Erst kommt das Fressen

von Nikolaus Merck

Berlin, 27. September 2007. Jaaa! Da sind sie wieder, die Weißgeschminkten und Fingerspreizer. Die Wackelköpfe und Langsammacher: Robert Wilson ist wieder da. Und er hat seinen Robert-Wilson-Multimix mitgebracht. In den Multimix kann man ein Theaterstück reinstopfen, anschalten, und was am Ende herauskommt, sieht immer ähnlich aus. Ob Shakespeare oder Müller, Büchner oder Brecht – alles wirkt stets possierlich, poliert, perfekt.

Wer im Theater berührt werden will, ist beim texanischen Welt-Regisseur definitiv an der falschen Adresse. Am Berliner Ensemble hat Wilson jetzt also die Dreigroschenoper durch seinen Multimix gejagt: Wie dem Teletubby-Reich entsprungen, hippelt und tippelt Christina Drechslers Polly und klimpert mit den Augenlidern; Jürgen Holtz als Peachum grinst wie der Breitmaulfrosch und reißt den Mund auf im stummen Schrei; die kräftig ausgestopfte Traute Hoess spielt Frau Peachum als Wuchtbrumme, die, wenn sie mimische Ausrufezeichen setzt, das absonderlich frisierte Haupt vom Profil ins Enface ruckt.

Schick und scharf

Wilson hat seinem Gebräu diesmal neben dem Stummfilmpathos, reichlich Cartoon à la Simpsons und einen kräftigen Schuss Drag Queen Glamour beigemischt. Schick und scharf gibt Stefan Kurt einen kalten Macheath. Unterm Glitzeranzug trägt er transparente Korsettage, passend zur aufgeschminkten Androgynität. Und als wäre dies alles noch nicht fremdartig genug, entnimmt der Mann aus Waco ein Hauptstilmittel aus dem barocken Welttheater. Wie da Hirsch und Hase, Busch und Schloss an Schnüren gezogen auf die Bühne fahren, so bewegen sich bei Wilson die Schauspieler.

Abwärts allenfalls bis zum Knie beleuchtet, brillieren noch die abgefeimtesten Chargenspieler damit, sich Fuß einwärts, Fuß auswärts über die Bühne zu schieben, als seien sie jahrzehntelang in der Music Hall in die Bewegungslehre gegangen. Wie er die oft grau und ununterscheidbar wirkende Männerriege des Ensembles von der Finger- bis zur Fußspitze mobilisiert, ist vielleicht Wilsons größte Merite an diesem Abend.

Delirierendes Vibrato

Dazu kommt: plötzlich können alle hier singen. Auch diejenigen, die gar nicht singen können, werden förmlich von der Musik (geleitet von Hans-Jörn Brandenburg und Stefan Rager) ergriffen und bewältigen, wenn es sein muss im Sprechgesang die schwierigen Kurt-Weill-Songs. Wo Jürgen Holz sich den Takt mit dem Krückstock schlägt, ersäuft Angela Winkler als rotbeschopfte Spelunken-Jenny den Salomon-Song förmlich in Vibrato und Gelispele. Und schafft es, gerade auf diese Weise vorzuführen, wie ihre Jenny von Liebe zu und Hass auf Macheath förmlich zerrissen wird.

Eigentlich ist diese fast ins Delirium getriebene Szene der Angela Winkler ein Betriebsunfall im Wilson-Theater. Der Meister interessiert sich für Bilder und Lichtstimmungen, nicht fürs Seelenfett seiner Figuren. Doch gerade weil er die "Dreigroschenoper" so auf Distanz hält, gerade weil er sie verfremdet, bis man den Grobian Brecht auf den ersten Blick nicht mehr erkennt, ereignet sich Überraschendes.

Brechts Botschaft wieder hörbar

Wenn sich im zweiten Finale das Ensemble vorm graugrün aufleuchtenden Horizont versammelt, um vom Fressen und der Moral zu singen, wenn der nur als Silhouette sichtbare Haufe hinter Vorsänger Stefan Kurt plötzlich eine Durchschlagskraft entwickelt, als sei dem Wilson ein Brocken Schleef in den Mixer gerutscht, dann wird die abgenudelte Botschaft wieder hörbar: "Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben,/ Dann könnt ihr reden: Damit fängt es an." Ja. Da ist wohl doch etwas dran. Und dies bleibt nicht der einzige Moment, bei dem der Inhalt aus der Sphäre des Allzubekannten zu uns zurückkehrt.

Dabei spart Robert Wilson nicht mit distanzierenden Gesten. Die bebende Märchenerzählerstimme aus dem Off, mit der Walter Schmidinger die Szenenanweisungen einliest, rücken die Veranstaltung genauso ins Reich der Gute-Nacht-Geschichten wie der Prunk- und Festvorhang, den der Regisseur zuletzt über das penibel der Uraufführung von 1928 nachgestellte Schlussbild fallen lässt. Dann kommt der Jubel. Und dann kommen die Fragen.

