Halb Traumspiel, halb Actionthriller

von Charles Linsmayer

Basel, 10. September 2010. "Das Stück ist eine Menagerie, in der ein ausgestopfter Tiger vorgeführt wird", meinte Max Frisch 1951 beinahe schon entschuldigend in einem Brief an Friedrich Dürrenmatt, als dieser die Uraufführung der Moritat "Graf Öderland" am Schauspielhaus Zürich für gescheitert erklärt hatte. Sechzig Jahre und ungezählte sinnlose Attentate und Terrorakte später mag kaum noch jemand in dem Staatsanwalt, der aus der ihm verhassten bürgerlichen Ordnung ausbricht und sein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben mit der Axt in der Hand zu ertrotzen sucht, einen Papiertiger zu erkennen.

Und dies, obwohl Simon Solberg mit der Saisoneröffnungspremiere des Theaters Basel alles andere als eine bierernste Rekapitulation von Frischs frühem Stück vorlegt. Zum Expressionismus von Frischs (humorvoll unterlaufenen) pathetischen Aufschwüngen, zur surrealen Poesie seiner Wintermärchenwelt und zu den Anklängen an Brechts desillusionierendes episches Theater fügt Solberg auch noch Abstecher ins absurde Theater und Ausflüge in die Welt der Batman-Comics bzw. in jene der postmodernen Blödelei hinzu und gewinnt damit letztendlich eine spielerisch-vaudevillemäßige Leichtigkeit, die man Frischs Vorlage gar nicht zugetraut hätte.

Iss die Suppe, bevor Du kalt bist
Mit der Aufnahme von Texten aus Frischs Tagebuch und von Zitaten von überall her – Brechts Gedicht "An die Nachgeborenen" etwa –, aber auch mit Umstellungen und leichten Retuschen am Originaltext erreicht er zudem eine Aktualität, die wie selbstverständlich die Zeit Finanz-, Euro- und Kapitalmarktkrise ins Visier nimmt und den Figuren von Frisch dennoch mehr oder weniger treu bleibt. Sagt der Vater in der Köhlerhütte, wo der Staatsanwalt das Mädchen Inge kennenlernt und zu Graf Öderland mutiert, im Original: "Essen Sie jetzt ihre Suppe, solang sie warm ist", heißt es in Solbergs Fassung zur Gaudi des Publikums jetzt beziehungsvoll: "Essen Sie ihre Suppe, bevor Sie kalt sind." Und statt auf einem Schlitten zieht Graf Öderland dann mit der zur Prinzessin erkorenen Inge auf einem Sofa in die Welt hinaus und macht mit dem spießbürgerlichen Gefährt den Aufbruch zu neuen Ufern von allem Anfang an zur absurden Lachnummer.

Zusammen mit Maren Greinke hat Solberg eine Bühne konstruiert, die das Büro des Staatsanwalts, das Gefängnis, wo der von ihm anzuklagende Mörder auf den Prozess wartet, aber auch die Köhlerhütte im Wald und das utopische Rebellennest Santorin, wohin Öderland mit Inge unterwegs ist, parallel nebeneinander situiert. Was ein witziges Nebeneinander und manchmal auch chaotisches Durcheinander hervorbringt, das durch die Mehrfachbeanspruchung des schauspielerischen Personals noch gesteigert wird.

Nicht nur ein poetisches Waldkind
So ist Vincent Leittersdorf nicht nur der drollige, an seinem Beruf irre gewordene Gendarm, sondern auch der überkandidelte Köhler, der den flüchtigen Staatsanwalt mit seiner ebenso rebellischen wie mannstollen Tochter in einer Art Waldirrenhaus empfängt. Inga Eickenmeier ist nicht nur das poetische Waldkind, sondern auch jenes Dienstmädchen, das den Staatsanwalt mit lasziven Hüftbewegungen und hochgerecktem Po vom ehrbaren Weg abbringen will. Claudia Jahn ist die zickige Staatsanwalts-Gattin, aber auch die Ministerin, die am Ende mit einer über dem Oberschenkel festgebundenen Axt ihre Sympathie mit den Rebellen kundtut. Jan Viethen spielt den korrupten und ehebrecherischen Rechtsanwalt Hahn sowie den Innenminister, der die Macht an den Rebellenführer Öderland übergeben muss. Auch Dirk Glodde als im Gefängnis einsitzender Mörder tritt in noch mehreren anderen Rollen auf.

