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"Tod eines Handlungsreisenden" © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie
Kaminfeuer der Ersatzleidenschaft

von Andreas Klaeui

Zürich, 17. September 2010. Ein Traum von einem Auto. In einem Thunderbird fährt Willy Loman in der Schiffbauhalle vor und lässt ihn von seinen Jungs waschen und polieren, dann nimmt er sie mit: vor dem Blue Screen in ein Roadmovie von Amerikas weiten Landstraßen, schönen Städten, ordentlichen Menschen. Stefan Pucher inszeniert seinen Zürcher "Tod eines Handelsreisenden" ganz aus der Zeit heraus: aus den US-amerikanischen Nachkriegsjahren mit ihren filmreifen Träumen von Wohlstand, Erfolg, gesellschaftlichem Aufstieg.

Ein großartiges Melodram – und in Zürich von Beginn weg eine Scheinwelt. Dekonstruiert im Blick des Zuschauers, der sich, der ganzen Länge der Schiffbauhalle nach, auf sieben Spielstätten verteilt. Wohnküche, Living, Masterbedroom aus den Fifties hat Stéphane Laimé hier aufgebaut, die praktische Schrankwand, weißmattiert, mit eingelassenem Fernseher; auch im Kamin, gediegenes Natursteinfurnier, steht ein TV.

Erschlagen von Hollywood-Bildern

Kein echtes Feuer brennt hier also, jedoch die Ersatzleidenschaft von Hollywoodmelodramen. Sehr konsequent baut Pucher die Kunstwelt in Millers Stück auf, das ja seinerseits mehrfach verfilmt wurde; schwarzweiße Videobilder tragen die Illusionen in die erlebte Welt der Familie Loman, und rechnet man zunächst mit einer klaren Trennung, hier Mythen, da Alltag, muss man bald feststellen, dass beide eins sind.

Willy Loman versucht es einmal, in einem Akt der Verzweiflung. In einem spukhaften Zwischenspiel windet er sich von dem Bluescreen weg, versucht den übermächtigen Bildern zu entrinnen – und wird von ihnen regelrecht erschlagen, ohnmächtig zu Boden gedrückt. Sohn Biff als einzigem gelingt es, um den Preis, dass er die Familie verlässt: am Ende des Stücks, als es zum Showdown zwischen Vater und Sohn kommt und einer Stunde der Wahrheit. Da lässt Pucher die Videobilder ausgehen und nur noch spielen auf der Bühne.

Leben als Bluff, Besitz auf Pump

Ein Aufbruch? Mit beigemischter Skepsis: Auch Vater Willy geht ja am Ende, nämlich in den versicherungsbetrügerischen Selbstmord, der der Familie endlich den ersehnten Wohlstand bringen soll, auch dies eine Befreiung, allein: beim Requiem ist er schon wieder da, am Mikrofon, und singt mit der Loman Family an Gitarren, Streichern und Hammondorgel "I'm set free" von Velvet Underground: "Free to find a new illusion".

Stefan Pucher beschäftigt sich seit einiger Zeit mit US-amerikanischen Mythologien, in Zürich zum Beispiel mit seiner grandios in den Wilden Westen umgedachten "Orestie" – hier ist er im Kern des American Dream. Im Zentrum der Blase, deren ungebrochene Wirkungsmacht – Leben als Bluff, Besitz auf Pump – sich spätestens erweist, als Loman klagt, er möchte "einmal erleben, dass mir etwas ganz gehört, bevor es kaputt ist".

Kunststück der Perspektiven

Robert Hunger-Bühler spielt Willy Loman, berstend von Ressentiments, dabei gewohnt lakonisch, ungewohnt kompakt. Eine wandelnde Bügelfalte. Ihm gegenüber Sean McDonagh als Biff: am Ringen mit sich selbst, am Ringen um einen authentischeren Lebenstraum. Mutter Linda, die im Petticoat den Early Morning Coffee ans Bett bringt: Friederike Wagner gestaltet sie als sonnige Hausfrau, als käme sie geradewegs aus dem Happy-Family-Weihnachtsrundbrief.