Der Bürger in der Dialektik-Falle

Kommt es uns nur so vor oder stellt Robert Wilsons Design-Theater nicht doch den logischen ästhetischen Endpunkt der Peymannschen Rote-Bäckchen-Brechtiaden dar? Treibt Peymann, der große Einfühler, die Verfremdung, die er halbherzig probiert, nur einfach nicht weit genug? Wieso aber menscheln Peymanns Brecht-Unternehmen so unerträglich, während die grotesken Bizarrerien des Wilson-Theaters die Brecht'sche Anklage der falschen Einrichtung der Welt wenigstens momentweise wieder hörbar machen?

Und: ist es nicht zu simpel, die Theaterbürger, die enthusiastisch Robert Wilson feiern, des dummen Zynismus zu bezichtigen, weil sie die Analyse einer Krise bejubeln, deren Urheber sie, also wir selber sind? Und wäre es nicht genauso zu einfach, wollte man behaupten, Wilsons marmornes Kunsthandwerk ermögliche es den Zuschauern erst, den garstigen Brecht, und die, verglichen mit der notorischen Zauberflöten-Vorliebe der Kulturbürger, dissonanten Weill-Songs zu goutieren, weil Wilson, der sich um politische Inhalte nicht schert, mit seiner Strategie der Ästhetisierung und Stilisierung alle Inhalte exorziert?

Nein, vielmehr scheint es uns, als wisse hier jeder im Parkett über die katastrophale Einrichtung der Welt Bescheid, von der die "Dreigroschenoper" erzählt. Und: als leide jeder daran, genauso wie sein Nebenmann. Womit sich das Berliner Ensemble nur einmal mehr als das eigentliche zeitgenössische Theaterinstitut präsentiert. Denn nur hier, so scheint es, hat man die Lehre der Gegenwart akzeptiert: alle wissen über alles Bescheid, auch finden es alle betrüblich, dass die menschlichen Verhältnisse nicht so sind, wie sie sein sollten. Aber im übrigen gehen sie, gehen also wir, zur Tagesordnung über. Und die heißt im Berliner Ensemble: Kinder, lasst uns Theater spielen. So bestätigte das Spiel, weil es für ein paar Stunden Ablenkung und Zerstreuung bietet, also doch wieder nur, was es beklagt. Gibt es denn daraus keinen Ausgang?

 

Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht und Kurt Weill
Inszenierung, Bühne und Licht: Robert Wilson, musikalische Leitung: Hans-Jörn Brandenburg und Stefan Rager, Kostüme: Jacques Reynaud. Mit: Jürgen Holtz (Peachum), Traute Hoess (Mrs. Peachum), Christina Drechsler (Polly), Stefan Kurt (Macheath), Axel Werner (Tiger Brown), Angela Winkler (Spelunkenjenny), Uli Pleßmann (Smith), Walter Schmidinger (Der reitende Bote), uva.

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

Dass die gesellschaftliche Botschaft der "Dreigroschenoper" an Brisanz verloren habe, dafür könne Robert Wilson nichts, meint Petra Kohse in der Frankfurter Rundschau (29.9.2007). Nicht ohne Wohlgefallen schaut sie auf seine "maschinenhafte Ästhetik", mittels derer Wilson die Geschichte von Maceath "als schwarz-weißen Bilderbogen zur Moritat, als Schattenriss, Pantomime, Stummfilm" vorbeikurbele. Die Protagonisten arbeiteten "bewundernswert präzise mit gezielten Brüche", und so sei gar "das Giggeln der Winkler so etwas wie die Parole des Abends".

"Rundum erfrischt und erstaunlich erfrischend" findet Irene Bazinger in der FAZ (29.9.2007) Wilsons "elegant zupackende wie souverän huldigende Behandlung" der "Dreigroschenoper". Sie singt ein Loblied auf das "hinreißende Ensemble": "Allen zuckt es regelmäßig gierig in den Fingern, als ob sie gleich einen Menschen oder fremdes Eigentum stehlen wollten." Und auch der musikalischen Seite dieser "erfreulichen Befreit-Brecht-Medaille" bescheinigt sie "federnd-rauhen Schwung".

Ulrich Seidler hält es in der Berliner Zeitung (29.9.2007) für angemessen, "dass nicht nur Darsteller, Musiker und das Regieteam, sondern auch die Techniker zum Verbeugen kamen." Schließlich habe die "Robert-Wilson-Spieluhr" die "Dreigroschenoper" in "reibungsloser Brillanz" zum Abspulen gebracht. Seidler bemerkt jedoch auch eine größere Selbstverständlichkeit Wilsons im Umgang mit seiner Theatersprache, so "dass hier und da durchaus auch mal der Schatten eines Inhalts oder einer Figurenseele auf die Bühne" falle. Zumal Angela Winkler ohnehin auf alle V-Effekte pfeife.

