Indien Stück für Stück erobert

von Rainer Nolden

Trier, 9. Oktober 2010. Der Roman "Mitternachtskinder" von Salman Rushdie erzählt die Geschichte von Salim Sinai, der Punkt Mitternacht am 15. August 1947 zusammen mit weiteren tausend Kindern auf die Welt kommt. Diese 1001 Mädchen und Jungen sind alle mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Einer kann sein Geschlecht verwandeln, wenn er ins Wasser steigt, eine wird zur Hexe und Salim ist in der Lage, die Gedanken seiner Mitmenschen zu erahnen und, da mit einem besonders großen Riechorgan ausgestattet, zu erschnüffeln.

Womit die ersten beiden indischen Mythen schon mal abgehakt wären: Von den tausendundeinen Geschichten, mit denen die Märchenerzählerin Scheherazade sich Kopf und Kragen retten will, sind zahlreiche indischen Ursprungs. Und die überdimensionierte Nase ist auf Gott Ganesha gemünzt, den Hüter von Schreibkunst und Weisheit, der in der indischen Mythologie mit Elefantenkopf und entsprechendem Rüssel dargestellt wird. Ach ja, und dann hat Salim noch ein Muttermal auf dem Kopf, das wie ein Schmutzfleck wirkt und in seinen Umrissen an Pakistan erinnert, was dem Jungen später sehr viel Demütigungen und Ärger einbringen.

Familiengeschichte politisch grundiert

Womit wir auf der politischen Ebene angekommen wären: Denn an jenem 15. August 1947 wurde Indien Schlag Mitternacht aus der britischen Vorherrschaft in die Unabhängigkeit entlassen. Doch die führte unter der Regierung Jawarhalal Nehrus zur Abspaltung Pakistans vom Mutterland.

Die politischen und gesellschaftlichen Konflikte sind jedoch nur der Hintergrund für die Familiengeschichte Salims, der mal als Erzähler, mal als Mitwirkender, aber immer als Symbolfigur für die Geschichte seiner Heimat, vor den Augen seiner Freundin Padma und der Zuschauer ein Jahrhundert seiner Familie Revue passieren lässt.

Das beginnt bei seinem Großvater, dem Arzt Adam Aziz, der nach dem Studium in Heidelberg 1917 in seine Heimat zurückkehrt. Er wird zu einer Patientin gerufen, die er, dem strengen Sittenkodex gemäß, nur durch das Loch in einem Tuch untersuchen darf und sie auf diese Weise nur "stückweise" kennenlernt.

Kämpfer für die falsche Sache

Aziz heiratet Nasim, sieht ihr Gesicht erstmals 1918, im Jahr, als der Erste Weltkrieg endet und sein Ehekrieg beginnt. Von den drei Töchtern, die Nasim ihm schenkt, verliebt Amina sich in Ahmed Sinai, der flugs dem Alkohol verfällt und am Ende gar nicht so recht weiß, ob er überhaupt der Vater von Salim ist. Was er tatsächlich nicht ist, denn der wurde bei der Geburt von einer katholischen (!) Schwester mit dem in eine bessere Kaste geborenen Shiva vertauscht. Die beiden Söhne werden zu Kämpfern ihrer Sache - und vertreten dabei jahrzehntelang unwissentlich die eigentlich falsche Seite.

Am Ende steht Salim einem elfjährigen Jungen gegenüber, der ihm als sein Sohn vorgestellt wird - in Wahrheit aber von Shiva mit Parvati, der Hexe, ebenfalls ein Mitternachtskind, gezeugt wurde. Gemeinsam beginnen sie, Hand in Hand zu laufen. Wegkommen werden sie ebenso wenig wie ankommen, denn sie laufen stets im Kreis.

Mit diesem Bild schließt das Stück, dessen Ereignisse und Episoden wie ein Wirbelwind über die Bühne fegen. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen stellt sich irgendwann im Verlauf des Abends so etwas wie Ermüdung und Übersättigung ein - und der leise Frust darüber, dass man das alles ohne ein Geschichtsbuch unterm Arm eigentlich gar nicht richtig verstehen kann.

