Mutter macht jetzt Pornos

von Matthias Schmidt

Gera, 9. Oktober 2010. "Eigentlich müsste sich ein extremes Gefühl von Freiheit einstellen", diesen Satz aus ihrem Stück "Narbengelände" stellt Autorin Anne Habermehl ihrer eigenen Inszenierung wie ein Motto voran. Immer wieder sprechen die vier auf der Bühne ihn, so dass mit dem "Eigentlich"-Satz eigentlich fast alles gesagt ist. "Vier Personen suchen die Freiheit und finden sie nicht".

Worin jeder der vier – Marie, ihr Freund Marc und Maries Eltern – seine Freiheit sieht, sucht und schließlich verliert, erfahren wir schrittweise in einer geschickt konstruierten Szenenfolge. Die Handlung beginnt kurz vor der Wende und endet 2004. Sie spielt hauptsächlich in Gera. Sie wird nicht chronologisch erzählt, und dennoch entsteht aus den Puzzleteilen ein klares Bild sowohl der vier Lebensgeschichten als auch der gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit.

Wunden des Gezeitenwechsels
Marie und Marc wollen aus der DDR fliehen, Marc kommt dabei ums Leben und Marie nie darüber hinweg. Sie geht in den Westen und bricht den Kontakt mir ihren Eltern ab. Die Eltern zerbrechen nicht nur daran. Sie zählen in jeder Hinsicht zu den Wende-Verlierern. Das Leben und die Zeiten haben allen Wunden geschlagen, von denen manche verheilen und andere nicht. Ein Narbengelände, wie auch das Land, in dem alles stattfindet: Deutschland.

Anne Habermehls Stück teilt nichts Neues mit, es schildert privates Hoffen und Aufbäumen, Resignieren und Scheitern anhand einer Familie, und die gesellschaftlichen Umbrüche lassen sich unaufdringlich darin wiederfinden. Ein schönes, kleines Drama mit Blick aufs große Ganze. Geschrieben in einer schönen, pointierten Sprache, die mal ernster, mal humorvoller ist und der man immer gerne zuhört.

Ebenso geschickt, wie sie es gebaut hat, inszeniert es die Autorin. Auf einer schlicht ausgestatteten Bühne, die einen Wald sowie mehrere Zimmer andeutet, mit ein paar wenigen eingespielten Musiken, mit Schriftprojektionen, aus denen Handlungsort und -zeit zu entnehmen sind. Alles ist gut, und doch stimmt etwas nicht mit dieser Inszenierung.

Großartig, emotional, unterhaltsam
Sie passt nicht zum Zeitgeist, sie ist von einer solch ungewohnten Einfachheit, das man erschrickt. Sie verzichtet auf Brechungen, auf Interpretationen oder andere gebräuchliche Herangehensweisen des Regietheaters. Sie ist kein Regietheater, hier inszeniert sich eine Autorin selbst, ganz pur. Wir sehen vier Schauspieler, die vier Menschen verkörpern, ohne wenn und aber. Das mutet so seltsam an, weil es das kaum noch gibt. Wann hat man das zuletzt gesehen? Am ehesten in Häusern, die Kinder- und Jugendtheater machen und allein schon aus didaktischen Gründen weniger doppelte Böden an den Start bringen.

Dass es in Gera so gemacht wird, ist ein Glücksfall, die Einfachheit der Mittel kein Mangel, sondern eine Qualität der Debüt-Inszenierung Anne Habermehls. Vier Schauspieler, die eine Rolle in einem Stück spielen – großartig, emotional, unterhaltsam! Ursula Staack als Mutter hat von allen das wohl größte Spektrum an Emotionen abzudecken, und sie leistet das souverän, ganz alte Schule. Wie sie ihrer Tochter erklärt, dass sie zeitweise im Internet gejobbt hat, Bereich SMS-Porno, das hat einen Humor, den sie in den Fernsehschwänken um Maxe Baumann erprobt hat. Wie sie denselben Sachverhalt vor ihrem Mann leugnet, spielt sie mit ebenso umwerfender Tragik.

Er greift sie für ihre "Internetsucht" an, nicht wissend, dass sie damit Geld für sie beide verdient hat. Sie erspart ihm die Wahrheit – in ihrem "Du bist so was von ungerecht" steckt all ihre Liebe und all ihre Verzweiflung.

Loser im Leben, Gewinner auf der Bühne
Der Mann, Maries Papa, wird von Peter Prautsch als aufrechter Verlierer gegeben, "natürlich Sozialist", wie er sagt, und alle Schicksalsschläge tapfer duldend: der verlorenen Tochter schreibt er Hunderte Briefe, und zwar heimlich in einer Kneipe. Alkohol trinkt er nicht; die Säufer verabscheut er. Dass sie ihr Haus verlieren, sein Bergwerk geflutet wird, er ein Pflegefall wird – Peter Prautsch schaut es sich an, holt tief Luft und trägt es weg.

