Das Fremde als Formel

von Dirk Pilz

Berlin, 2. September 2010. Was soll man sagen? Die Stimmung ist gut. Die Schauspieler sind gut. Die Idee ist gut. Dennoch geht man bekümmert nach Hause. – Ins Haus der Kulturen der Welt, jenem seltsam verloren wirkenden Kulturabhaltungsgebäude im Dunstkreis des Berliner Regierungsviertels, ist die Rue Princesse eingezogen. Die Rue Princesse ist eine Straße in Abidjan, der ivorischen Stadt am Golf von Guinea. In der Pressemitteilung steht: Hier "trifft sich allabendlich die Bevölkerung in den unzähligen Nachtklubs zum Tanzen und Gesehenwerden". Angeblich ist es nachts schön dort.

Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen, das in der deutschsprachigen Tanz- und Theaterszene derzeit allseits bejubelte Regieduo, hat im Frühjahr in dieser Straße ein Festival veranstaltet. Sie haben es "Rue Princesse" genannt, es soll schön gewesen sein. Jetzt ist "Rue Princesse" in Berlin: eine dreitägige deutsch-ivorische Festivität. Es gibt Filme, eine Fashionshow, Partys und viel Theater von Gintersdorfer/Klaßen.

Betont provisorisch

Das Schöne an diesem Theater ist: Es funktioniert immer gleich. Seit fünf Jahren arbeiten Gintersdorfer/Klaßen mit dem ivorischen Tänzer und Choreografen Franck Edmond Yao, aufgewachsen in Abidjan, zusammen. Das Hauptthema ihrer Arbeit ist stets die Frage nach kultureller Differenz, die Frage, wie Unterschiede und Gemeinsamkeiten von verschiedenen Kulturen wahrgenommen werden, welche Vorstellungs- und Angstwelten durch ihr Aufeinandertreffen entstehen. Klischees spielen eine große Rolle, sie zu entlarven eine noch größere. Alles ist darauf aus, Differenzen zu lokalisieren statt sie inszenatorisch zu kitten, Gemeinsamkeiten zu erspielen, statt sie zu behaupten.

Deshalb auch die offene, betont provisorische Spielform, die den wohltuenden Eindruck erweckt, die Sache mit der kulturellen Differenz werde ausnahmsweise nicht vereinfacht. Sie schickt den Zuschauer mitten hinein ins dialektische Gestrüpp aus Fremd- und Näheverhältnissen, mitten in die Konflikte und Schönheiten, die daraus erwachsen.

Achtung: Klischee!

Einmal entwickelt, haben Gintersdorfer/Klaßen diese Theaterdarbietungsweise inzwischen in Serienproduktion geschickt. In "Trucs des blancs/Weißenscheiß", der ersten Premiere am ersten Festivaltag von "Rue Princesse", tänzeln drei schwarze und zwei weiße Performer durchs kühle Foyer und bespötteln – genau: das, was man gemeinhin eben so Klischees schimpft. Franck Edmond Yao fasst Jacques Palminger an die Nase und schnieft ins Mikro: "Eine aufblasbare Puppe!" (Achtung: Afrikaner sind cool, Europäer sind verkrampft). Hauke Heumann erklärt: "Wenn europäische Touristen in Afrika krank werden, fühlen sie sich wie Afrikaner." (Achtung: Afrikaner haben so komische Krankheiten, Europäer finden das spannend). Dazu wird lässiger HipHop gegeben, zwischendurch küchenphilosophiert man über Gott, den Teufel und das magische Denken. Alles in der Übersetzungsschleife: erst auf französisch, dann auf deutsch. Oder umgekehrt.

Falls das Gintersdorfer/Klaßen-Theater wirklich mehr als Kulturdifferenzlustbarkeiten abspulen will, sucht man nach dem Mehr bei dieser hektisch hingewürfelten Szenen-Stenografie vergebens. Die Stimmung ist gut, man schmunzelt viel. Die Performer sind gut, man staunt über ihre Entspanntheit. Aber ist es auch gut, wenn das Kulturdifferenzthema zur sicheren Seriennummer wird?

Der Improvisationscharakter dieser Inszenierung erzählt jedenfalls mehr über ihre vermutlich sehr kurze Probenzeit als über Afrikaner, Europäer oder ein provisorisches Theater, das mit Afrikanern und Europäern arbeitet. Das Fremde, Verstörende wird hier formelhaft und also stumpf. Die Ästhetik der Differenz verkommt zum Bühnensonntagsgerede. Lustig, aber folgenlos.

Hexen, Blut und Freiheit

Danach: "La société du mal/Die Gesellschaft des Bösen", ein Stück "nach Macbeth", auf und vor einem langen Tisch mit Zuschauern an den Seiten. Es ist, wie in Macbeth – très très fort, eine freie Assoziation zu einzelnen Motiven bei Shakespeare. Es gibt eine Geschichte über eine Frau, die ihren Mann fernsteuern will (wahrscheinlich Lady Macbeth); es gibt einen Mann, der Karriere machen will (wahrscheinlich Mister Macbeth); Hexen kommen vor, von Blut und Seele und Mord ist die Rede. Es sind sehr freie Assoziationen, aufgespannt zwischen drollig illustrierenden Tanz- und verschwitzten Erzählsequenzen.

Freiheit ist schön, gerade im Theater. "Die Gesellschaft des Bösen" ist jedoch eine Ansammlung lose hingestreuselter Nummern. Frei und lose sind aber noch immer nicht dasselbe. Freiheit eröffnet Spiel- und Denkräume, das Lose kennt keine Richtung, keine Haltung, keinen Fluchtpunkt. Bei 7% Hamlet oder Othello c'est qui nährten Gintersdorfer/Klaßen die Hoffnung, ihr Theater entwickle eine mehrdimensionale Bühnengrammatik der Interkulturalität. "Die Gesellschaft des Bösen" ist gemessen daran im Grunde fast Analphabetismus.

