Weckruf

13. Oktober 2010. Eine Inszenierung des Elfriede Jelinek-Stückes Rechnitz (Der Würgeengel) am Düsseldorfer Schauspielhaus hat Publikumsproteste ausgelöst.

Bei den ersten drei Vorstellungen im Central, der Ausweichspielstätte des Schauspiels, verließen bereits zur Pause zahlreiche Zuschauer das Theater. Kurz vor Schluss, bei einem Dialog des sogenannten "Kannibalen von Rotenburg" mit seinem Opfer, liefen laut einem Bericht der Düsseldorfer Rheinischen Post (12.10.2010) "die Menschen in Scharen heraus", 70 Prozent bekräftigt in der Frankfurter Rundschau Theaterkritiker Stefan Keim. Im Anschluss an die zweite Aufführung am Sonntag habe "ein älterer Herr" sogar die Regieassistentin, die in der Aufführung auch auftritt, im Foyer angespuckt.

Elfriede Jelineks Stück handelt von einem Massaker Ende März 1945. Auf dem burgenländischen Schloss Rechnitz der Gräfin Margit Batthyány, einer Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen, waren kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges bei einem "Gefolgschaftsfest" von SS-Offzieren 180 jüdische Zwangsarbeiter von den Partygästen in einer Scheune erschossen worden. Die Massengräber wurden nie gefunden. Bis heute ist das Massaker nicht aufgeklärt.

Verstörend oder aufreißerisch?

Die Uraufführung von "Rechnitz" fand vor zwei Jahren an den Münchner Kammerspielen statt. Der Schweizer Regisseur Jossi Wieler hatte damals den "Kannibalen-Dialog" gestrichen. Elfriede Jelinek, die für "Rechnitz" den Mülheimer Dramatikerpreis 2009 gewann, hatte dabei auf den Fall des "Kannibalen von Rotenburg" aus dem Jahr 2001 zurückgegriffen, bei dem der Täter sein Opfer entmannt, getötet und Teile der Leiche gegessen hatte. In einem intimen Dialog unterhalten sich Täter und Opfer detailliert über die zu verspeisenden Körperteile

Die Pressesprecherin des Düsseldorfer Schauspielhauses, Manuela Schürmann, erklärte gegenüber der Nachrichtenwebseite Focus online (12.10.2010), Schmidt-Rahmer setze in seiner Bühnenfassung "eigene Akzente". So sei eine Szene als "populistische History-Fernsehsendung" gestaltet, in einer anderen würden die Grabungen nach den Opfern des Massakers dargestellt. Die Zuschauerreaktionen auf der Homepage des Schauspielhauses reichten von "großartig" über "verstörend und verunsichernd" bis zu "aufreißerisch" und "brutal".

Stefan Keim schreibt in der Frankfurter Rundschau (13.10.2010): Schmidt-Rahmer suche nicht die "intellektuelle Distanz", sondern renne "mit Jelinek immer wieder gegen die Unmöglichkeit" an, "Bilder zu entwerfen, eine Wahrheit zu finden". Die "hervorragenden Schauspieler" stellten auf einem Filmset mit "schauderhafter Sinnlichkeit" die Naziorgie nach. Schmidt-Rahmer sei es um die "Spur von Bestialität im Betrachter" zu tun, um die "erschreckende Erkenntnis, kein unanfechtbarer Gutmensch" zu sein.

Als Konsequenz aus den Tumulten bietet das Theater seit Montag für alle "Rechnitz"-Aufführungen Einführungen an. Dennoch haben auch am Montagabend wieder etwa 30 Zuschauer das Theater zur Pause verlassen. Der große Rest allerdings, so Manuela Schürmann gegenüber nachtkritik.de, blieb und applaudierte am Ende heftig.

Provozierter Skandal?

In einem Gespräch mit der Rheinische Post (12.10.2010) antwortete Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer auf die Frage, ob er "den Skandal angestrebt" habe, es sei sein "Bestreben" gewesen, "möglichst viel von diesen sehr unzugänglichen Texten theatral zu machen". Den "Kannibalendialog" habe er sprechen lassen, weil das "Motiv des Kannibalismus das ganze Stück durchzieht". An sehr vielen Stellen werde über "das Kauen, das Essen, das Verdauen" geredet. In Jelineks Stück fielen Sätze wie, "die Schlossbewohner werden die Juden doch nicht aufgegessen haben". Während das Bild der Nachgeborenen auf den Holocaust das eines bürokratischen und verwaltungstechnischen Aktes sei, gebrauche Elfriede Jelinek ein Bild, den Massenmord als "dionysischen Rausch, in dessen Verlauf Menschen gegessen" worden seien.