Eine ganze Welt eingedampft

Stefan Maurer und Peter Oppermann haben das bei ihrer Konzeption - die den 700 Seiten-Roman von Salman Rushdie mit seinen unzähligen Figuren auf knapp drei Stunden Spielzeit und 40 Rollen gespielt von zwölf Schauspielern kondensiert - bewusst in Kauf genommen, andernfalls sie vor der schieren Stoffmasse hätten kapitulieren müssen.

Maurer setzt die gesamte Bühnenmaschinerie von oben und unten in Bewegung, um schnelle Szenenwechsel und zu schaffen und die fantastischen, flirrenden, verwirrenden, magischen Bilder (Ausstattung: Anja Jungheinrich) mit Leben zu füllen. Dafür trimmt er das Trierer Ensemble vor allem auf Tempo. Die Schauspieler leisten dabei Beachtliches.

Gabriel Spagna, der als Cicerone durch sein Land und sein Leben als Einziger in seiner Rolle als Salim Sinai bleibt und damit die darstellerische Hauptlast schultert, mal kommentierend an der Rampe, mal mitten im Geschehen, wird mit geschmeidiger Wandlungsfähigkeit vom Suchenden zum Getriebenen und vom Triumphierenden zum Gedemütigten.

Irisierender Bilderbogen

Die Wandlungsfähigkeit der anderen zeichnet sich durch den raschen Wechsel in bis zu sechs verschiedene Rollen aus: etwa Franziska Küpferle als keifend-zänkisch-konservativ-prüde Nasim und intrigant-frömmelnde Ehrwürdige Mutter, die in der Geburtsklinik die Babys vertauscht; Sabine Brandauer, eine ebenso verzweifelt liebende und aufbegehrende Amina wie verführerische Hexe Parvati; Antje-Kristina Härle, Salims Gefährtin durch die Jahrzehnte, geliebte Schwester und betörendes Dschungelwesen; Klaus-Michael Nix, dessen Ahmed bis zur waschlappigen Jämmerlichkeit dem Alkohol verfällt und der ganz am Ende noch einmal Hoffnung auf einen Neuanfang schöpft; Jan Brunhoeber als Salims Gegenspieler, Shiva geheißen, noch so eine Anspielung aufs Göttliche, obwohl er eher wie ein Springteufel über die Bühne hüpft, und aufs Phallische, der seinem Erzfeind Salim nicht nur mehrmals an die Gurgel geht, sondern ihm auch noch ein Kind unterjubelt ...

Noch lange wirbeln die "Mitternachtskinder" im Kopf umher, wenn auf dem Heimweg die Eindrücke und Gedanken zu sortieren versucht. Nehmen wir das Stück am Besten als das, was es ist: ein prächtiger, fremdländischer, exotischer, irritierender, irisierender Bilderbogen. Und ein bisschen hat's ja tatsächlich geklappt mit dem Verzaubern und Faszinieren - auch wenn viele Fragen offen bleiben.

 

Mitternachtskinder (DEA)
von Salman Rushdie
Fassung von Stefan Maurer und Peter Oppermann
Regie: Stefan Maurer, Bühne und Kostüme: Anja Jungheinrich.
Mit: Gabriel Spagna, Antje-Kristina Härle, Jan Brunhoeber, Klaus-Michael Nix, Peter Singer, Franziska Küpferle, Christian Miedreich, Sabine Brandauer, Vanessa Daun, Helge Gutbrud, Tim Olrik Stöneberg, Manfred-Paul Hänig.

www.theater-trier.de

 

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Kritikenrundschau

Ein nahezu "unentwirrbares Gemisch" aus Geschichten halte Salman Rushdies Roman "Mitternachtskinder" nach eigener Aussage des Autors bereit. Und als solches stelle es auch eine "Beinahe-Unmöglichkeit, es in einen Theater-Abend zu packen", dar, schreibt Dieter Lintz im Online-Portal des Trierischen Volksfreund volksfreund.de (10.10.2010). Doch auch wenn es in der Bühnenumsetzung des Romans einige Abstriche in puncto Übersichtlichkeit gibt, könne sich die Inszenierung von Stefan Maurer sehen lassen. Sie besteche mit "faszinierenden Bildern" und durch "flotte Choreographie". Hervorgehoben wird das Trier-Debüt von Schauspieler Gabriel Spagna als Erzähler und Hauptfigur Salim Sinai.

 

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