Wo eine Liebe ist, ist noch kein Weg

von Sabine Leucht

München, 30. September 2010. Es ist kein kleines Wagnis für ein Theater mittleren Formats, zur Saisoneröffnung einen so schweren Stoff zu kredenzen. Schwer nicht, weil das Buch, aus dem er stammt, auch materiell von beachtlichem Gewicht ist. Schwer auch nicht deshalb, weil Lew Tolstoi in "Anna Karenina" die moralische Hoheitsmacht über ein Heer von Figuren ausübt, denen nichts weniger als die Suche nach dem rechten Leben aufgegeben ist - das im Russland der Jahre 1875 bis 78 um die Klippen von religiösen und Standesdünkeln, Ackerbau und Industrialisierung navigiert werden musste.

Was schwer ist

Der umtriebige Armin Petras, der neuerdings auch fette Romane für die Bühne verschlankt, ging mit Tolstois legendärer Detailliebe nicht zimperlich um. Gut 1000 Seiten wurden unter seiner Fuchtel zu knapp 70, nur acht Personen blieben der Bühne erhalten, und die sind außer zum Spielen auch als Zeugen und Erzähler jener Ereignisse aufgerufen, die zum Freitod der Schönsten der Schönen führten - und zum militärischen Selbstopfer ihres Geliebten.

Petras hat seit je einen Hang zum Epischen, um das Romanadaptionen selten herum kommen. Es dreht aber gerne Emotionen den Hahn zu, falls die Schauspieler nicht hoch flexibel und exakt auf den Punkt agieren.

Und das eben ist schwer für ein Ensemble, das noch im Jahre neun der Intendanz Stückl für seine Jugend und seine Spiellust geliebt wird. Letztere sorgt immerhin die ersten zwei von über drei Stunden für gute Unterhaltung und bringt einzelne Perlen hervor wie eine improvisierte Schulstunde, in der Lewin (Stefan Ruppe) und Kitty (Kristina Pauls) mit Hilfe der "Lehrerin" Xenia Tilling Geheimbotschaften der Liebe entziffern.

Auf der Eisbahn

Wenn aber Anna Karenina auf dem kurzen Höhepunkt ihres Glückes immer wieder "Wronski" schreit als bliese sie eine Fanfare, wirkt das eher wie eine Verlegenheitslösung. Dies geschieht gleich nach der Pause, wo Frank Abts zunächst weich Petras´ Schnitte überblendende Inszenierung plötzlich große Sprünge macht. Das drehbare Spielpodest von Oliver Helf, zuvor mit salonfähigem Parkett belegt, schimmert nun von der Brandmauer bis in den Zuschauerraum hinein wie polierter Beton und kann mit Schlittschuhen befahren werden.

Ein putziger Regieeinfall, der an den Anfang des Abends erinnert, als Lewin und Kitty in einer Eislaufhalle zu sehen waren - in einem verwackelten Film, den die Darsteller so schlecht synchronisierten wie die Figuren ihre Wünsche. Denn Lewins Heiratsantrag wird von Kitty abgeschmettert. Und als die Schauspieler vor das Filmbild treten, wirken sie sehr klein und fast ein bisschen lächerlich mit ihren schwachen Stimmen.

Sprechende Bilder

Ein mäßig gelungener Beginn - oder doch Kalkül? Abt, der am Volkstheater zuletzt Dürrenmatts Besuch der alten Dame inszenierte, liegen sprechende Bilder sehr. Wie er hier alle aufeinander hocken und den anderen die intimsten Worte aus dem Mund nehmen lässt, ist die Macht der "Gesellschaft" ohne weitere Erklärung präsent. Anna Karenina und den Grafen Wronski stellt Abt zu Beginn in entgegengesetzte Ecken des Raumes, von wo sie lange aufeinander zugehen oder die Stimme erheben müssen: Die verheiratete Frau und der jüngere Mann, die Mutter und der Typ, der statt "Familie" "Gruppe" sagt... - Die Regie setzt die Gegensätze räumlich in Szene, von deren fataler Anziehung man hier ansonsten wenig spürt. Denn der Funke fehlt. Barbara Romaner in der Titelrolle ist weder faszinierende Verführerin noch von der unglücklichen Ehe mit einem ministerialen Kontrollfreak gebeutelt, sondern in sich ruhend, stabil, fast bieder. Und Robin Sondermanns Rittmeister ist nur ein nervöser Junge mit großen Augen.

