kreislauf von Leben und Tod einer menschlichen Made begleitet".

 

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