Auf eine einzige Rolle konzentriert ist eigentlich nur Martin Hug als ein Staatsanwalt, dem sein Ausbruchsversuch immer mehr zum Amoklauf durch die Gesellschaft wird. Seine Verunsicherung erreicht ihren Höhepunkt, als er vor dem Dilemma steht, entweder die Regierung zu übernehmen oder als Mörder hingerichtet zu werden. Den Ausweg, dass alles nur ein Traum gewesen sei, lässt ihm Solberg allerdings nicht. Denn als er die Worte "Erwachen – jetzt: rasch – jetzt erwachen!" stammelt, hält er die demonstrativ gegen das Publikum gerichtete Axt in der Hand.

Fehlgeschlagener Ausbruch ins Utopische
Halb Traumspiel, halb Action-Thriller vermittelt die Basler Inszenierung von Frischs lange für unspielbar gehaltenem Stück einen Eindruck von Vitalität, Lebendigkeit und kabarettistischem Klamauk, aber auch den Anschein von Konsternation, Ratlosigkeit und fehlgeschlagenem Ausbruch ins Utopische.

Wie nahe das Ganze aber dennoch der aktuellen schweizerischen Wirklichkeit kommt, zeigen nicht nur die Anspielungen auf das Verhalten der Bankmanager, sondern auch die Tatsache, dass die halbe Schweiz am Tag der Premiere auf der Suche nach einem Mann war, der sich mit dem Gewehr in der Hand sein Recht hatte verschaffen wollen.

 

Graf Öderland
von Max Frisch
Regie: Simon Solberg, Bühne: Maren Greinke/ Simon Solberg, Kostüme: Katja Strohschneider, Video: Raphael Zehnder, Dramaturgie: Ole Georg Graf.
Mit: Martin Hug, Claudia Jahn, Inga Eickemeier, Dirk Glodde, Vincent Leittersdorf, Jan Viethen.

www.theater-basel.ch

 

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Kritikenrundschau

Simon Solberg habe sich Max Frischs schwierig zu spielende Vorlage, "die keiner Chronologie und keiner Psychologie, sondern allenfalls einer Traumlogik folgt, beherzt, aber nicht respektlos angeeignet", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (13.9.2010). "Und wie schon bei den Räubern gelingt ihm ein unterhaltsamer Theaterabend zwischen Satire und Slapstick, Actionthriller und neoabsurdem Theater."

Auch Stephan Reuter schreibt in der Basler Zeitung (13.9.2010) davon, wie Solberg an der "Komödienschraube" dreht, "bis es lustig knackt". Solberg nehme den Axtmörder nicht ernst, sondern verstricke ihn "klugerweise in ein überdrehtes Räuber-und-Gendarm-Spiel". Wo der Regisseur mit dem Autor einhergeht: "im Misstrauen gegen den staatlichen Gerechtigkeitsapparat." Vom "existenzialistischen Staub der 50er-Jahre" bleibe jedoch nichts übrig, stattdessen sei das Stück "auf absurdes Märchen gestylt", zwischen "Traumlogik und Screwballcomedy" hin- und herjagend. Es beschleicht Reuter, der ein "wandlungsfähiges Ensemble" zu loben weiß, aber doch auch der "Verdacht, dass Solberg der Handlung mit Oberflächenreizen über einige holprige Wendungen hinweghilft".

