Blut ist am Stuhl

von Christian Rakow

Berlin, 25. September 2010. Kurz vorm Finale im Morgengrauen, als nur die Scham sie noch überleben soll, greift Fräulein Julie bei Strindberg zu einem wundersamen Trick. Weil ihr Bediensteter und mittsommernächtlicher Fehltritt Jean ihr den Todesbefehl verweigert, beginnt die hohe Tochter vom Theater zu erzählen: Hypnotiseure gebe es dort, die Probanden unwillkürliche Taten einträufelten. Julie dämmert sprechend weg und gerät in spiritistische Verzückung. Jean aber schlüpft unumwunden in die imaginierte Rolle des Hypnotiseurs, reicht ihr sein Rasiermesser und flüstert die todbringenden Worte ein. Ein seltener Fall von Ping-Pong-Suggestion.

Wenn keine vernünftige Lösung mehr möglich ist, muss tiefenpsychologischer Hokuspokus ran. Nicht von ungefähr setzt August Strindberg im Vorwort seines Dramas von 1888 den Bühnenautor mit dem Magnetiseur gleich. Bei allem Biologismus, aus dem heraus er den "Kampf der Gehirne" zwischen Julie und Jean zeitgeistig motiviert, braucht es am Ende den Salto mortale in die Illusion. Der Zuschauer, den Strindberg in seinen bühnenpraktischen Überlegungen analog als angeregten Phantasten entwirft, wird es sich schon lebhaft ausmalen.

Schauspieler, Techniker, Geräuschemacher

Regisseurin Katie Mitchell ist an sich alles andere als eine Illusionistin. Wenn sie mit ihrem Videodesigner Leo Warner das (seit den Avantgarden) verminte Feld des psychologischen Realismus betritt, dann benutzt sie das Medium des Live-Films. Auf der Leinwand, die das Innenleben eines Sommerhauses überträgt, ist historisch eingekleidetes Seelenleiden in Ingmar-Bergman-Tempo (praktisch zeitlupig) zu bestaunen. Die Bühne aber bevölkern wuselige Techniker: Kameraleute, Synchrongeräuschemacher und die Schauspieler, die ihre Körper für das nächste Close-Up präparieren. So war es in "Wunschkonzert", mit dem Mitchell/Warner zum Theatertreffen 2009 eingeladen wurden. So ist es auch bei ihrer Debütproduktion in Berlin, an der Schaubühne.

Die technische Sophistication ist nach wie vor staunenswert. Aber schon beim Zweitbesuch stellt sich die Frage, wozu dieser Aufwand eigentlich betrieben wird (als Realismuskritik erschöpft sich das Ganze recht schnell). Die Frage richtet sich an das Stück im Live-Film. Ihm liegt ein dramaturgischer Geniestreich zugrunde: Mitchell/Watson erzählen vom Fall der enthemmten Adligen aus Sicht der Nebenfigur, der Köchin Kristin. Wenn Kristin lauscht, vernehmen wir Bruchstücke des Konflikts zwischen Jean und Julie. Wenn sie einschläft, verschwinden die Protagonisten hinter Kristins Traumbildern.

Schraubzwinge des Video-Arrangements

Jule Böwe ist Kristin: abgekämpft, leer, ein wandelndes Gespenst Tristesse. Sie schaut in einen Spiegel, und mathematisch-naturmystische Lyrik von Inger Christensen rauscht aus dem Off durch sie hindurch: "Die Aprikosenbäume gibt es / Die Farne gibt es…." Sie blickt ins Fenster, während ein Live-Violoncello klagt. Dann tritt Jean ein und schon sein erster Satz verrät die Pointe: "Es ist verrückt da draußen." Wohlgemerkt, nicht: "Sie (Julie) ist verrückt".

Was sich zwischen den Figuren oder in ihnen abspielt, wird irrelevant. Flirt und Kampf fallen aus. Stattdessen rücken Kristin, Julie (Laura Tratnik) und Jean (Tilmann Strauß) wie Attrappen umher, sprechen still bis narkotisiert. Während Strindberg den Sozial- und Geschlechterwettstreit durch Biologie und Psychologie erden will, wird er hier gleich komplett begraben zugunsten einer schicksalhaft anmutenden Bekümmernis in der Schraubzwinge des Video-Arrangements. Was im Ganzen nicht weniger okkult wirkt.

Symbole springen ein

Alles an diesem Abend will Atmosphäre sein. Doch wo es an Leben fehlt, springen tatsächlich die Symbole frei. Da wird ein Tierherz in der Küche halbiert (die Liebe!), da sammelt Kristin Gartenblümchen (Natur, Sehnsucht!) oder zeigt ihr müdes Antlitz vor dem Jesus-Kreuz (der Glaube!). Am Schluss klebt Blut am Küchenstuhl (Gevatter!). In Allem überrascht allein Kristins vereinsamter Eifersuchtsschub mit kurzen Magenkrämpfen (Schwangerschaft, Krankheit?) als Wechsel in das frühexpressionistische Schauspielfach.

Strindbergs Rechnung war: Viele up-to-date-Motive und ein Schuss hipper Spiritismus machen eine satte Tragödie. Mitchells/Warners Weniger-ist-mehr-Rechnung lautet: Eine Hand voll fetter Symbole plus etwas celloumwehte Melancholie gleich maximal zeitlose Bedeutsamkeit. Wir fühlen am Puls des schweren, allzu schweren Lebens. Und Mitchells/Warners Werk entpuppt sich als Illusionismus der höheren, magnetistischen Art. "Dieses ist große Kunst", haben sie uns geflüstert. Und siehe: Die Hände regen sich zum Schlussapplaus.




