Die Gefahr unter der Oberfläche

von Willibald Spatz

München, 15. Oktober 2010. Es sind kurze Momente, in denen Entscheidungen fallen, die das Leben in eine andere Richtung laufen lassen - Richtung Untergang oder Richtung Erfolg und Sieg. Bei Hermann in Kleists "Hermannsschlacht" darf man als Leser nie sicher wissen, ob man Zeuge dieser Momente wird oder nur noch Zeuge ihrer Folgen. Bei Peter Kurths Verkörperung von Hermann in Armin Petras' Inszenierung wird die Angelegenheit noch dunkler: Da hockt der Hermann über weite Strecken mit sich beschäftigt am Rand der Bühne und des Geschehens. Er überlässt es sogar einem anderen Fürsten, die Schlachtzüge fürs Finale zu erklären. Überlegt er? Sieht er seinem großen Plan bei der Vollendung zu? Oder hat er keine Ahnung, was da um ihn herum passiert? Ist er überfordert? Man soll es nicht erfahren.

Schicke Geschenke der Römer

Die Lage lädt nun wahrlich nicht zum Tauschen ein: Da spazieren Römer durchs eigene Cherusker- Volk, führen sich fein auf, schenken den Leuten Schuhe und schicke Sachen aus der Metropole und verführen die Frauen, speziell Thusnelda, Hermanns Gattin. Das könnte einerseits politisch verwertbar sein. Man weiß es nicht, am Ende könnte man, sollte man kooperieren, König der Germanen werden, nachdem die Römer gewonnen haben. Andererseits ist es ja immer noch die eigene Frau, die der Fremde anfasst.

Edmund Telgenkämper und Wiebke Puls praktizieren Hausmusik, er die Klarinette, sie die Violine, zusammen sind sie unendlich schmierig; dazu tanzt man hier am besten ekstatisch und in Unterhosen - unendlich lächerlich. Und das ist einer jener Momente, denen Hermann zuschaut, die er nur zaghaft zu unterbrechen wagt und die in ihm den Entschluss auslösen könnten, diese Römer endgültig in die Pfanne zu hauen.

Im Schleichgang über Katrins Bracks Schaumstoffgebirge

Die Römer tragen Anzug und sie sind außer Edmund Telgenkämper als Legat Ventidius vor allem die vier Herren vom Modern String Quartet. Auch die musizieren, spielen den Soundtrack zum Stück live auf der Bühne und bilden optisch und auch in ihrem Handeln das exakte Gegenteil der Germanen. Die sind einfache Proletarier, schlicht in blassen Farben angezogen, barfuß; sie bewegen sich sicher schleichend über das Gebirge aus Schaumstoffblöcken, die Katrin Bracks Bühnenbild dominieren. Da tun sich die Römer schwerer im unsicheren Gelände, klar, dass sie hier geschlagen werden, wenn die Einheimischen über sie herfallen.

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© Julian Röder: Peter Kurth als Hermann

Eine Inszenierung der "Hermannsschlacht" ist immer ein wenig brenzlig, weil Kleist das Stück zwar als Anspielung auf die napoleonischen Kriege geschrieben hat, und die Cherusker für die Preußen und die ihnen Verbündeten Sueven damals für die Österreicher stehen sollten, es als großes Germanen-Befreiungsstück seinen Karrierehöhepunkt aber in der Zeit von 1933 bis 1945 hatte.

Am Ende, nach dem Sieg, wird im Text viel "Heil" gerufen. In den Kammerspielen wird kein "Heil" gerufen, da kommen die Siegreichen in Unterhosen hinter dem Schaumstoff hervor, die Männer tragen Perücken, sehen wild aus damit. Sie stecken ihre langen Schwerter Hermann hinten in die Hose, so kann er sich fürs Schlussbild nur schwer von der Bühne schleppen. Der Pathosverdacht ist weitläufig ausgeräumt. Diese Helden sind albern, ihr Streben ist leer, sie kämpfen bis aufs Blut um das Grau und die Belanglosigkeit ihres Daseins. Ganz ungefährlich sind sie trotzdem nicht. Zuerst wussten sie ja nicht, dass sie zusammengehören, erst der gemeinsame Feind hat sie zusammengeschweißt.

