Polaroids vom echten (Un)Leben

von Reinhard Kriechbaum

Graz, am 7. Oktober 2010. Wenn – ja wenn die Sache bloß ein wenig anders gekommen wäre! Wenn zum Beispiel die spontane Liebschaft zu einer weiteren Begegnung geführt hätte. Aber da war das Wetter schlecht, der Flug nach Rom, zum vereinbarten Treffen, ist einfach ausgefallen. Hat nicht wollen sein, die dräuende Umstellung der Lebens-Weiche.

Wie viele Buchstaben müsste eine "Enzyklopädie des ungelebten Lebens" haben, wie viele braucht man, um einen Gedankensprung zu den kurz sich öffnenden, aber dann doch sich schicksalhaft verschließenden Möglichkeiten zu formulieren? In Graz hat man es ausprobiert, in einer Koproduktion zwischen "steirischem herbst" und Schauspielhaus. Autoren – vorwiegend solche, die schon in den vergangenen Jahren beim "steirischen herbst" zu Wort gekommen sind – wurden eingeladen, sich Gedanken über die ungenutzten Perspektiven im Leben zu machen.

Ein ganzes Alphabet ist nicht herausgekommen, aber doch ansehnlich viele Buchstaben. Lyrik und Prosa, pointierte Apercus und Feuilletons, ultra-kurze dramatische Szenen oder mehr ins Philosophische neigende Überlegungen. Achtzehn Autorinnen und Autoren haben geliefert, zwei Texte hat der argentinische Autor und Regisseur Mariano Pensotti (Jahrgang 1973) selbst beigetragen.

Das Leben als Kruschbude

Wie macht man aus so Unterschiedlichem in Gestalt, Genre und Gedankentiefe einen Theaterabend? Auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses finden wir uns auf einem Flohmarkt wieder. Ein anschauliches Bild, es liegt herum, was übriggeblieben ist vom Leben anderer Leute. Vielleicht sogar von deren ungelebtem Leben. Dann sind die Utensilien wohl gleich in den Keller oder auf den Dachboden gewandert. Hinter dem wohlfeil ausgebreiteten Tand sind drei winzige Guckkasten-Bühnen. Nicht mal zwei mal zwei Meter Spielfläche jeweils. Die Optionen des realen Lebens brauchen, wie es scheint, so viel Platz nicht.

Drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler leben Szene um Szene. Ein oder zwei spielen, die anderen reichen Requisiten zu. Es findet sich im Flohmarkt-Strandgut immer wieder Passendes, und im günstigen Fall schafft das vermeintliche Improvisieren mit Dingen und Ausstattungsstücken ironische Brechung (so wie die Pop-Musik zu jeder Szene immer Kommentar ist). Ein Bild von einer Palme muss für den Urlaubstraum stehen. Ein Kaffeehaustisch ist allemal gut für Dialoge, die meist so herrlich ins Nichts, jedenfalls am Gegenüber vorbei führen. Mancher Text dient bloß als Script für einen wortlosen Sketch, anderes wird explizit "ausgespielt" oder rezitiert.

Aderlass der Worte

Dauernd werden auf der Bühne Polaroids geschossen, auch das oft mit ironischen Touch. An diesen und vielen anderen spontanen Zufalls-Fotos gehen die Besucher vor und nach der Aufführung vorbei: (un)gelebtes Leben im Spontan-Abdruck.

Spielfreudige Spontaneität vermitteln diese anderthalb Theaterstunden jedenfalls, aber so beiläufig und zufällig das abzulaufen scheint ist es nicht. Poesie und Imagination haben große Freiräume, und plötzlich wird der Fokus scharf gestellt, dann zeigt sich Lebensweisheit. Von einem "Aderlass der Worte" ist einmal die Rede. Ein Aderlass macht bekanntlich nicht nur schwach, sondern sorgt dafür, dass frisches Blut nachgebildet wird.

Die Autoren: einige Argentinier und Amerikaner sind darunter, der Libanese Rabih Mroué, die Kroatin Ivana Sajko, der Pole Andrzej Stasiuk. Aus Deutschland haben sich Dietmar Dath, Marcus Steinweg und Joseph Vogl beteiligt, Österreich ist mit Friederike Mayröcker, Kathrin Röggla, Händl Klaus, Gerhild Steinbuch und sogar der Jelinek auffallend prominent vertreten. Etwa die Hälfte der Texte wäre englisch, in Graz macht man alles auf Deutsch. Durch die Übersetzung ins Deutsche geht die alphabetische Ordnung verloren, aber das macht nichts.

Der Moment der Gefahr

Z wie Zündholz: Der Text von Elfriede Jelinek steht – Z auch wie zwangsläufig – am Ende, und das ist gut so, nicht nur weil so der einzigen Nobelpreisträgerin in der Runde gebührende Ehre widerfährt. "Man beugt sich ja nicht übers Leben, um in einem Sinn herumzurühren, den etwas bekommen könnte", sinniert sie. "Der Sinn ist schon angerührt, wenn man in die Speichen des Lebens hineingreift, aber nichts kann die Welt aufhalten, in der jeden Moment Gefahr heraufzieht." Und sich glücklicherweise auch wieder verzieht, ohne dass der Schutzmantel der Unnahbarkeit, mit dem sich die Jelinek seit je her umgibt, zerstört wird. Auch wenn ihr Gegenüber zündelt, fängt sie nicht Feuer, sie bleibt passiv: "Ich ergreife die Gelegenheit nicht, weil ich überhaupt keine Gelegenheit ergreife."

 

Enzyklopädie des ungelebten Lebens (UA)
Regie und Konzept: Mariano Pensotti, Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte, Musik: Diego Vainer; Dramaturgie: Regula Schröter, Florian Malzacher.
Mit: Rahul Chakraborty, Sophie Hottinger, Verena Lercher, Claire Vivianne Sobottke und Leon Ullrich.

www.steirischerherbst.at
; www.schauspielhaus-graz.com

 

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