Trügerische Hoffnungen oder: Alles ist möglich!

Von Sabine Leucht

München, 7. Oktober 2010. Da poltert sie wieder los, die Musik: Ein urplötzlicher Einbruch von Hiphop oder Rap, zu dem das ganze Ensemble tanzt. Jeder für sich, jeder ein bisschen auch aus sich heraus – bis auf Steven Scharf, der als Gabriel Dan hier von Anfang an nicht bei sich ist. Tanzen tut er dennoch, tapsig und wie auf Probe. Also zucken Schatten über die Tür des großen Aufzugs, vor dem alle warten und tanzen zugleich. Doch Henry Bloomfield kommt schlicht hinter ihren Rücken die Kellertreppe herauf. "Boa, ist der klein!", sagt einer. Und das steht so ähnlich auch im Buch.

Als zarten Menschen mit Kinderhänden hat Joseph Roth den vermeintlichen Heilsbringer aus Amerika beschrieben, von dem die Entwurzelten und Gestrandeten im "Hotel Savoy" sich Rettung erhoffen. In Johan Simons Bühnenversion des Romans nun wirken alle klein, weil Steven Scharf Roths Ich-Erzähler spielt. Mit schweren Stiefeln und bloßen Beinen noch hünenhafter wirkend, kommt Scharf mit weit ausgreifenden, zeitlupenhaft verlangsamten Schritten und stierem Blick auf die Bühne der von Bert Neumann neu eingerichteten "Spielhalle" der Münchner Kammerspiele, in der ein Kronleuchter die verblasste Pracht von in Sand gebetteten Fliesen bescheint.

Ein großer Haufen Einsamkeit

Aus russischer Kriegsgefangenschaft ist Dan zurück und prinzipiell auf dem Heimweg. Da glänzt ihm das Hotel Savoy entgegen wie ein Zipfel des guten alten Europa: Sieben Stockwerke, goldenes Wappen, Stubenmädchen mit weißen Hauben. Alles, was verloren schien, staubt hier noch vor sich hin. Es winkt die Liebe in Gestalt der Tänzerin Stasia, es sterben die Armen am Wäschedunst und Borstenstaub: Ein Mikrokosmos in einer namenlosen "Stadt des Regens und der Trostlosigkeit".

In Roths Zwischenkriegsroman von 1924 ist Gabriel Dan ein unablässiger Selbst- und Weltbeobachter, der Worte vor einen Karren spannt, die sonst nie kooperieren würden: Da wird "für Tellersäuberung gesorgt" und laut geseufzt: "Ein großer Haufen Einsamkeit hat sich in mir angesammelt!"

Einer, der erst glaubt, was er sagt, wenn er sich sprechen hört

So schreibt Joseph Roth, denkt Dan: Sätze, die man unter Artenschutz stellen möchte. Bei Koen Tachelet, der schon Roths Hiob für Johan Simons skelettierte, fallen viele von ihnen weg und den Rest nehmen unterschiedliche Figuren in den Mund. Das geht mal gut und mal herrscht, wo Roth kein Wort zu viel benutzt, plötzlich Redseligkeit. Und "Gabriel Dan, Heimkehrer" ist hier kein Menschen- und Situationskommentierer mehr, sondern nur noch ein Versehrter, vom Krieg aus sich selbst vertrieben. Das macht Scharf recht eindrucksvoll, spricht meist ohne Emotionen, aber mit Nachdruck. Wie einer, der erst glaubt, was er sagt, wenn er sich sprechen hört. Das Gros seiner luzideren Texte allerdingst hat Tachelet dem alten Liftboy Ignatz übereignet, der damit gleich als der Spielemacher erscheint, als der er am Ende entlarvt wird. Der Spannung dient das nicht.

Ignatz wird gespielt von Pierre Bokma, wie Katja Herbers in der Rolle der mit viel Federputz verzierten Stasia neu im Ensemble. Alle sind sie kleine Menschen, die der zwischen ihnen unwirklich wirkende Dan/Scharf mit steifen Armen umklammern und in die Luft heben kann. Klein wie Nico Holonics als Nebenbuhler an der Stasia-Front, klein wie der "Lotterieträumer" Hirsch Fisch Stephan Merkis, klein wie der Zwonimir Pansin Wolfgang Preglers, der erst zwei mal über die Bühne prescht, bevor er sich rhetorisch dem Leiden der Arbeiterschaft widmet.