Echte Spucke, echte Lagerbildung

Die Gemeinschaft braucht ein Initiationserlebnis, das aus einer kollektiven Vergewaltigung besteht. Auf der Bühne sieht das so aus, dass sich drei Herren nackt auf das ebenfalls nackte Ensemble-Neumitglied Katharina Hackhausen legen; die Herren dürfen aufstehen und sich anziehen, die Frau muss liegen bleiben, sie wird echt, nicht im Spiel, bespuckt, beim Aufstehen sieht man den Speichel auf ihrem Rücken glänzen - jetzt ist sie auch dabei, jetzt war sie mal nackt vor Publikum und hat Unangenehmes mit sich anstellen lassen.

Dass aus dem Unternehmen insgesamt ein gelungener Abend wird, liegt daran, dass Armin Petras trotz aller Distanzierungsunterfangen zu den Figuren den Autor Kleist sehr ernst nimmt. Er steht zu der Sprache und zum Stück. Er stellt die Lager plakativ auf, lässt ihre jeweiligen Insassen nah am Klischee vom dumpfen Wilden respektive glattgebügelten Schnösel agieren, macht aber auch klar, dass das nur Oberflächen sind; darunter verbergen sich Abgründe, die Fähigkeit, jeden hinzumetzeln, wenn einen nur jemand an der richtigen Stelle reizt. Die Einfältigen sind die, vor denen man am meisten Angst haben muss.

 

Die Hermannsschlacht
von Heinrich von Kleist
Regie: Armin Petras, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Valerie von Stillfried, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Licht: Stephan Mariani, Dramaturgie: Malte Jelden.
Mit: Katharina Hackhausen, Horst Kotterba, Peter Kurth, Modern String Quartet, Lasse Myhr, Jochen Noch, Wiebke Puls, Edmund Telgenkämper, Michael Tregor.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Armin Petras gibt es im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Für Cornelie Ueding vom Deutschlandfunk (Kultur heute, 16.10.2010) lohnt allein der Protagonist den Abend: "Bauernschlau, dummdreist, abgefuckt - so ganz peu à peu lässt er die Katze seiner Revolte aus dem Sack des Opportunismus." Aus dem "etwas ungelenken Provinzpolitiker wird ein geschickter Vernebelungsstratege, ein Meister des politischen Kalküls". Peter Kurth spiele mit "großer Virtuosität und trockenem Understatement" und verstehe es "meisterlich, immer wieder den etwas harmlosen Kumpel zu spielen". "Von wegen deutsche Leitkultur hier, korrupte Fremdkultur dort. Bisweilen ist man geneigt, von deutscher Durchtriebenheit und römischer Naivität zu sprechen." Auch Wiebke Pulse liefere als Thusnelda "ein Meisterstück der emotionalen Ambivalenz" ab. Petras erspiele hier "nichts weniger als, hochaktuell, den Einsturz gängiger Klischees vom Eigenen und vom Fremden". Seine Inszenierung werde "zum artistischen Gegensatz zu jenen ideologisch hoch aufgeladenen Clash-of-Culture-Mythen, die den Texten von Kleist und Grabbe zeitbedingt noch eingeschrieben waren". Wenn "vollmundige Schlachtpläne und militärische Befehle" wie ratlos improvisiert würden, sei das "von umwerfender Komik". Dazu virtuoses Ensemblespiel und live gespielte Salonmusik, "schrill und verstörend".

In der Frankfurter Allgemeinen (18.10.2010) kanzelt Gerhard Stadelmaier das Petras'sche Unternehmen in einer seiner berüchtigten Kurzkritiken ab. Bei Kleist gehe es "ums Römervernichten, teutoburgerseits", womit 1808 freilich Napoleon gemeint gewesen sei. Seither laute die Frage an alle Neuerspieler: "Wer sind eure Römer?" Der "Berliner Simpelspielvogt" Petras stelle sich aber nicht einmal dieser "Ausländerfrage", die für ihn "nur eine Kleiderfrage" sei: ein Römerboss in Unterhose, "noch unterhosigere Germanen", ein "barfüßiger Kleinhasszüchterverein unter der wampigen Wurstigkeitsfuchtel eines Vorsitzenden namens Hermann". Es sei "die Zwangsunterhose", die hier alle zu Barbaren mache. Aha.

