Verheißungen eines gelobten Lands

von Mounia Meiborg

Berlin, 1. Oktober 2010. Eine attraktive Frau, mit plantinblonden Locken und weißer Bluse, betritt eine antike Bibliothek. Pantomimisch versucht sie der Bibliothekarin zu erklären, was sie sucht. Zuerst hält sie sich die Hand vor den Mund, als würde sie Indiandergeheul ausstoßen. Dann spannt sie Pfeil und Bogen. Schließlich imitiert sie das Reiten eines Pferdes. Irgendwann gibt sie auf und flüstert laut: "Südamerika!"

Um Südamerika und seine Kolonialisierungsgeschichte soll es gehen in "Amazonas", einer Theaterbearbeitung von Alfred Döblins gleichnamiger Romantrilogie. Doch Jan Neumanns Inszenierung beginnt, nach einem überdrehten Prolog im Foyer, erstmal im Hier und Heute, als wolle der Regisseur vorwegschicken, dass er das Fremde natürlich nur aus seinem eigenen Horizont heraus betrachten könne. Und so sitzt das Publikum rund um die Bühne des Berliner Gorki-Studios an Bibliothekstischen, auf denen Pultlampen und Was-ist-was-Bücher verteilt sind (Bühne: Matthias Werner). Südamerika ist hier präsent auf Landkarten, in wissenschaftlichen Abhandlungen und Abenteuerromanen.

Der Fluss, in dem vieles zusammenfließt, als Sinnbild

Die blondgelockte Frau, die dieses angestaubte Universum betritt, wird schnell von den drei männlichen Mitarbeitern belagert: Sie erzählen, wie die ersten Weißen an den Amazonas kamen; nennen, sich gegenseitig übertreffen wollend in immer rascherer Folge Namen von Königen und Völkern. Ihr Text schildert aggressive Eroberungskriege, und die Männer gebärden sich beim Erzählen nicht minder aggressiv. Politischer Herrschaftsanspruch und sexuelles Begehren überlagern sich; plötzlich scheinen weite Teile der Weltgeschichte mit Balzverhalten erklärbar. Und, das zeigt Neumann ebenfalls in dieser Eingangsszene, jeder Mensch ist von Macht verführbar, auch der korrekt-bebrillte Historiker.

Alfred Döblins Romantrilogie "Amazonas" ist zwischen 1935 und 1937 im Pariser Exil entstanden, unverkennbar vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Der Tod der Menschen durch andere Menschen ist ihr großes Thema. Und dass der Einzelne dennoch vom paradiesischen Urzustand und dem ewigem Leben träumt, während sich Stämme, Glaubensgemeinschaften und Völker ausrotten.

Dieselbe Disposition zur Gewalt

Neumann, der auch als Schauspieler und Stückautor tätig ist und bislang unter anderem in Frankfurt und Stuttgart inszenierte, hat aus dieser weitverzweigten Stofffülle einen zweistündigen Theaterabend gemacht, der verschiedene Episoden anreißt und sich dabei weniger um historische Fakten kümmert als um die menschliche Disposition zur Gewalt. Diese Lesart ist durchaus schlüssig, denn ob nun Amazonen gegen Männer kämpfen oder Jesuiten gegen Paulisten, ihre Motivationen sind sich erstaunlich ähnlich.

Fünf brillante Schauspieler (Sabine Waibel, Anna Grisebach, Johann Jürgens, Matti Krause, Andreas Leupold) schlüpfen nicht nur in immer wechselnde Rollen, sondern eignen sich dabei scheinbar naiv auch jede Position an: Als Ureinwohner Südamerikas wundern sie sich über die farblosen Menschen mit gelbweißen Gesichtern, die das erbeutete Gold offenbar essen wollen; als Europäer treiben sie die von Natur aus faulen "gelehrigen Pudel" zur Arbeit an. Mit großem körperlichen Einsatz macht das Ensemble vor keinem Klischee und keinem Vorurteil Halt: Lustvoll malen sich die Darsteller Kriegsbemalung ins Gesicht, zimmern Holzbänke und sprechen die Zuschauer als ihr Gefolge von "Dunklen" an.

Rhythmus, Dramaturgie, virtuose Spielsituationen

Das ist oft überdreht und ins Groteske verzerrt, wie der Auftritt des spanischen Königspaars, das seine Kolonien verteidigen will; in Crossgender-Besetzung gerät er zu einer Slapsticknummer aus dem Hause Bush. Oder wenn der wohlmeinende Jesuitenpater beim Gespräch mit dem Stammesoberhaupt so ausladend gestikuliert als sei dieser nicht nur geistig minderbemittelt, sondern obendrein noch stark sehbehindert. Nur ab und zu gleitet das bitter-komische Geschehen in Kalauer oder ins allzu Symbolträchtige ab, dann wird ein exotischer Name zum Karnevalslied verballhornt und Erde ausgeschüttet, nach der die gierigen Hände der Eroberer grapschen.