Trucs des blancs/Weißenscheiß
von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen
Regie: Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Mit: Hauke Heumann, Jacques Palminger, Shaggy Sharoof, SKelly, Franck Edmond Yao.

La société du mal/Die Gesellschaft des Bösen
von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen
Regie: Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Mit: Gotta Depri, Hauke Heumann, Melissa Logan, Franck Edmond Yao.

www.hkw.de
www.gintersdorferklassen.org

 

Mehr über Gintersdorfer/Klaßen: Im Juni 2010 erhielten sie den George-Tabori-Förderpreis und im vergangenen Dezember den Impulse-Preise für Othello, c'est qui, das man in Auschnitten hier sehen kann.

 

Kritikenrundschau

Der "donnernde, gurgelnde, rasende Rhythmus des 'Couper Decaler'", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (4.9.2010), gebe auf dem Festivals "Rue Princesse den Ton an - ein Musik- und Tanzstil, der "eine Art schielende Weltsicht darstellt: hedonistisch ignorant in ihrer Verweigerung des analytischen, politischen Blicks, subversiv in ihrer Zerrspiegelfunktion". Das Festival sei eigentlich "eine große Camouflage", ein "lautes, energisches Jonglieren mit Images und Missverständnissen. Eine Übertreibungs- und Angeberkunst, in der die Tänzer (...) sich als Stars präsentieren und mit Ausrufezeichen in den Augen großmäulige Erklärungen abgeben über Gott und die Welt, von denen keine haltbar ist." Dabei werde "sowieso nichts der Sache, nur der Wirkung wegen gesagt". Beifall kommt hier vor allem, "wenn 'die Weißen' gehörig alt aussehen. So tun die Ivorer genau das: parodieren 'weiße Steifheit' und mimen selbst den naturnahen Afrikaner." Übersetzt werde der "flirrende Affirmationspoker von dem unermüdlich mittanzenden, mitsprechenden Hauke Heumann". Das neue "Macbeth"-Stück allerdings, "La société du mal", bleibe "in höchst unverbindlichen Dialogfetzen und Gesten hängen". "Doch auch wenn die Orientierung durch den deutsch-ivorischen Posenwald im Laufe eines Gintersdorfer/Klaßen-Tages bald recht überschaubar wird: Spaß macht die 'Rue Princesse' allemal."

Das Festival gewährte Anne Peter von der taz-Berlin (4.9.2010), etwa mit der "fröhlich-spöttischen Stereotypes-at-first-sight-Show 'Weißenscheiß'", einen "Blick in die Werkstatt Gintersdorfer". In dieser laufe die Produktionsmaschine derzeit auf Hochtouren, sei "alles im Fluss" und tauchten "Partikel der einzelnen Performances" in anderen wieder auf – verschiedentlich gesampeltes Impro-Material. Überhaupt skizziere Gintersdorfer ihre Abende eher lose und gestehe den Darstellern Variationen zu. "Gerade dieses Festival, das von den Straßen und Marktplätzen Abidjans ins HKW verpflanzt wurde, macht diese transitorische Produktionsatmosphäre, die Geburt des Theaters aus dem Geiste der Party, durchaus erlebbar." Das "Abfeiern der Spontaneität" habe allerdings auch seinen Preis: "Tendenziell geht Energie vor Reflexion, Flüchtigkeit vor Tiefenschärfe, Differenz vor Differenzierung." So eröffne die "Macbeth"-Variante "Die Gesellschaft des Bösen" anders als Gintersdorfers vorige Shakespeare-Arbeiten "kaum Ambivalenzmomente, Aha-Effekte oder neue Perspektiven auf die bekannten Klassikermotive". "Dass man dennoch so gern zuschaut, liegt an der körperlichen Hochleistungsperformance" der vier Performer.

"Der ungebremste Hedonismus", das "Spiel mit Machismen, Dandytum und Glamour" des Coupé Decalé, könne das HKW, "das schon so viele gut gemeinte, aber nicht gut gemachte afrikanische Festsituationen gesehen hat, zumindest für diesen Moment in ein Reich mit eigenen Gesetzmäßigkeiten verwandeln". Allerdings vermisst Elisabeth Nehring vom Deutschlandfunk (Kultur Heute, 4.9.2010) die "Interventionen von außen", die es in Abidjan gegeben hat, "das spontane Dazukommen und Dazwischenagieren eines gemischten und zufälligen Publikums", das auch der "Improvisiertheit und Unfertigkeit" der einzelnen Stücken entgegenkommen würde. Die Inszenierungen "Gesellschaft des Bösen" und "Das misslungene Opfer" clusterten ihre Themen "in einer gänzlich unstringenten, assoziativen Weise". Die Vermittlung sei vor allem dem deutschen Schauspieler Hauke Heumann zu verdanken, der die Abende als "zentrale Figur aller Vorstellungen" "großartig zusammen" halte. "Ohne seine pausenlosen Übersetzungen (...), ohne seine kurzen Erläuterungen und sein Stirnrunzeln" wären die Zuschauer "im Wust der spezifischen Themen, der gesellschaftlichen Chiffren und unausgesprochenen Codes rettungslos verloren". Insgesamt wünscht sich Nehring "mehr Reibung zwischen den Kulturen", ebenso "mehr Vermittlung, selbst wenn sie scheitern mag". Hier würden die Stärke der Arbeit von Gintersdorfer und Klaßen, "nämlich dass sie Fremdheit nicht verschleiern und die Grenzen der Annäherung und des Verstehens nicht krampfhaft überwinden wollen", stattdessen nur vereinzelt sichtbar.

 

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