"Die Axt der Groteske erspart den Zimmermann, die kunterbunte Assoziation das geduldige Aufdröseln des Konflikts", schreibt Martin Halter (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.2010): "Ein paar schwunghafte Hiebe in Richtung Kapitalismus, Schweiz, und Medienkritik, ein angetäuschter kapitaler Hau, und schon öffnet sich ein Riss in der Wand, hinter der das herrlich freie 'Leben, Furzen und Ficken' lockt." Solberg habe den Öderland zwar "nur hier und da ergänzt und leicht um-, aber seine Aussage auf den Kopf gestellt". Der Ausbruchsversuch des Bürgers sei hier eine "überdrehte Farce". Und wo Frisch "zweifelt, grübelt und fragt, hat Solberg die Antwort schon parat: Auf den groben Klotz des verzweifelten Moralisten gehört der noch gröbere Keil von Slapstick und höhnischer Satire". Man könne nun "die große Kritikeraxt schwingen oder nur eine Aktennotiz schreiben: Thema verfehlt. Aber vielleicht muss man Frisch von Zeit zu Zeit gegen den Strich bürsten und den Staub der Fünfziger-Jahre-Parabel mit Windmaschinen, Superman-Kostümen und Konfettischnee wegblasen". Zu befürchten sei allerdings, "dass Solberg seine Grand-Guignol-Travestie allen Ernstes für eine zeitgemäße Form der Revolte hält".

"Ist dieser Staatsanwalt tatsächlich eine solche Witzfigur?", fragt sich Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (14.9.2010). Solberg drehe Frischs Stück "durch den Spasswolf" und habe "den Ehrgeiz zu zeigen, was alles Theater auch noch sein könnte: Slapstick (...), Comic, TV-Werbepause (...), überlautes Rockkonzert, Western-Parodie, Fantasy-Film." Aber "warum nur wirkt Theater meistens so läppisch, wenn es mit dem Kino zu konkurrieren versucht?", fragt der Kritiker weiter. Zwar sei das "spielfreudige Ensemble (...) mit sichtlicher Lust bei der Sache", ihre Figuren "degenerieren aber immer mehr zu überdrehten, aus dem Ruder laufenden Spieldosenfiguren. Wer kann's noch ein bisschen verrückter?" Zwar erlaube die "Holzschnittartigkeit" von Frischs Moritat "einen kräftigen Zugriff", doch die "eher ernsthafte und tragische" Schlusspointe gehe im Klamauk gnadenlos unter.

 

Kommentare  
Max Frischs Öderland in Basel: 10 Fragen
Fragebogen:


1. Fühlen Sie sich als Zuschauer von dieser Inszenierung ernst genommen? Wenn ja, was hat Sie berührt?

2. Was gewinnt Max Frischs Vorlage inhaltlich durch die „spielerisch-vaudevillemässige Leichtgkeit“ dieser Inszenierung?

3. Bedeutet Leichtigkeit Action im Takt eines Videoclips?

4. Wenn ja, wäre youtube dann als künstlerisches Medium nicht billiger?

5. Braucht es den Einsatz sämtlicher Mittel eines Stadttheaters, vom Feuerlöscher bis zur Hebebühne, um „kabarettistischen Klamauk“ zu erzeugen?

6. Bedeutet „Aktualität“ am Theater, überdeutlich zu sein? Oder können Zuschauer, die tatsächlich auch schon mal auf die Idee gekommen sind, dass sich einige Bankmanager in den letzten Jahren nicht in erster Linie ums Gemeinwohl gekümmert haben, nicht erwarten, dass sich eine Inszenierung mit den Zuständen auseinandersetzt, die diese hervorgebracht haben?

7. Wie „aktuell“ ist ein Bühnenbild, dem zum Büro eines unzufriedenen Staatsanwalts nicht mehr einfällt als ein Regal mit Aktenordnern und Topfpflanzen?

8. Wenn innere Zustände nur durch fette Filmmusik ausgedrückt werden können, warum dann nicht gleich Film machen?

9. Gesetzt den Fall, diese Inszenierung soll (analog zu den Räubern) junge Zuschauer ins Haus holen: Was gewinnen sie an Auseinandersetzung, im Vergleich zu den klischierten Personendarstellungen einer Vorabendserie?