Fräulein Julie
Frei nach August Strindberg, Deutsch von Maja Zade
Eine Fassung von Katie Mitchell (mit Gedichten von Inger Christensen)
Regie: Katie Mitchell, Leo Warner; Bühne und Kostüme: Alex Eales; Licht: Philip Gladwell,
Sounddesign: Gareth Fry, Adrienne Quartly; Musik: Paul Clark, Dramaturgie: Maja Zade.
Mit: Jule Böwe, Tilman Strauß, Laura Tratnik, Cathlen Gawlich, Lisa Guth; Kamera: Andreas Hartmann, Stefan Kessissoglou, Krzysztof Honowski; Geräusche: Maria Aschauer, Lisa Guth; Violoncello: Chloe Miller, Nanako Okuda.

www.schaubuehne.de

 

Mehr zu Katie Mitchell gibt es im nachtkritik-Lexikon. Ihre Inszenierung von Wunschkonzert, die im Dezember 2008 in Köln entstand, war 2009 zum Theatertreffen eingeladen.

 

Kritikenrundschau

"Der Reiz dieses Abends liegt sicher in der Diskrepanz seiner Mittel", schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (27.9.2010): "Auf der einen Seite die schwüle Filmsprache mit all ihrer Bedeutungsschwere, der übersatt gezeichneten Atmosphäre. Exakt parallel aber vollzieht sich die Dekonstruktion derselben durch völlige Offenlegung der Mittel. Die Präzision, mit der das geschieht, ist fraglos faszinierend." Allerdings vermisst Pauly das Stück, das "mit den blendenden Farben des Artifiziellen" übertüncht werde. Immerhin: Jule Böwe "ist eine sensationelle Idealbesetzung als Köchin Kristin: Abgekämpft vom Leben, müde, aber wachsam im Blick, schön und schlicht und natürlich."

Rüdiger Schaper sah "poetische Close-ups, nah am Kitsch gebaut", wie er im Tagesspiegel (27.9.2010) schreibt: "Aber Strindberg hat auch nicht mit dicker Symbolik gegeizt." Wie er überhaupt Mitchells Ästhetik von Strindberg ableitet: "Wer heute mit Video auf der Bühne arbeitet, und wer das so virtuos tut wie Katie Mitchell, darf sich ohne Weiteres auf Strindberg berufen. Ein 'modernes psychologisches Drama' schwebte ihm vor, wie man in seinem Vorwort zu 'Fräulein Julie' nachlesen kann, jedes Ausstattungsdetail war ihm wichtig." Mitchells "Feier der hochtechnisierten, jedoch humanen Bühnensprache" sei aber "vor allem der stille Triumph der Jule Böwe".

Etwas "sehr Merkwürdiges" passiere an diesem Abend, wie Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (27.9.2010) berichtet. "Nicht, dass die theatralische Live-Film-Herstellungsmaschine der Katie Mitchell hier nicht genau so geschmiert ablaufen würde, wie man sie kennt. (...) Doch fällt an diesem Abend in der Schaubühne all diesen sich verselbständigenden Details und sich ablösenden Formschichten nicht wie sonst die Hauptrolle zu, sondern im Gegenteil: der Suggestion ihrer neuen Verschmelzung, ihrer traumhaften Bildwerdung." Gegen Ende allerdings "ist die starke Suggestivkraft des Anfangs zerstoben", und da blieben "vor allem nur Kristins lebensmüde Augen im Gedächtnis. Es sind die Augen Jule Böwes, die sich immer wieder in Spiegeln suchen, durchs Fenster schielen, auf eine Wasseroberfläche starren und durch Wasser hindurch verschwimmen. Und man versteht, wie die still an einem vorbeifließende Welt tiefer verletzen kann, als jedes Rasiermesser."

"Paradoxerweise" gelinge Mitchell "gerade in der medialen Brechung ein sehr intimes, unverstelltes, ganz altmodisch naturalistisches Erzählen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2010): "Das endlose Putzen, Kochen, Händewaschen, Blumenpflücken der Magd Kristin (Jule Böwe) erzählt mehr über ihre geduckte Existenz als alles Gerede." Mitchells Bilder seien "mindestens so konsequent und zwingend durchgeformt" wie ihr Theaterstil. "Wobei man einerseits in den Sog dieser betörenden Bilder gezogen wird, andererseits aber in jedem Augenblick sieht, mit welchen simplen Mitteln sie samt den Begleitgeräuschen hergestellt werden. So ist diese beeindruckende Inszenierung, die Strindbergs Stück auf neunzig Minuten verdichtet, eher eine sehr gelungene theatralische Installation als ein konventioneller Theaterabend."

Mitchells Film-Prinzip funktioniere "bei diesem naturalistischen Trauerspiel nicht", konstatiert Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (30.9.2010). "Neun Zehntel des Textes sind eliminiert, mit der Folge, dass die Motivation der Handelnden völlig schleierhaft bleibt." Die Prozesse seien pulverisiert, nicht kristallisiert. Mit Folgen: "Da ist kein Abgrund, kein Alptraum. Da ist nur ein poetischer Film voller melancholischer Einblendungen. Melancholie aber ist das, was Strindberg als allerletztes im Sinn hatte."

 

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