Es ist hinreißend spannend, ihnen allen zuzuschauen, Michaela Steigers Hausmütterchenvamp, Markus Scheumanns quintessentiellem Yankee, und Puchers wandelnden Perspektiven zu folgen, aus der Totalen ins Close-up, aus der wissenden Distanz in eine skeptische Direktheit. Er inszeniert einerseits ungemein zurückhaltend, sehr genau, richtet anderseits mit der ganz großen Kelle an: das große amerikanische Melodram, der amerikanische Traum, die amerikanische Neurose, der amerikanische Totalitarismus – und es gelingt ihm das Kunststück, sie von außen her sehr innerlich zu betrachten.



Tod eines Handlungsreisenden
von Arthur Miller
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Christopher Uhe, Video: Sebastian Pircher, Christian Sarna, Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Mit: Robert Hunger-Bühler, Friederike Wagner, Sean McDonagh, Jan Bluthardt, Jonas Gygax, Michaela Steiger, Siggi Schwientek, Markus Scheumann, Julia Kreusch, Larissa Eichin, Jasmin Friedrich, Olivier Tobler.

www.schauspielhaus.ch

Mehr zu Stefan Pucher? Unser Lexikon weiß Rat.

 

Kritikenrundschau

Auf "Feinheiten des Theaterspiels" verschwende Stefan Pucher "keine allzu grosse Sorgfalt", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (20.9.2010). "Und trotzdem fesselt er sein Publikum. Er lässt das Stück einerseits für sich sprechen und ergänzt es anderseits durch einen Kommentar zum amerikanischen Lifestyle." Pucher verbinde Pathos und Ironie "zu einer ungemein einnehmenden Mischung". Er zitiere "das Melodram, statt es naturalistisch auszumalen, immer nur an, indem er das szenische Display als Puppenhaus für sein Sampling der Storys und Stile verwendet. So hat auch diese Regie etwas Kindliches, das auf die Schauspieler abfärbt. Sie knien sich nicht in die Rollen, sondern führen Figuren vor, entspannt, lustvoll, augenzwinkernd, klischeeverliebt, fahrig oder, manchmal dann doch, ernst: Beim Showdown, wenn Biff dem Vater die Abrechnung präsentiert - worauf Willy den lang geplanten Selbstmord vollzieht -, findet das Theater zu sich selbst."

Stefan Puchers Inszenierung (und nicht zuletzt auch Stéphane Laimés Bühne) sähe so aus, "als sei der 45-jährige Regisseur von seiner Begeisterung für Miller - und Schlöndorff und alles, was dazugehört - überwältigt worden und habe dieses Gefühl dann in die Form einer Überwältigungsästhetik gegossen", meint Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (20.9.2010). "Oder als habe ein leidenschaftlicher Sammler von Fünfzigernalia einen ganzen Themenpark darüber verwirklichen dürfen, nach der Devise 'gib alles!'. Diese Beobachtung soll keineswegs abfällig klingen: Denn auch wir waren am Premierenabend überwältigt! Wir wurden mitgerissen, hineingeworfen in Millers gnadenlosen amerikanischen Traum vom Glück, das sich jeder selber schmieden kann - und muss." Der Regisseur zerlege die Szenen, "mit viel Verve und weniger Reflexion, in verschiedene Cuts wie der Bühnenbildner die Räume in sieben Kulissen. Viel Text wird gestrichen, (zu) viel Text wird gebrüllt - und trotzdem greift die artifizielle, zitatschwangere Erzählbombastik voller Edelkitsch (...) ans Herz." Die Schauspieler nutzten "Puchers Pomp und Pop, um gerade ihre Winzigkeit und Verlorenheit grandios in Szene zu setzen".

Stefan Pucher, schreibt Simone Meier in der Süddeutschen Zeitung (22.9.2010) sei "ein Held der innovativen Tiefenbohrungen, der aus alten Theatergerippen oft großes Kino" hervorzaubere. So auch hier: Pucher träume einen Traum, "so groß wie die größten der amerikanischen Träumereien", Puchers Vision breite sich aus in die "cineastische Verwertbarkeit des amerikanischen Traums schlechthin". Man werde - "allem Historismus zum Trotz" - von Anfang an "hineingesogen" in die "äußerst sinnliche Installation" von Laimés Bühnenbild, ein "Wunderwerk an Stilwillen", zugleich eine mühelose Spielwiese für eine Hand voll "wunderbarer Schauspieler", allen voran ein "hinreißend uneitler Robert Hunger-Bühler". Selten habe man "diesen Handlungsreisenden" so "mühelos leicht" gesehen, so "selbstverständlich und doch so grandios unterhaltsam. So filmisch eben."

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