Gegen die Gleichgültigkeit antreten

von Kai Krösche

Wien, 10. September 2010. Vielleicht haben sich Regisseur Niels-Peter Rudolph und sein Team keinen Gefallen getan, als sie sich an die Dramatisierung des von Filmregie-Meister Elia Kazan nach einem Drehbuch von Tennessee Williams brillant inszenierten "Baby Doll" (1956) wagten – zu virtuos gespielt, vor allem jedoch bereits zu vielschichtig ist die (schließlich jederzeit auf DVD verfügbare) Vorlage, um einer Neuinszenierung – zumal mit den verhältnismäßig beschränkten Mitteln des Theaters – ohne ein radikal neudeutendes Regiekonzept und grandiose Schauspieler genügend unverbrauchten Stoff zu liefern.

Denn auch nach über 50 Jahren hat Kazans schmutzige Ménage à trois rund um den frustrierten und erfolglos um die (sexuelle) Gunst seiner kindlich-desinteressierten (und wiederum trickreich vom überlegenen Konkurrenten Silva Vacarro verführten) Ehefrau werbenden Baumwollmühlenbetreiber Archie Lee nichts von seiner skandalösen, ambivalenten Böswilligkeit eingebüßt: Im grell-kontrastreichen Wechselspiel von schrillem, tiefschwarzem Witz und bedrohlichem Ernst zeichnet der Film eine hinter den überspitzten Bildern erahnbare trügerische Atmosphäre.

Im Grundton düster
Es scheint daher zunächst einleuchtend, wenn Regisseur Rudolph von Beginn an einen anderen Weg einschlägt und an die Stelle einer überdrehten Burleske eine weitaus naturalistischer anmutende, vordergründig ernsthaftere und im Grundton düsterere Stimmung setzt: Die ästhetisch spannende Bühne Volker Hintermeiers zeichnet ein trostloses Bild US-amerikanischer Südstaaten-Einöde der 50er/60er Jahre – samt Wohnwagen, Autowrack und allerlei nutzlosem Schrott. Am linken Bühnenrand strahlt überlebensgroß, auffordernd und einnehmend ein riesiger Schriftzug: "WHATEVER". Im Licht dieser in ein einziges, erschlagendes Wort gefassten Ernüchterung also müssen die Figuren gegen die Gleichgültigkeit antreten, mit all ihren unerfüllten Sehnsüchten.

Doch so atmosphärisch dicht die Bühne und die Geräuschkulisse mit ihren zirpenden Zikaden auch sein mag – die Schauspieler bleiben inmitten der dominanten Kulisse weitgehend verloren. Katharina Straßer verkörpert ihre titelgebende "Baby Doll" nur mäßig vielschichtig; von der in der Vorlage stets spürbaren aufkeimenden Sexualität bleiben hier nur abgenutzte Gesten übrig, und auch die verzweifelte Erkenntnis der jungen Frau, dass der baggernde (von Marcello de Nardo scharf, aber zu einseitig-abgebrüht gezeichnete) Silva Vacarro der einzige Ausweg aus ihrer trostlosen Lebenslage sein könnte, bleibt nur angedeutet – wodurch es umso unglaubwürdiger erscheint, wenn sie sich letztlich dem in seiner Aggressivität jedweden Charmes entbehrenden Verführer hingibt.

Stereotyp des White Trash
Auch Rainer Frieb vermag seinem hasserfüllt bellenden Archie Lee nur wenige Graustufen abzugewinnen – er bleibt der Stereotyp des sein eigenes Unvermögen auf andere projizierenden "white trash". Besonders schade ist die Degradierung der Figur der Tante Rose Comfort (Inge Maux) zum aufheiternden Beiwerk. Die Tragik der kleinen, aber vielschichtigen Figur geht unter der Regie Rudolphs beinahe verloren. Insgesamt mangelt es dem Ensemble an der nötigen Zerrissenheit in der Darstellung seiner Figuren: Zu einseitig, zu starr wirkt das offensichtlich auf psychologische Charakterzeichnung abzielende Spiel, um zu überzeugen.

Umso zerrissener wirkt dabei die Inszenierung, die unentschlossen umhertaumelt zwischen der einem vermeintlichen Realismus verpflichteten Zeichnung einer amerikanischen Südstaaten-Wirklichkeit der 50er/60er Jahre auf der einen und der halbgehangenen Brechung eben jenes Amerika-Bildes (beispielsweise durch die unmotivierte Projektion von Filmrauschen auf die Kulisse) auf der anderen Seite. Ersteres scheitert bereits durch die reine Tatsache, dass der schnarrende Südstaatenslang der amerikanischen Vorlage in der deutschen Übersetzung keine angemessene Entsprechung findet.