Der Kannibalentext am Ende sei "ganz bewusst gesetzt", wie ein "Weckruf", der "den Widerstand geradezu provozieren muss", der Text sei "der Zuspitzungspunkt, den die Autorin anstrebt". In der Münchner Aufführung von Jossi Wieler habe man am Ende "nett klatschen" können. "Das wollte ich unbedingt vermeiden. Man kann einen literarischen Amoklauf nicht gelöst beklatschen."

"Der größte Teil des Stückes handelt von der Ungeheuerlichkeit des Mordes an fast 200 hilflosen Menschen", zitiert Stefan Keim auf Welt-online (13.10.2010) aus einer Mail von Elfriede Jelinek in dieser Sache. "Die Mörder gehen vom Besäufnis direkt zur Menschenjagd. Dass dann ein Lustmord, ausgerechnet, die Leute mehr schockiert, hätte ich nicht gedacht." Der Vorfall in Düsseldorf erinnere sie an die Empörung über Guillaume Apollinaires Roman "Die Elftausend Ruten": Der "kleine, handgemachte Sexualmord schockiert, der vieltausendfache des Ersten Weltkrieg, das massenhaften Töten, wird zur Normalität."

 

Ein Feuilletongespräch mit Annette Bosetti, Kulturchefin der Rheinischen Post, auf Deutschlandradio (13.10.2010).

Eine Annäherung an Elfriede Jelinek von Dorothee Krings in der Rheinischen Post (13.10.2010)

 