In der Welt (29.9.2007) ist Matthias Heine der Ansicht, dass zu dem "ganzen hochstaplerischen Kulissenschwindel" Brechts die Wilsonsche Künstlichkeit wunderbar passe. Und er enthüllt einen bislang unbemerkten Zusammenhang: Wilsons "Dreigroschenoper" mit ihren weiß geschminkten Menschen sei "zum würdigen Requiem für den kürzlich gestorbenen Marcel Marceau" geworden. Besonders angetan ist Heine von Angela Winkler als Jenny, die "den achten Kreis des Wahnsinns längst hinter sich gelassen" habe. Alles andere sei unterhaltsam, aber "allein Winklers Auftritt ist genial".

Wie kaum ein anderer – so konstatiert es Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (29.9.2007) – schaffe es Wilson, "den zerbrechlichen Moment des Schauspielers zu zelebrieren, in aller Würde, in aller Dramatik – und Komik." Gerade aus dem Erfahrungsschatz der älteren Mimen – etwa aus dem Walter Schmidingers oder Angela Winklers – verstehe er "schamlos zu schöpfen", indem er "eine kindliche Spiellust" in ihnen wecke. Doch obwohl Schaper die "Dreigroschenoper" für eine geradezu idealtypische Wilson-Arbeit hält, bleibt ihm das Ganze letzlich "doch zu sehr Gesamtkunstwerk auf mittlerer Betriebstemperatur".

Henrike Thomsen erinnert auf spiegel.de (28.9.2007) an die früheren Wilson-Inszenierungen, "in denen die surreale Qualität der Bilder dichter und ihre sperrige Distanz zum Text noch reizvoller waren." Jetzt sei er "milder" geworden: "Wilson ist ja auch schon über das Pensionsalter hinaus und vor allem routiniert." Und wenn man das akzeptiere, zudem der "politischen Dimension des Stücks" nicht nachweine, könne man "einen Unterhaltungs-Abend genießen, der es mit jedem Westend-Hit aufnehmen kann". Vor allem dank der brillanten Schauspieler, wie Frau Thomsen meint. Angela Winklers Solo-Arie: "In all seinem Manierismus ist es einer der schönsten Momente des Abends."

Ein Wunder, etwas nie Dagewesenes erlebt zu haben, ist Gunnar Decker vom Neuen Deutschland (29.9.2007) überzeugt. Denn Robert Wilson sei demütig geworden, "in dem routinierten Macher endlich der Künstler, nein, der Mensch erwacht". Ermöglicht werde dies durch das "partielle Misslingen" von Wilsons "sonst so homogenem Regiekonzept", der aus dem Widerstand "eines fremden Elements" resultiere: "Der Schauspieler, er lebt immer noch und sorgt für die Unvorhersehbarkeiten." Die Winkler etwa "kriegt Wilson nicht klein", vor allem aber sei da Jürgen Holtz als Peachum, "das omnipräsente Zentrum dieses Abends, an ihm und mit ihm wachsen sie alle".

Im Standard (29.9.2007) machte Lorenz Tomerius eine "über weite Strecken applausfreudig gemütliche" Stimmung aus. Er hält Wilsons Inszenierung – so wie Canetti die Uraufführung – für "kalt berechnet", es dauere "fast zwei Stunden, bis der salopp aggressive und subversive Text (…) deutlicher Biss bekommt". Doch auch Tomerius entgehen nicht die "bezaubernd flirrenden Vibrato-Koloraturen" des "wunderbaren, begeistert gefeierten Solitärs" Angela Winkler.

Auch Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (29.9.2007) fand "gute Laune … im Parkett" vor. Der Inhalt der "Dreigroschenoper" löse sich zwar "in virtuose Nummern" auf, doch so bekomme man "Kurt Weills angejazzte Schlager und Brechts zynische Kalauer (…) als genau das serviert, was sie heute bestenfalls noch sein können: Professionelles Entertainment." Mit seiner "durch nichts zu erschütternden Ignoranz" mache Wilson die "Dreigroschenoper" noch einmal spielbar. Und in den Auftritten von Jürgen Holtz als Peachum sehe man gar "noch einmal für große Momente wie kalt, fremd und marsmenschenhaft Wilsons Theater einmal gewesen sein muss".

Dirk Pilz (NZZ , 5.10.2007) denkt beim Prolog noch, er wüsste schon alles über das Wilson-Theater ("Wilson hat einmal mehr den Stumm- mit dem Trickfilm gekreuzt, lässt Charlie Chaplin auf die Simpsons treffen, um seine bis auf die Form abgemagerte Ästhetik zu zelebrieren. Eine Heiligung der reinen Äusserlichkeit, dargeboten von Virtuosen der Ausnüchterung.") Aber dann bemerkt er die Irritationen und Ausnahmen von der Regel, die schauspielerischen Details, und: "Plötzlich wirkt der Text nicht mehr altklug, sondern dringlich." Wilson nehme Brechts Gesellschaftskritik ernst und kontere sie mit "seiner Form einer selbstreflexiven Verfremdung, die um ihre eigene Folgenlosigkeit weiss. Auch das ist Dialektik".

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