Serviert wie ein Zauberkunststück

Der Abend, mit dem der regieführende Intendant sein neues Haus in Besitz nimmt, zieht auch szenisch so viele Register, als müsse einmal gesagt werden: Schaut her, was in diesem Theater, mit diesem wunderbaren Ensemble alles geht! Und es geht Vieles, und einiges davon wird – tatatata – wie ein Zauberkunststück serviert: Ein hart an der Karikatur entlang schrammender "armer Jude" (Stephan Bissmeier), eine mega-vulgäre Schlampe, ein Spitzentanz voller Piouretten, der aus tiefster Trauer erwächst, eine stoische Clownsnummer unter Zuhilfenahme von "Juxgegenständen" (alles Brigitte Hobmeier), völliger Verzicht auf Illustration und hoch illustrative Licht- und Tonregie, dick aufgetragenes Pathos und, warum auch immer, urplötzlich einsetzender Street-Sound. (Vielleicht, weil die sonst unaufdringlich raunende Musik Simons zwanzigjähriger Sohn servierte?)

Die Bühne in der "Spielhalle", dem einstigen Neuen Haus, ist schwierig, weil sie vor allem aus einer schmalen Schneise zwischen zwei Zuschauertribünen besteht. Zwischen der verspiegelten Nische am einen und dem mit blauem Stoff ausgekleideten Fahrstuhl am anderen Ende will lange kein Raum entstehen. Doch dann wird es punktuell dicht. Etwa wenn Bissmeier als eben verstorbener Clown Santschin mit seinem unsichtbaren Esel Luftsprünge macht. Oder wenn Bloomfield (André Jung) am Grab seines Vaters steht und Gabriel Dan dicht hinter ihm dessen Heimweh begreift. An den Gräbern: Da spürt man die tiefe Menschenliebe, die Joseph Roths Roman bei aller Schärfe der Beobachtung immer durchweht. Und die hier, zumindest sprachlich, vorerst verloren gegangen war.

 

Hotel Savoy (UA)
Nach dem Roman von Joseph Roth in einer Fassung von Koen Tachelet
Regie: Johan Simons, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Lothar Baumgarte, Musik: Warre Simons, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit Steven Scharf, Pierre Bokma, Katja Herbers, Stefan Merki, Nico Holonics, Stephan Bissmeier, Brigitte Hobmeier, Wolfgang Pregler und André Jung.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Johan Simons, dem neuen Intendanten der Münchner Kammerspiele, finden Sie im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Vom neuen Kammerspiel-Logo MK-schwarz eingestimmt, nimmt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (9.10.2010) dann "umso überraschter wahr, "wie viel Komik, Spielfreude und pralles Erzähltheater Simons aus Roths Roman herauszuholen versteht, ohne dabei an inhaltlicher Kraft einzubüßen." In intensiven Bildern erzähle Simons "von einer entwurzelten, zerfallenden Gesellschaft, von der Suche nach Heimat und Identität. Wobei ihm wunderbare Schauspieler und eine von Koen Tachelet geschickt dialogisierte, episch nicht zu ausfransende Bühnenadaption zur Verfügung stehen." Allerdings müsse man erst warm werden: "mit Simons' betont disparater, erst langsam sich atmosphärisch verdichtender Inszenierungsart ebenso" wie mit Bert Neumanns 'Spielhalle', "diesem nicht unbedingt leicht zu bespielenden Raum im Erdgeschoss des Neuen Hauses, dem man tatsächlich einen rohen Hallencharakter jenseits aller Guckkastenbeschaulichkeit gegeben hat." Doch gelingen Simons aus Sicht der Kritikerin "in den Begegnungen zwischen diesen Elenden, Gebeutelten und Geknickten bewegende Figurenskizzen und Gefühlsstudien, aber auch tolle Kabinettstückchen bis hin zu richtig komischen Nummern, für die vor allem Brigitte Hobmeier zuständig ist, die hier in mehreren Rollen ihre bayerisch-robuste Verwandlungskunst ausleben darf. Herrlich."