Egbert Tholl verwendet in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2010) deutlich mehr Zeilen. Die unter einem Männerkörperhaufen zum Vorschein kommende Germanin Hally sei hier Opfer "ihrer eigenen Leute". Und wie Lasse Myhr als Eginhardt über ihrer Leiche stumme Verzweifelung spiele, "das erzählt alles über den Schmerz in Zeiten des Krieges" – "die stärkste Szene" des Abends. Petras erzähle "ziemlich geradlinig, mit welchen Intrigen Hermann die deutschen Stämme eint", "alles sehr gut und objektiv richtig". Und da er "ein Faible für den Witz in Zeiten des Krieges hat, geht es mitunter auch lustig zu". Tholl beobachtet bei den Germanen "abenteuerliche Physiognomien", sie seien "rachitisch dünn oder haben dicke Wampen, die sie unbekleidet über die schräge Rampe in den Zuschauerraum halten", "stehen mit Schuhen auf Kriegsfuß, elegante Gastgeschenke der Römer bereiten Kopfzerbrechen". Doch Petras wolle die Germanen "nicht bloßstellen, auch wenn er es partiell tut". Er interessiere sich einerseits dafür, "wie Hermann seine Gattin missbraucht" (wäre Peter Kurth nicht "vollauf damit beschäftigt, einen Schauspieler zu spielen, der eine Figur spielt, die überhaupt keine Lust auf Krieg hat, das Eheleben zwischen ihm und der überlebensgroßen Wiebke Puls wäre sehr spannend"). Andererseits fokussiere Petras auf Hermanns Propaganda, durch die jede römische Tat "mit Worten zum bizarren Gräuel vergrößert" werde.

Wer ist dieser Hermann?, fragt man sich im Münchner Merkur (18.10.2010). Eine "Couch-Potato", ein "tumber Tor", ein "politischer Agitator, der mit allen Tricks versucht, 'Römerhass' zu entfachen"? "Kriegstreiber oder Getriebener?" "Ein Held wider Willen (...) oder ein vor Wut blinder Egomane"? "Führer oder Verführter?" Kurths zeichne den Hermann "derart facettenreich", "dass er nicht zu fassen ist" und "allen Vereinnahmungsversuchen" entzogen werde. Packend auch Wiebke Puls als Thusnelda. Grabbes Monologe erlaubten "eine zusätzliche Innenschau der Figuren". Petras gelinge "ein spannender, dramaturgisch dichter Abend", der sich darauf konzentriere "zu untersuchen, wie Krieg gemacht wird". Besonders eindringlich gelängen die Szenen, "in denen Hermann seine Getreuen anstiftet, die Berichte über Kriegsverbrechen der Römer zu übertreiben und zu verbreiten. Nebel hüllt die Bühne ein, als dieser Propaganda-Feldzug startet." Die Hally-Szene sei "die schmerzhafteste, bitterste, beste Szene des Abends, der ansonsten viel über die Mechanismen von Kriegen verrät, ohne jedoch Gewalt zu zeigen". Gerade das "Spiel ohne Worte" (z.B. das Klettern über Bühnen-Schaumstoff-Quader) zeichne die Inszenierung aus.

Auf Welt Online (18.10..2010, 19:15 h) schreibt Jan Küveler: Spätestens zur "Halbzeit" von Armin Petras' "furioser" Inszenierung wähne man sich "in Assoziationsgewittern". Der Abend irrlichtere zwischen Ernst Jünger und der aktuellen Integrationsdebatte, wer wolle, könne "Stuttgart 21 erspähen oder Hartz IV". Küveler erinnert an Petras' ersten Hermannstreich vor 15 Jahren in Chemnitz, wo auch schon Peter Kurth die Titelfigur gespielt hatte. Jetzt in München stiert diese "trübe Tasse dumpf in den Tag, während seine Tussi Thusnelda mit Ventidius flirtet, dem römischen Schleimer in Smoking und Prada-Slippern: Scheinheilig lässt er Thuschen gewähren und Hyper-Ventidius vor Verknalltheit hyperventilieren." Ob das noch eine "Hartz-IV-Schmonzette" sei? Oder doch "die Watsche für ein Jahrhundert Patrioten-Schmus"?