Kommentare  
Rechnitz, Düsseldorf: tt 11?
ich sag mal: das klingt nach theatertreffen! und das meine ich nicht'mals polemisch - da scheint ein regisseur echt einen nerv getroffen zu haben, ein brutales thema, ein brutales stück endlich mal wieder so zu zeigen, dass es die zuschauer/uns auch brutal trifft.
Rechnitz, Düsseldorf: Ermutigung
Der Kleinbürger probt wieder den großen Aufstand und zieht sich an einem Text von Elfriede Jelinek hoch. Das beweißt nur, dass der Deutsche oder auch der Österreicher heute immer noch nicht offensiv mit seiner Vergangenheit umgehen kann. Deswegen Dank das es Frau Jelinek gibt. Das Düsseldorfer Theater sollte sich nicht entmutigen lassen. Wenn jetzt wieder in der Rheinischen Post von der kommunistischen Vergangenheit der E. Jelinek berichtet wird und ihrer angeblichen moralisierenden Art, sollte man nicht vergessen, die Moralisten sitzen meist ganz wo anders. Ihren Texten die Güte oder Relevanz absprechen zu wollen, zeugt schon von großer Ignoranz.
Es lohnt sich in jedem Fall, Stücke von E. Jelinek auf die Bühne zu bringen, man sollte aber immer wissen, das diese Texte ganz allein schon für sich wirken und nicht noch durch aufreißerische Bilder aufgemotzt werden müssen. Das nun bereits eine einfache Toneinspielung den Volkszorn erweckt, überrascht doch schon ein wenig, hat doch Nicolas Stemann in seiner Inszenierung von „Das Werk“ ganze Körperteile auf die Bühne werfen lassen. Da war Wielers Rechnitz-Inszenierung wirklich nett dagegen. Es sind die tatsächlich ungewohnt deutlichen Worte E. Jelineks die verstören und uns zum Nachdenken bringen sollten. Theatertreffen hin oder her, das Stück wird auch so sein Publikum finden.
Rechnitz, Düsseldorf: keiner Erwähnung wert
Ich verstehe die Aufregung nicht. Das Stück ist grottenschlecht und einer Erwähnung in irgendeiner Form überhaupt nicht wert.Dann doch lieber Lena 2011 im schönen D dorf....
Rechnitz, Düsseldorf: Verwechselung
@ Ken
Ich glaube Sie verwechseln hier Stück mit Inszenierung. Der Text von Elfriede Jelinek ist mit Sicherheit nicht grottenschlecht. Über die Inszenierung kann ich nicht urteilen, da ich sie nicht gesehen habe. Aber woran haben sich denn nun eigentlich die Gemüter erhitzt, wenn die Leute schon in der Pause gegangen sind? Die Einspielung des Kannibalentextes kam doch wohl erst zum Schluss.
Rechnitz, Düsseldorf: ein Abend, der packt!
woran sich die gemüter erhitzten?
wohl daran, dass ein regisseur in seiner umsetzung den kern des stücks sehr gut getroffen hat! dass man einen theaterabend erlebt, der einen - pardon! - echt an den eiern packt!
Rechnitz, Düsseldorf: Kannibalendialog
@Stefan
Ich habe die Inszenierung selber nicht gesehen, aber soweit ich den Zeitungsberichten entnehmen konnte, hat der Regisseur den Kannibalendialog, der eigentlich am Ende des Stücks steht, vorgezogen, als eine Art Höhepunkt.
Rechnitz, Düsseldorf: Erläuterung
Lieber Stefan, liebe andere,
nach Aussagen von Manuela Schürmann vom Schauspielhaus haben sich die Zuschauer, die die Aufführung schon zur Pause verließen, über die ganze Machart der Inszenierung, ihre Bilder aufgeregt. Dazu kann man in der Presseschau (s.o.) lesen: "So sei eine Szene als 'populistische History-Fernsehsendung' gestaltet, in einer anderen würden die Grabungen nach den Opfern des Massakers dargestellt". Der "Kannibalendialog" kommt erst nach der Pause.
Gruß
nikolaus merck
Rechnitz, Düsseldorf: zynisch, ausbeutend, mediengeil
schön, wie man die opfer zynisch noch einmal ausbeutet und für die eventgesellschaft herrichtet. mediengeil mit mediengerechtem kannibalismus, nazikostümen und tollen lachern. wo ist jetzt noch einmal genau der unterschied zwischen gründgens und dieser ehrgeizblinden revue? wer hat von was profitiert? die jüdischen zuschauer verlassen das theater. geil. theatertreffen wir kommen! na dann.
Rechnitz, Düsseldorf: Vorurteile
mediengeil? tolle lacher? ausbeutend?
h.müller: inszenierung gesehen?
sonst: 6, setzen. und zwar am besten mal vorurteilsfrei in eine vorstellung.
Rechnitz, Düsseldorf: zum skandalösen Potential
Laut www.nachtkritik-stuecke09.de hat Gerhard Jörder beim Publikumsgespräch zu Jossi Wielers "Rechnitz"-Inszenierung dem dortigen Fehlen des Kannibalendialogs nachgefragt: "Moderator Gerhard Jörder möchte wissen, warum Jelineks Ende, das in einem kannibalistischen Finale in Anlehnung an den Fall von Rotenburg gipfelt, entschärft worden ist. Für Wieler ist dieser Dialog ohnehin schon wie ein Nachspiel geschrieben, er sei dem Team in seiner nochmals auftrumpfenden Drastik tautologisch erschienen."

Ich habe damals einen Kommentar gepostet, der Wieler widersprach: "Wieler hat Recht, wenn er den Dialog am Ende von "Rechnitz" als ein Nachspiel bezeichnet. Dass er aber tautologisch sei, also dem Vorangehenden nichts Neues hinzufüge, kann ich nicht teilen. Hier - ganz am Schluss des Stücks - liefert Jelinek das nach, was sie vorher verweigert hat: eine Drastik nämlich, die ins Ekelerregende, ins Schauerliche hineinreicht. Und mit dem Ekel, mit dem Schauer setzt eine kathartische Wirkung ein, die man durchaus als angenehm empfinden kann.
Das Besondere des Jelinek'schen Sprechens ist ja auch, dass es die Katharsis ständig unterläuft. Wenn die Autorin diese Strategie ganz am Ende fallen lässt, so zeigt sie zugleich - und das sehr plastisch -, wovon sie sich im Rest des Textes distanziert. Die Katharsis, die sie im Schlussdialog durch dessen schauerliche Drastik noch aufbietet, ist durch das vorangegangene Gerede längst in ein sehr zweifelhaftes Licht getaucht. Um die Erfahrung dieses zweifelhaften Lichtes zu machen, dürfte man das Nachspiel jedoch nicht weglassen."