Der Abend ist ein Panoptikum am offenen Grab - ein sonderbarer Einstieg in eine neue Ära," schreibt Sabine Busch-Frank im Donaukurier (9.10.2010). Trotz "Schaupielregie vom Feinsten", die sie dem dem Abend auf der Haben-Seite gutschreibt. Zweieinviertel Stunden ohne Pause gehe es "zur Sache" - Simons jage "den heimgekehrten Soldaten durch die vielfältigen Höllen und karge Himmel des Romans, als wäre er auf der Flucht - und jagt das Publikum durch manche Ermüdung und Länge, aber auch durch viele glänzend geglückte Theatermomente." Die Dramatisierung von Koen Tachelet sei problematisch, "obwohl - oder eben weil - sie den Roman so wörtlich zu nehmen bestrebt ist. Gesprochene Szenenanweisungen klingen hier nach Blindenversionen von TV-Sendungen und töten die Szene. Naturgemäß muss aus vielen inneren Vorgängen des Buches am Theater ein Dialog werden, aber hier scheinen die Schauspieler bei solchen Passagen oft förmlich Treibsand einzuatmen."

Johan Simons inszeniere in "Hotel Savoy" das, "was der Leser beim Lesen macht, Imaginieren" nämlich, in diesem Fall also "gemeinsames Imaginieren", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (11.10.2010). "Sicher und angstfrei" wirke dieser Neubeginn an den Kammerspielen, niemand trumpfe auf. "Simons gilt manchem als verkopfter Regisseur, dabei ist seine Regie-Sprache einfach und erdig, nur eben vollkommen anti-illusionistisch. Der eigentliche Zauber geht von den Schauspielern aus, sie lassen die schrägen Vögel, die im Hotel gestrandet sind, aus dem Nichts erstehen." Die "größte Zauberin" sei Brigitte Hobmeier, "versponnen und bodenständig, entrückt und bajuwarisch, spielt sie etwa zehn Rollen in dauernder Verwandlung."

Die erste Stunde des dramatisierten "Hotel Savoy" ziehe sich, meint Ulrich Weinzierl in der Welt (11.10.2010): "Allzu üppig wird erklärt, kommentiert, Erzähltext von Figuren präsentiert. Derlei lesen wir doch lieber selber." Doch dann gelängen Johan Simons "zunehmend atmosphärisch dichte, packende Szenen. Dazu tragen glänzende Darsteller das Ihre bei: In erster Linie Steven Scharfs Gabriel Dan in seiner massigen, tumben Schwerfälligkeit oder der anrührende Stephan Bissmeier und die virtuose Verwandlungskünstlerin Brigitte Hobmeier in jeweils mehreren Partien. Der Dauer-Revoluzzer Zwonimir Pansin alias Wolfgang Pregler ist ein Energiebündel der Sonderklasse. Nicht zu vergessen Bert Neumanns trefflicher Bühnenraum, der - die Halle der Länge nach teilend - mittels weniger Zeichen und Requisiten einer Straße der Verlierer und Verirrten gleicht."


Die Auftaktinszenierung der neuen Intendanz an den Münchner Kammerspielen zeige, "wie klug es war, dass sich Johan Simons für eine Ensemblekontinuität entschieden und viele der Schauspieler übernommen hat, die unter Frank Baumbauer in den letzten Jahren die Kammerspiele mit ihrer Persönlichkeit geprägt haben", meint Sven Ricklefs auf Deutschlandfunk (9.10.2010). "Während Simons sowohl im Internet als auch in der Realität etwa ästhetisch im Erscheinungsbild der Kammerspiele einen Neubeginn proklamiert und dramaturgisch im Spielplan sehr eigenwillige sperrige Akzente setzt, kann der neue Intendant so zugleich auf ein Ensemble zurückgreifen, das zu Recht als eines der besten im deutschsprachigen Raum gilt. Und so war diese Auftaktinszenierung als eine intensive Erzählung und als ein Schauspielerfest zugleich eine Verheißung!"

"Simons' und Tachelets Revue verdeckt mit Federbüschen, ostjüdischer Romantik und lautem Musikmix, dass ihr ein überzeugender Anlass fehlt", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (12.10.2010). Außerdem wirke alles etwas zu handlich und prosaisch "für Roths poetisches Kunstwerk, das Atmosphären heraufbeschwört, Licht und Schatten hervorzaubert, Kulissen emporzieht und Figuren dazwischensetzt, deren Sonderbarkeiten der Ich-Erzähler in Sprache kleidet, ohne ihr Geheimnis zu verraten."

"Simon's Regie geht so empathisch wie komisch dem Leben und Träumen einsamer Heimatsuchender nach", jubelt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.10.2010): "Mit genauso viel Liebe zum epischen Original, wie er es schon am selben Ort in der gefeierten Bühnenfassung von Roths 'Hiob' demonstriert hat." Um Gabriel herum lerne man das kuriose Personal des Romans lieben, gerade der formidablen Schauspieler wegen.