Kaspar Häuser Meer - Maik Priebe überzeugt mit Felicia Zellers Sprechoper
Auf dem Stempelkissen des Schicksals
Von Ute Grundmann
Weimar, 5. September 2010. Anika, Barbara und Silvia kippen eimerweise nackte Babypuppen auf dem Boden aus. Das sind ihre "Fälle", Kinder, deren Wohl gefährdet ist, die vielleicht vernachlässigt oder misshandelt werden; Kinder, um die sie sich kümmern, deren Schicksale sie aber zugleich auch bürokratisch verwalten müssen. Diese Puppen-Szene ist eines der wenigen betont deutlichen Bilder, die die Neuinszenierung von Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer" am Deutschen Nationaltheater Weimar braucht. Der "Rest" ist Spiel und Sprache, und das ist beeindruckend genug.
Der junge Regisseur Maik Priebe hat, gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Susanne Maier-Staufen, in der letzten Saison Edward Bonds "Gerettet" in Weimar auf die Bühne gebracht. Das gleiche Team hat nun Zellers Stück in Szene gesetzt, auf der kleinsten Bühne des Nationaltheaters, im Foyer III hoch oben unterm Dach. Und Susanne Maier-Staufen hat in den kleinen, diesmal klassischen Bühnenraum – ansteigendes Gestühl, frontaler Blick auf die Bühne – ein wunderbares Szenenbild gebaut. Da steht eine aufgeklappte Stempelkissenschachtel: Das Stempelkissen knallblau, nachgiebig wie eine Turnmatte. Das ist ein starkes Symbol für die Bürokratie, die Sozialarbeit auch bedeutet, für die Formulare, die Stempel, die auf ein Schicksal gesetzt werden, in der Hoffnung, es werde schon gut werden. Das Stempelkissen sondert reichlich Farbe ab, so dass die drei Protagonistinnen um so mehr Blau auf Kleidung, Haut und Haaren haben, je mehr sie sich in ihren Fällen verheddern.
Und das ist der eigentliche Kern in Felicia Zellers Theaterstück, das 2008 bei den Mülheimer Theatertagen den Publikumspreis bekam. Anstoß zum Text war das Schicksal des kleinen Kevin in Bremen, den man tot im Kühlschrank seines Ziehvaters fand. Doch Zeller machte kein Sozialdrama daraus, sondern ein brillantes Sprach- und Sprech-Stück, über Fälle und Fehler, An- und Überforderungen, Sozialamtsdeutsch und vermeintlichen Unterschichtenjargon.
"Ich wollte nicht nicht helfen"
Und dieses Sprach-Kunst-Stück halten Regisseur Maik Priebe und die Darstellerinnen Nina Mariel Kohler, neu im Weimarer Ensemble, als Anika, Petra Hartung als Barbara und Ulrike Knobloch als Silvia knapp 100 Minuten lang großartig in Spannung. Eigentlich geschieht nichts und es passiert doch sehr viel. Die Sätze der Sozialarbeiterinnen enden im Nichts, weil sie so viele Fälle haben, aber auch, weil sie das alles so genau kennen. Ein wohlkalkulierter Wortschwall von Überstunden und Überforderung, von Schicksalen, die in die richtige Statistikspalte eingefügt werden müssen, von "Übergriffigkeiten" und "passionierten Stamm-Meldern", die genauso gut Denunzianten genannt werden können.
Uniform in graue Hosen und weiße Shirts gekleidet, mal chorisch, mal mit-, mal gegeneinander sprechend, gelingt es den drei Darstellerinnen, das Typische und das Individuelle zugleich herauszustellen. Da ist Anika, frisch von der Uni, schon scheinbar routiniert, die – obwohl man über Kollegen ja nicht schlecht redet – genau das gerne tut, mit bösen, treffenden Spitzen. Da ist Barbara, mit 50 schon 20 Jahre im Beruf, sie ist die herablassend sich Kümmernde, die alles schon gesehen und erlebt hat und die Kollegin Silvia mit routiniertem Betroffenheitstremolo fragt, ob sie nicht vielleicht ein Alkoholproblem habe. Und Silvia erlebt den Schlussalbtraum zwischen Rettungsversuch für ein Kind und eigener Überforderung, die sich in einem hilflosen "Ich wollte doch nicht nicht helfen" ausdrückt. Diese drei Schauspielerinnen machen Maik Priebes Inszenierung zu einem kleinen, feinen, sehenswerten Theaterabend.
Kaspar Häuser Meer
von Felicia Zeller
Regie: Maik Priebe, Ausstattung: Susanne Maier-Staufen, Dramaturgie: Daniel Richter
Mit: Nina Mariel Kohler, Petra Hartung, Ulrike Knobloch
www.nationaltheater-weimar.de
Mehr über Felicia Zeller erfahren Sie im nachtkritik-Lexikon. Von Maik Priebe besprach nachtkritik.de zuletzt seine Inszenierungen von Roland Schimmelpfennigs Der goldene Drache in Kassel und Dea Lohers Unschuld in Ingolstadt. Ein großes Stempelkissen voll blauer Stempelfarbe wurde 2009 auch von Sebastian Nübling und Magda Willi für die Arbeitslosenmannschaft in Oliver Bukowskis Kritische Masse hergerichtet.
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Ulrike Knobloch hat mich von Anfang bis Ende mit ihren facettenreichen, lebändigen Spiel begeistert. Eine gelungene Leistung!!