Alice von Lindenau gelingen übergangslose Wechsel von der mädchenhaften, metaphysisch angehauchten Träumerin Marie zu einer durch den Tod ihres Freundes Marc lebensunfähig gewordenen jungen Frau. Matthias Ransberger als Marc hat seine stärksten Momente, als er Marie im Wald begegnet. Seine Trimm-Dich-Wut auf die Welt prallt mit enormer Komik an ihrer Sternenhimmel-Romantik ab. Der Einarmige, als Krüppel verhöhnte und malträtierte junge Mann, so gibt ihn Ransberger, riskiert schließlich lieber sein Leben bei der Flucht in den Westen, als das weiterhin zu dulden.

Lauter "Loser" im Stück, lauter Gewinner auf der Bühne. Nochmal: einfaches Schauspielertheater, das eine Geschichte erzählt. Funktioniert sicher nicht nur in Gera! Wer traut sich das als nächster? Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig? Publikum dafür gibt es, ganz sicher.

 

Narbengelände
von Anne Habermehl
Regie: Anne Habermehl, Dramaturgie: Lennart Naujoks, Bühne und Kostüm: Christoph Rufer.
Mit: Alice von Lindenau, Ursula Staack, Peter Prautsch, Matthias Ransberger.

www.tpthueringen.de

 

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Kritikenrundschau

"Wie viel persönliche Freiheit ist möglich", frage Anne Habermehl, "wenn die Menschen um einen herum genauso frei entscheiden und handeln wollen wie man selbst?" Die Autorin und Regisseurin in Personalunion spüre "unserer Zerrissenheit nach, alles hinter sich zu lassen und neu zu beginnen - oder das Gewohnte zu umarmen", schreibt Franziska Nössig in der Thüringischen Landeszeitung (11.10.2001). Habermehl bewerte nicht, "welcher Weg ihrer Figuren besser oder schlechter ist, aber sie zeigt, was für ein harter Brocken Freiheit ist." Wie sehr jeder "an seinem Stückchen Freiheit" zerre und "sein gewohntes Leben doch nicht vollständig loslassen" könne, dafür finde dann auch "die Regisseurin Habermehl ein treffendes, trostloses Bild". Schade sei nur, "dass die Szenen in der als Kulisse dienenden DDR den Kern des Stücks bilden und keine Übertragung ins Heute finden - als gelte die Suche nach Freiheit nur in Bezug auf die Mauer."

"Anne Habermehls Stück wie seine szenische Darstellung verlassen sich konsequent auf die Biografie der vier Figuren", meint Reinhold Lindner in der Freien Presse (11.10.2010). "Marie, ihr Freund Marc, Mutter und Vater sind in rasch wechselnden Spielszenen und Zeitebenen immer in ihrer eigenen kleinen Welt verfangen, der Strom der Zeit und das gesellschaftliche Feld sind nur andeutungsweise formuliert und in persönlichen Erlebnissen gespiegelt." Die Autorin habe "gute Rollen geschrieben, und die werden sehr gut gespielt", Ursula Staack sei sogar "einfach großartig".

"Alle zusammen und jeder für sich", assoziiert Stephanie Drees in der Süddeutschen Zeitung (25.10.2010). Habermehl habe mit ihrem "zeitlich verschachtelten Szenenmosaik" ein Stück geschrieben, "das seine Figuren in ihrer Disposition und Biographie ins Zentrum rückt, eine fast schon anachronistische Hommage an das psychologische Theater". Es gehe "um Vereinzelung im Menschenverbund. Um seelischen Separatismus und das Ringen in einer Welt, die mit ihren gewaltsamen Veränderungen immer wieder in die Anpassungsversuche der Figuren grätscht." In den "Dialogschlachten" und "Textmeeren" finde wenig Entwicklung statt. "Narbengelände" sei "kein Wendestück". "Die so oft eingeforderte 'Welthaltigkeit' junger Dramatik liegt hier unaufdringlich unter einem Text, der in seiner flirrenden, kleinteiligen Mehrdeutigkeit schimmert." Die Autorin verlasse sich ganz "auf seine Wirkungskraft – das ist zugleich Segen und Krux der Inszenierung". Auf der Bühne würden die "Seelenlandschaften mit trockener Lakonie kartographiert", überzeugend gespielt von Alice von Lindenau und Matthias Ransberger. Letztlich sehe man "eine Verweigerung gegen alles, was sich Regietheater nennt. Und doch hätten einige Bilder dieser kleinen, puren Inszenierung gutgetan – Interpretationsnischen, die der Zuschauer selbst füllen darf."

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