Diffuse Historisierung
Auch die inkonsequente Thematisierung US-amerikanischer Rassenproblematik bleibt nur bemüht angedeutet durch zwei dunkelhäutige Darsteller, deren Einsatz bestimmte Klischees in der Tendenz eher reproduziert anstatt sie zu brechen. Ein unpassender Auftritt einer Ku-Klux-Klan-Meute samt holzhämmernder Verwandlung des "WHATEVER"-Schriftzugs in das Wort "HATE" tut sein Übriges. Dabei misslingt der Versuch einer solchen historisch präzisen Zeichnung nicht einmal konsequent genug, um wiederum eine interessante Selbst-Reflexion über europäische Klischeevorstellungen eines (zeitlich und örtlich) fernen Amerikas zu liefern.

Durch das Scheitern am eigenen Anspruch – vielleicht wurde hier einfach zu viel gewollt, als es der Stoff und die Möglichkeiten der theatralen Umsetzung hergeben – schafft es der Abend schließlich nicht, länger als die zwei Stunden seiner Dauer zu beschäftigen – und die zeitlosen Aspekte der Vorlage (rund um die Verflechtungen von Macht und Sexualität, in denen die Schwächsten schließlich auf der Strecke bleiben) gehen unter im Wirrwarr einer diffusen und folglich Schulterzucken hervorrufenden Historisierung: Well, yeah, whatever.

 

Baby Doll (DEA)
von Tennessee Williams
Deutsch von Wolf Christian Schröder
Inszenierung: Niels-Peter Rudolph, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Su Bühler, Musik: Mischa Krausz, Videoeinspielungen: Freya Fleckeisen, Dramaturgie: Susanne Abbrederi.
Mit: Katharina Straßer, Rainer Frieb, Inge Maux, Marcello de Nardo, Patrick O. Beck, Thomas Bauer, Wolf Dähne, Alexander Lhotzky, Christoph F. Krutzler, Robert Prinzler, Günther Wiederschwinger, Davis O. Nejo, David-Michael Nejo.

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Braves, gut gemachtes Theater", schreibt Barbara Petsch in der Online-Ausgabe der Wiener Tageszeitung Die Presse (11.9.2010) über Niels-Peter Rudolphs Tennessee-Williams-Inszenierung, die sie anfangs (und auch zwischendurch immer wieder) "leicht lähmend" findet. Das Bühnenbild hat sie offensichtlich beeindruckt, wenn auch nicht durchweg positiv. Die Bühne atme protzig Elend, schreibt sie. "Baby Doll bewohnt ein verfallenes Fabriksgebäude, es gibt einen kaputten Oldtimer, auf dem das Mädchen und der Lover ihre angedeuteten Liebesspiele treiben. Doch kann sie die Inszenierung mitunter auch "jählings" packen. Trotzdem fehlt der Kritikerin grundsätzlich authentisches Flair. Und das gewisse Volkstheater-Etwas, was aus ihrer Sicht nicht nur wohltuend ist: hier sei "die zügellose, gelegentlich an Schmiere grenzende Spielfreude verloren" gegangen, "die einen an diesem Ort sonst des Öfteren nervt".

Bei Isabella Pohl vom Wiener Standard (13.9.2010) fällt die Inszenierung völlig durch: das für seinen angestaubten Theaterbegriff bekannte Wiener Volkstheater habe hier einen reichlich uninspirierten Ausflug in die US-Staaten der 50er Jahre unternommen, schreibt sie. Womit genau sich der Stoff allerdings der Gegenwart empfiehlt, das erschließt ihr der Abend nicht. Denn aus heutiger Sicht sei das nur eine mäßig originelle Story, der nun in der Regie von Niels-Peter Rudolph eine "lieblose Requisitenkollision" zugemutet werde. Auch der Rest kommt schlecht bei der Kritikerin weg. "Die Komparsen (Männer in schmutzigen Ruderleibchen, die gut gelaunt aus der Baumwollmühle kommen) bekräftigen schunkelnd: They've got the blues. Rainer Frieb als geifernder Gatte schmiert sich elendiglich um den Verstand. Inge Maux kommt als schrullige Tante direkt von der Löwinger-Bühne getapst. Dann muss auch noch der Ku-Klux-Klan ein Ständchen singen".

Tennessee Williams "Baby Doll" sei schon ein "nicht gerade großartiges Werk", meint Martin Lhotzky von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.9.2010), sei von Kazan aber "immerhin (...) ziemlich erschöpfend" verfilmt worden. Regisseur Rudolph nun scheuche die Darsteller "eher gegeneinander als miteinander spielend herum". Schwül sei hier trotz Deckenventilatoren im Bühnenbild bloß die Luft im Zuschauerraum. Archie Lee werde von Rainer Frieb verkaspert. Das "Plump-Verführerische der jungen Möchtegern-Südstaatenschönheit" gerate Straßer als Baby Doll "bisweilen zu derb, aber all das passt doch zur Rolle und darum nicht ganz in diese Inszenierung". Die Regie hat nach Lhotzkys Ansicht "leider keine besseren Einfälle, als den Brand in der Mühle durch eine Benzinexplosion mitten auf der Bühne zu veranschaulichen und ständig zu viele Komparsen (...) die Szenen aufkeimend schwüler Geschlechtlichkeit oder Gewalttätigkeit stören zu lassen". Fazit: "So geht das alles nicht."

 

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