Insgesamt jedoch beweist Neumann ein feines Gespür für Rhythmus und Dramaturgie. Und dafür, was er seinen Zuschauern zumuten kann. Gerade, als man meint nicht mehr mitansehen zu können wie eine halbnackte Frau, rücklings auf einem Tisch liegend, von allen Seiten angespuckt wird, löst er die Szene auf: "Hört auf, das will doch keiner sehen". Das Sichtbarmachen der Spielsituation ist nur eines der derzeit gängigen Theatermittel, das Neumann virtuos beherrscht. Sehr konsequent lässt er am Anfang, in der Pause und am Ende das Foyer bespielen, immer dann, wenn es um die Verheißung des gelobten Landes geht. Das Paradies, es muss irgendwo da draußen sein.



Amazonas
nach der Roman-Trilogie von Alfred Döblin, für die Bühne bearbeitet von Jan Neumann
Regie: Jan Neumann, Bühne und Kostüme: Matthias Werner, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Sabine Waibel, Anna Grisebach, Johann Jürgens, Matti Krause, Andreas Leupold.

www.gorki.de

 

Mehr zu Jan Neumann im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Für eine "animierte Schulstunde" dauert der Abend laut Andreas Schäfer vom Berliner Tagesspiegel (3.10.2010) mit zweieinhalb Stunden entschieden zu lang. Zwar agieren die Schaupieler Anna Grisebach, Johann Jürgens, Matti Krause, Andreas Leupold und Sabine Waibel aus seiner Sicht virtuos. Das Problem des Abends ist für ihn jedoch "sein bescheidener Anspruch". Er wolle, so der Eindruck des Kritikers, "gar keine Dramatisierung sein, sondern bleibt Kollektiv-Lesung, die durch Spielszenen nur illustriert wird." Wichtige Bezüge des in Alfred Döblins Exil entstandenen Monumentaromans fielen weg, weil Jan Neumann und sein Ensemble zu sehr damit beschäftigt seien, eine erzählerische Schneise durch die 1000 Seiten zu schlagen.

Freimütig räumt Hartmut Krug auf Deutschandfunk (2.10.2010) ein, dieses Mal "meine Kritikerhausaufgabe nicht gemacht" zu haben, er "habe das Döblinsche Werk nicht gelesen. Dass die Aufführung nur eine theatrale fast-food-Zubereitung eines mächtigen Romanwerkes ist, wird mir dennoch schnell deutlich. Wie immer bei Romandramatisierungen treten die Schauspieler als Erzähler auf, um aus dem epischen punktuell ins vorzeigende Verkleidungsspiel zu fallen. Zwar bin ich immer wieder fasziniert von Döblins rauschhaft kraftvollen Texten, doch der Spielastik der fünf Darsteller schaue ich eher mit amüsiertem Ärger zu." Aus "leeren Gaggründen" würden "Slapstick und Kalauer, aufdringliche Symbolhaftigkeit, Crossdressing-Besetzung" geboten. Regisseur Jan Neumann zeige uns "in jeder Szene, dass hier Theater gespielt wird, was uns nicht wirklich überrascht, weil dieses Stilmittel im modernen Theater derzeit arg in Mode ist". Sein Versuch, "Spielsituationen für Döblins ungeheuer kraftvolle Sprache zu entwickeln", ende aber "als Verkleinerung eines großen Romans zur Theaterspielerei."

Mit seiner Bühnenfassung gelinge Jan Neumann am Gorki-Theater "das Kunststück, auf eigene Art - aber immer auf Augenhöhe - intensiv mit dem Autor zu spielen", schreibt Reinhard Wengierek in der Welt (4.10.2010). Bravourös filtere er "aus der Stoff-Fülle eine pointierte Szenenfolge über die allgemeinmenschliche Lust auf Gewaltherrschaft sowie paradiesische Unschuld." Der "vor Fantasie strotzenden Neumann-Truppe" gelinge "mit ihrem feinen Sinn für Raserei, Stille, Tragik, Aberwitz eine der schlüssigsten Roman-Adaptionen." Man bekomme "nicht etwa ein illustriertes Hörspiel zu sehen wie sonst so oft. Sondern geistreiches Gegenwartstheater."

"Eigentlich wollen sie im Gorki-Studio die wilde Kolonialisierungsgeschichte Südamerikas fassen, die Alfred Döblin in seiner Romantrilogie 'Amazonas' aufblättert", meint Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (4.10.2010). "Aber etwas stimmt ganz und gar nicht bei der Wahl der Mittel. Auch wenn im Theater Fantasie gefragt ist, die Ungenauigkeit erweist sich im Laufe dieser zweieinhalb Theaterstunden als äußerst fatal." Neumann versuche "die geschichtliche Durchdringung - und eben da versagen seine Mittel - nicht gedanklich, sondern allein durch Oberflächenaffekte und Scheinparallelen." Sein Sprung in die Geschichte sei "kopflos, der Abend grober Holzschnitt. (...) Kaum ein konkreter Gedanke wird in seiner historischen Entwicklung einmal genauer verfolgt." Stattdessen müssten "die Schauspieler alles auf schlichte Signalwirkung herunterbrechen und treffen damit weder auf Geschichte noch auf Gegenwart."

 

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