Im Zusammenhang der Düsseldorfer Aufführung erscheint es mir nun zumindest fraglich, ob ich mit der Katharsis damals richtig lag. Zumindest aber lädt die Drastik des Schlussdialogs zu einer (sicherlich unschönen) Identifikation mit den Figuren ein, die sich sonst so in Jelineks Text nicht findet. Genau diese Art der Einladung zur Identifikation mit den Rotenburg- und Amstetten-Tätern dieser Welt ist es aber, die die Boulevardmedien täglich betreiben. Jelinek unterläuft mit ihrem Stück ansonsten konsequent die Boulevardisierung des Rechnitz-Themas, um uns am Ende ebendiese Boulevardisierung in ihrer ganzen hässlichen Nacktheit um die Ohren zu hauen. Das hat sicherlich aufrüttelndes Potential, und wenn Schmidt-Rahmer dieses Potential freigelegt hat, so kann ich daran nichts Falsches finden. Skandalös mag es sein, aber der Skandal liegt dann in dem, was die Aufführung aufzeigt, nicht in dem, was sie als Inszenierung tut.
Rechnitz, Düsseldorf: sehenswert
Die Düsseldorfer Aufführung ist sehr sehenswert!
Ich war absolut angezogen & angestossen...
Rechnitz, Düsseldorf: lesenswert
Es werden genügend "Gebildete unter den Verächtern/Meidern des zeitgenössischen
Theaters" den ganzen Jelinek-Text unter Aufbringung hinreichender szenischer
Phantasie gelesen haben, oder ?
Ein an Frau Jelinek aufzuhängender (was immer das sein mag) Skandal käme jetzt
wahrlich erstaunlich spät !
Gibt es Indizien, daß da ein Regisseur einen Jelinek-Text quasi mißbraucht, um auf
Sensation zu machen ??
Das wäre allerdings eine andere und naheliegende Frage, allerdings: von Personen, welche sich selbst tunlichst befragen sollten, warum Sie einen Jelinek-Abend besuchen einerseits oder ein Stück, das "Rechnitz (Ein Würdeengel)" heißt,
andererseits.
Lesenswert, was Herrn Behrens dazu eingefallen ist und außerordentlich dümmlich
doch wohl, gegen die Mitte des Oktobers schon vom Theatertreffen im Mai 2011
zu fabulieren.
Rechnitz, Düsseldorf: Dank
Ja, auch ich wollte mich noch mal für die Zeilen von Wolfgang Behrens bedanken. Das E. Jelinek die Katharsis verweigert ist nicht nur im Würgeengel so, auch in den Kontrakten des Kaufmanns gibt es diesen rollenlosen Text, der nicht zur Identifikation einlädt, aber zum Schluss mit dem Mann mit der Axt ein Gesicht bekommt, das man verabscheuen kann. Das E. Jelinek mit ihrem Text jüdische Opfer verhöhnt ist absurd, werden doch erst durch das konsequente Totschweigen der ungesühnten Taten die Opfer tatsächlich entwürdigt.
Rechnitz, Düsseldorf: voller Provokations-Erfolg
in sofern ein voller Erfolg.
Es ist immer wieder schön zu sehen wie Theater die Gemüter erregen kann. Dieses Stück soll ja auch keine plumpe Unterhaltung aller Musical sein,Sie sollte Provozieren und zwar zum Nachdenken.
In dieser Hinsicht ein voller Erfolg.
Rechnitz, Düsseldorf: Texte zum Abnicken
ach was, nachdenken und provakation, noch so ein ammenmärchen. aber bitte. bei dem provokationsaufkommen müssten ja gerade die so verfemten spießer-protofaschisten die nachdenklichsten leute sein. es gibt im übrigen kaum texte die so sehr zur identifikation einladen, wie die von elfriede jelinek, sie sind allein zum abnicken da. die angeblich provokation ist nur ein skandalisierungskrampf auf den dann auch tatsächlich ein paar willige opfer hereinfallen, zur beglückung der nachdenkenanreger. gerade das so tun, als sei das alles so wahnsinnig unidentifikativ ist doch identifikationskrampf eines ja-so -schlimm-sage-rituals, und wer da nicht mitmacht ist klar, der zum nachdeken, sprich zur identifikation, gebracht werden müssende. bei dieser art stück gibt es nur eine richtung, du musst sagen: ja, tust dus nicht: noch mal provokation, noch mal nachdenken, bis es sitzt.
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