10. Ist ein Regisseur „gescheit“, weil er eine „gescheiterte Vorlage flott macht“, indem er sie auf Fakten herunter bricht, die auch in der Regenbogenpresse stehen?
Graf Öderland in Basel: flott? was soll flott heißen?
Ich kann auch nur staunen über so viel wohlwollende Kritik. So ein spiessiges möchte-gern-Anarchotheater ist für das grosse Basler Theater einige Nummern zu provinziell! Wo sind die Kritiker geblieben, die Stellung beziehen? Wirklich begeistert ist keiner, aber was bitte schön soll mir das Wort "flott" vermitteln? Das ist doch eigentlich wie "interessant" die Vorhölle von "Scheisse" - aber so deutlich mag niemand sein....Ich kann nur sagen: So belanglos wie die Kritiken, so belanglos das Stück und die "flotte" Inszenierung.
Graf Öderland in Basel: flott und das Gegenteil
Manche Schweizer sind eben etwas unschnell, wenn nicht so sogar träge, aber nicht in ihrem Urteil.

"flott"
Bedeutungen:
[1] mit hoher Geschwindigkeit
[2] modisch schick und lässig
[3] von leichter, unbeschwerter, nicht ganz konventioneller Haltung

Gegenwörter:
[1] langsam
[2] altbacken, unmodisch
[3] ernsthaft, grüblerisch, konventionell
Graf Öderland in Basel: weitere Bedeutungen von "flott"
@2
"flott machen" so ähnlich wie "wieder zum Laufen (etc.) bringen", "wieder fahrbereit machen" (nachdem es länger nicht benutzt wurde, z.B. weil es alt ist und vergessen wurde)
Graf Öderland in Basel: provinzieller Spaß
@axt: kann ihnen nur recht geben. dieses epigonale armin petras theater war wirklich erbärmlich. in basel, wo castorf, bachmann, marthaler,wieler,frey,schwarz,walburg, pucher, hirche u.v.a. radikale arbeiten präsentiert haben, ist dieser spaßtheateraufguß aus dem jahre schnee wirklich nur eins: provinziell.
COMMENT_TITLE_RE Graf Öderland – Simon Solberg macht Max Frischs als gescheitert geltendes Drama flott
Das Stück „Graf Öderland“ an sich ist keineswegs gescheitert, sondern scheitert nur an einer bestimmten Spezies Zuschauer, die’s offensichtlich nicht nur vor 60 Jahren gegeben hat, sondern auch heute noch gibt, wie die ersten beiden Kommentare aufs Schönste beweisen: Ein Kommentator, der sich darüber beklagt, kein Kritiker beziehe Stellung und die von ihm verwendete Fäkalsprache möge niemand so deutlich verwenden, sich selbst aber hinter dem (wenig geistreichen) Pseudonym „AXT“ versteckt, offenbart genau die Geisteshaltung, die Frisch (nicht nur mit „Graf Öderland“) an den Pranger stellte. Und dem Kommentator „Öderland“ (sic!) sei ans Herz gelegt, dass es vielleicht zu einer fundierten Kritik gereicht hätte, hätte er seine Fragen selbst beantwortet, statt sich – ganz im Stil der von ihm offenbar gelesenen Regenbogenpresse – auf das Stellen vermeintlich kritischer Fragen zu beschränken.
Aber nun zum Wesentlichen: Die Inszenierung von „Graf Öderland“ am Theater Basel bedarf gar keiner „wohlwollenden“ Kritiker, müsste doch selbst ein übelwollender, aber ehrlicher Kritiker zugestehen, dass es sich um einen durchwegs gelungenen Theaterabend handelt. Mit einem ohne Ausnahme hervorragend spielenden Ensemble und einer Höchstleistungen erbringenden Requisite und Technik schafft es Simon Solbergs Inszenierung, die nicht leicht verdauliche Aussage des Textes dem Publikum auf eine Weise vorzutragen, die nicht nur, aber gerade auch jungen Zuschauern schlicht und ergreifend Spass macht, ohne der heute mehr denn je aktuellen Aussage des Stücks den Ernst zu nehmen. Das ist eine Leistung, die das Theater braucht, wenn es auch in Zukunft Publikum haben will.
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