Zerfressene Seelen

von Ralph Gambihler

Jena, 14. Oktober 2010. Comic-Fans sind gleich im Bilde, wenn sie den Stücktitel lesen. Gotham City? Na klar! Das ist doch der finstere Hochhaus-Moloch, in dem das Verbrechen regiert und der Held bei Dunkelheit durch Straßenschluchten fliegt. Dieser Held heißt Batman und wurde vor rund 70 Jahren von Bill Finger - kennt man den eigentlich noch? - erfunden. In Rebekka Kricheldorfs neuem Stück "Gotham City I - eine Stadt sucht ihren Helden" geistert die heroische Fledermaus als Lieblings-Comicfigur von Sheriff Gordon Biff durch die Szenen. Biff identifiziert sich mit Batman, weil auch er in dem 10-Millionen-Moloch Gotham City lebt. Er träumt davon, wie sein Held auf Verbrecherjagd zu gehen. Allerdings hat er schon Schwierigkeiten, mit einem Kleindealer fertig zu werden, und seine exzessiven Rauch- und Trinkgewohnheiten hat er auch nicht im Griff.

"Gotham City I - eine Stadt sucht ihren Helden" ist der erste Teil einer Gesellschafts-Trilogie, an der die Dramatikerin Rebekka Kricheldorf für das Theaterhaus Jena arbeitet. Kricheldorf schreibt meist schräge Sozialfiktionen, in dieser Hinsicht ist sie sich treu geblieben. Mit comicartiger Überdrehtheit erzählt sie eine Sex-and-Crime-Geschichte über Menschen mit völlig zerfressenen Seelen. Egomane, Dealer, Junkies, Neurotiker, Psychopathen sind, teils in Personalunion, ihre Figuren. Diese Leute kommen aus ganz verschiedenen Schichten, sind aber alle in Unfreiheit und psychischem Verfall vereint. Aus dem Gefängnis der Verhältnisse und der eigenen Süchte kommt hier keiner raus.

Feind- und Freundbilder in Gotham City

Sheriff Biff, der Möchtergern-Batman (Mohamed Achour), kocht vor Wut, weil Susan Russell, die Bürgermeisterin von Gotham City (Anne Haug), ganz plötzlich eine Amnestie für Kleindealer erlässt. So kommt ausgerechnet Harry Myers frei, Biffs Leib- und Magen-Schurke, den er gerade nach jahrelanger Arbeit hinter Gitter gebracht hat. Susan, die Bürgermeisterin, ist notorisch gestresst und übellaunig, kompensiert den beruflichen Overkill aber heimlich als Sex-Sadistin. Susans schwächlicher Mann Alfred (Julian Hackenberg) verlor seine Stelle als Lehrer, weil er sich für einen Augenblick vergaß und eine 11-Jährige betatschte, simuliert aber seither ein geregeltes Arbeitsleben und wird darüber zum Junkie.

Desweiteren treten auf: eine vom Ehrgeiz zerfressene Biochemikerin, die an einem "Reset Serum" forscht, einem revolutionieren Mittelchen, das alle persönlichen Macken und Negativ-Dispositionen auslöschen und damit eine glücklichere Gesellschaft hervor bringen soll; ein zynischer Psychotherapeut, der sich dumm verdient, indem er der halbe Stadt die gleichen billigen Motivationskassetten und Psychopillen verschreibt; und ein drogensüchtiges Hausmädchen, das in die Dame des Hauses verknallt ist, sich aber nicht traut und schließlich, im herbei plumpsenden Happy End, zur Schlüsselfigur wird.

Beschränkte Möglichkeiten in einer entfesselten Welt

"Gotham City I" ist die rabenschwarze Vision einer gesellschaftlichen Apokalypse, erzählt mit den Mitteln der Popkultur, also trashig, dirty und komisch, bevölkert mit stereotypen Gestalten, die aus einem amerikanischen B-Movie entlaufen sein könnten. Die Dialoge sind schnell und an Pointen interessiert. Ein spezieller, etwas hörspielartiger Witz ergibt sich aus einer Erzähltechnik mit doppeltem Voice-Over: Zwischen den Szenen spricht ein Erzähler mit rauchiger Stimme und bringt so die Handlung ums nächste Eck, in den Szenen treten die Figuren immer wieder hervor und kommentieren sich quasi mit ihrer inneren Stimme selber.