Wenn es sich hier nicht um eine Fehlbesetzung handelt, sollen sich offenbar quasimütterliche Zuneigung und jugendliches Überrumpeltsein begegnen. Genug für eine Affaire, doch beginnt so eine amour fou? Ein Drama der Gefühle, deren Fallhöhe die Liebenden nicht überleben?

Singende Madonna

Ginge es um die emotionale Potenz, dann gebürte Xenia Tillings Dascha die heimliche Hauptrolle. In der betrogenen Frau von Annas unstetem Bruder Stefan brodelt es gefährlich, da schlummern Möglichkeiten, die Dascha am wenigsten unter allen Figuren auszuleben imstande ist. Damit Tilling aber dennoch zu ihrem Recht kommt, gibt sie oft singenderweise den Ton an, beruhigt aufgewühlte Seelen und ganze Szenen mit ihrem tiefenentspannten Madonnengesicht.

Torsten Kindermann, der den Stefan spielt (und oft auch Klavier), ist verantwortlich für die Musik, in deren Bannkreis manch hektische Erzählarbeit zum poetischen Bild gerinnt. Und plötzlich spürt man, wie klug Tolstoi (und Petras) Szenen gegeneinander setzen, wie Friedrich Mücke Karenins ökonomischen Denk- und Redestil mit leisen Regungen durchwirkt und wie der mit heiligem Ernst an allem Zweiflelnde Lewin Stefan Ruppes uns naherückt - und zum Lachen bringt.

Um Menschen an ihren eigenen Ansprüchen scheitern zu sehen, braucht man eigentlich keinen Tolstoi. Aber er schadet auch nicht.

 

Anna Karenina
von Armin Petras nach Lew Tolstoi
Regie: Frank Abt, Bühne und Kostüme: Oliver Helf, Musik: Thorsten Kindermann, Licht: Günther E. Weiß, Dramaturgie: Katja Friedrich, Mit Barbara Romaner, Friedrich Mücke, Torsten Kindermann, Xenia Tilling, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Robin Sondermann und dem Kind Florian Burgkart/Lorenz Kammerl.

www.muenchner-volkstheater.de


Mehr zu Frank Abt im nachtkritik-Lexikon.

Kritikenrundschau

Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur (1.10.2010) schreibt Christoph Leibold (hier sein Radiobeitrag auf DLR in der Premierennacht): Die Bühnenadaption haben "den Akzent klug verschoben": Weg von der "altmodischen Tragödie einer Ehebrecherin", hin "zum Dilemma eines modernen Individuums, dass sich frei für sein Glück entscheidet und dabei sein Unglück verschuldet". Allein wie Frank Abt das Aufeinandertreffen von Anna und ihrem Liebhaber Wronski inszeniere, wie Robin Sondermann in "überbordendem, ja fast verkrampftem Enthusiasmus auf Barbara Romaner" einstürme, und wie "sie verstört, verschüchtert darauf reagiert" - das erzähle "Bände von der Überforderung, die die Ermächtigung, das eigene Glück in die Hand zu nehmen, bedeuten kann". Trotz dieser bitteren Erkenntnis sei die "rundum geglückte Theaterarbeit" nie zynisch, sondern "geprägt von großer Menschlichkeit, auch von leiser Komik". Das ensemble spiele außerdem "hinreißend zusammen".

Wenig begeistert ist dagegen Michael Schleicher im Münchner Merkur (2.10.2010). Frank Abt habe über weite Strecken keine neuen Aspekte für den Stoff, "brav und bieder ist seine Inszenierung", es gelinge wenig wirklich Eigenes. "Zwar arbeitet er die Geschichte ordentlich ab - das macht aus dem Abend jedoch nicht mehr als ein bebildertes Hörbuch. Die Chancen und Möglichkeiten des Theaters nutzt er selten." Und bedauerlich sei, dass Ant nach der guten Idee einer Abschiedsszene, auf die schwarze Brandmauer im Bühnenhintergrund überlebensgroß eine Filmsequenz zeige, "die so schlecht gemacht ist, dass es jede Video-Gruppe am Ende ihres Volkshochschulkurses besser kann. Das Filmchen zeigt, wie Barbara Romaner, die die Karenina spielt, am Münchner Hauptbahnhof herumspaziert. So einfach ist es also, sich seine eigene Arbeit zu zerstören."

 

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