Um die Handlung geht es eigentlich nicht. Sie verwickelt und verheddert sich abstrus, ein wenig wie in Bodo Kirchhoffs "Schundroman", der das Plottmachen und die Spannungsproduktion der Trivialliteratur als Nullnummer vorführt. Der Kern ist moralisch, der Sound amoralisch. Erzählt wird von den beschränkten Möglichkeiten des Individuums und von pervertierter Freiheit in einer entfesselten Welt, wobei die Autorin ihrer schrägen Fantasie viel Auslauf gewährt und ihre Phrasendreschmaschine hübsch auf Touren bringt. Das funktioniert im Prinzip ganz gut, wird in einer ausufernder Handlung aber erschöpfend durchexerziert. Der Plot verschüttet mehr und mehr die Abgründe und wächst der Autorin förmlich über den Kopf. Das lehrstückhafte Happy End nach über drei Stunden ist tatsächlich eine Erlösung.

Von der Fiktion beherrscht

Markus Heinzelmann inszeniert nach dem Motto: wenn schon, denn schon! Er bekennt sich klar zum boulevardesken Gehalt des Textes, zeigt ein trashiges, dunkelkomisches Großstadtmärchen mit Figuren, die scharf als Karikaturen und Abziehbilder angelegten sind. Das Interessante an diesem Regiekonzept ist, dass wir eine Welt vor Augen haben, die gleichsam von der Fiktion absorbiert oder, bildlicher gesagt, übertölpelt wurde und nur noch deren habituelle und sprachliche Formen reproduziert. Das behält man gerne in Erinnerung von dieser Uraufführung, ebenso das Schwerstarbeit leistende Ensemble, das die Klippen dieses schrulligen Endspiels bemerkenswert sicher meistert.

 

Gotham City I - das Stück. Eine Stadt sucht ihren Helden (UA)
von Rebekka Kricheldorf
Regie: Markus Heinzelmann, Bühne: Gregor Wickert, Kostüme: Gwendolyn Bahr, Musik: Filip Hiemann, Oliver Jahn, Dramaturgie: Christin Bahnert. Mit: Mohamed Achour, Julian Hackenberg, Anne Haug, Zoe Hutmacher, Ralph Jung, Saskia Taeger, Sebastian Thiers.

www.theaterhaus-jena.de

 

Mehr zu Rebekka Kricheldorf im nachtkritik-Lexikon.

 


Kritikenrundschau

"Hätte Regisseur Markus Heinzelmann das Stück nun etwas gestrafft, es hätte ein überdrehter und kurzweiliger Abend werden können", findet Franziska Nössig in der Thüringischen Landeszeitung (15.10.2010). "Doch weil er keine Pointe auslässt, selbst jedes Zur-Seite-Sprechen der Figuren ins Mikrofon bis zum Letzten durchexerziert, ist der Abend vor allem: lang." Viel Zeit verschlänge die die Typisierung der Figuren, doch der Spaß werde "spätestens nach der Pause ausgebremst, als sich die Gags wiederholen und nur schleppend der Katastrophe nähern."

Angelika Bohn zeigt sich in der Ostthüringischen Zeitung (16.10.2010) begeisterer davon, dass Heinzelmann die "von Krichelhof schon überzeichneten Figuren" weiter ins Abstruse treibe: "Nur noch ihre Süchte und die vergeblichen Versuche von ihnen loszukommen, hält 'Gotham City' zusammen." Heinzelmann ertränke seine Inszenierung nicht in Spaß und Blödelei: "Keiner kann übersehen, dass Gotham City überall zu finden ist. Selbst im braven Jena, wo die Zuschauer wissend lachen."

In ihrem weit ausholenden Huldigungsartikel auf Rebekka Kricheldorf geht Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (29.10.2010) auch auf die Uraufführung von "Gotham City I" in Jena ein, "das Markus Heinzelmann in so gekonnter wie gebotener Trash- und Comic-Manier uraufgeführt hat". Es sei "eine große Lust, den Schauspielern am Theaterhaus Jena bei ihrer superironischen, gallig-knalligen, durchaus auch geistreichen Umsetzung" zuzusehen. Kricheldorf bediene sich für ihren Text bei der Pop- und Comic-Kultur mit ihren modernen Heldenmythen, "vom Film noir über Comic-Stoffe wie Batman oder 'Sin City' bis hin zu den Filmen von Quentin Tarantino hemmungslos aus allen sachdienlichen Quellen und setzt versiert entsprechende Stilmittel wie Voice-over ein". Ihr Fazit: "Wenn die gesamte Reihe so cool und abgefahren ist wie Teil I, kann man nur gratulieren."

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