 

Kommentare  
Hermannsschlacht, München: Regie nimmt Text ernst, hilft aber nichts
Seit wann ist denn ein Abend gelungen, nur weil man den Autor sehr ernst nimmt?
Die Inszenierung läuft eigentlich darauf hinaus, eine Art Anti-Herrmanmythos zu schaffen. Petras zeigt, dass das Stück, das von den Nazis missbraucht worden ist, genausogut als Vehikel benutzt werden kann, die andere deutsche Seite zu zeigen: Die alles auslösende Vergewaltigung wird gar nicht wie im Stück von den Römern begangen, sondern von den Germanen selbst, und dann propagandistisch ausgewertet. Und selbst den Brief, der bezeugen soll, dass der römische Feldherr seine Liebe zu Tusnelda nur vorgespielt hat, um sie zu benutzen, wurde von Herrmann höchstpersönlich gefälscht.
Durch die gezielten, kleinen Eingriffe steht der große Herrmann in einem ganz anderen deutschen Licht:
Eine "falsche" Vergewaltigung (siehe Überfall auf den Sender Gleiwitz) ermöglicht erst den gemeinsamen Krieg. Und geschickte Lügen und Propaganda bringen alle bishin zur eigenen Frau dazu, nach der eigenen Pfeife zu tanzen. Dann muss man sich nicht mal selbst die Finger schmutzig machen, sondern kann die anderen machen lassen und zuschauen.
Schön und gut die Idee, mit der Herrmannsschlacht den Deutschland-Mythos umgekehrt, entmythifizierend und realitätsgetreuer zu erzählen. Aber aus Kopf-Ideen wird noch lang kein gutes Theater. Der Plot ist so wenig erzählenswert, dass man ihn gar nicht ernst nehmen kann; gezwungenermaßen ist da viel Lächerliches. Somit entsteht eine merkwürdige Differenz: Petras hat zwar einen ernst gemeinten Gedanken, aber nur schwachsinnigen Inhalt, um ihn zu erzählen. Somit wird das Gedankengerüst nur mit uninteressanten Pausenclownerien gefüllt, ein bisschen Ensembleschaulaufen, ein bisschen Kunstnebel ins Gesicht, ein bisschen Schaumstoffwürfen aufschlichten. Umsetzung nicht gelungen.
Hermannschlacht, München: lieber gescheiterter Versuch als Edelboulevard
@ Adalbert
Na wenn das tatsächlich der Clou an der Sache ist und der Rezensent es nicht mal gemerkt hat, scheint das dann wohl doch ein büschen dünne zu sein und Petras hat in seinem Interview in der Berliner Zeitung den Mund eine wenig voll genommen. Trotzdem hätte ich gestern lieber in den Kammerspielen gesessen und einem gescheiterten Versuch beigewohnt als im Edelboulevard am DT mit glänzenden Schauspielern.
Hermannschlacht, München: Verschiedenes
Nun berechtigt mich allein der Vorname, meine (Laien)kritik hier los zu werden: Ich also war in dem Versuch der "Herrmannsschlacht" live, habe unvoreingenommen versucht zu nehmen, was ich da vorgesetzt bekomme. Habe "Buhs" und "Bravos" gehört, und auch genauso empfunden. Buh für die in meinen Augen unnötige Nacktheit, die der Männer im Dunkeln, die der Frau im Licht; Bravo für Wiebke Puls, weil ich sie sehr mag und sie mir auch wieder gefallen hat. Zu Nationalstolz bin ich nicht gerührt, die Interpretation war in manchem zweifelsohne unterhaltsam, wenn auch etwas dick aufgetragen. Ein Wort zum gestrigen Publikum: Knapp, zu knapp, zu spät zu kommen, zwei laut klingenlnde Handys hatte ich noch nicht bisher, auch nicht in den Kammerspielen. Und ich finde es auch keinen guten Stil.
Hermannschlacht, München: Im TV kann man umschalten
Jaja, stimmt, völlig unnötig, die Schauspieler bei einer Vergewaltigungs-Szene nackt auftreten zu lassen. Wer vergewaltigt schon nackt? Wäre doch viel angemessener, wenn sie da gut angezogen mit Kuscheltieren auf dem Arm herumgelegen wären. Das hätte man uns nicht antun müssen, im Fernsehen kann man bei sowas wenigstens umschalten.
Hermannsschlacht, Berlin: alle Werke Kleists am Gorki
Sehr geehrter Stefan,
Sie werden, wenn Sie wollen, die Inszenierung in Berlin sehen können. A. Petras plant alle dramatischen Werke Kleists, am MGT in diesem Jahr zu zeigen bzw. zu inszenieren.
"Die Hermannsschlacht" wird auf jeden Fall nach Berlin kommen. Und dann können Sie sich davon überzeugen, ob diese Inszenierung ein gescheiterter Versuch ist oder, wie ich finde, nicht.
In jedem Fall wünsche ich Ihnen viel Vergnügen mit wunderbaren Schauspielern, denn sie vermögen es inzwischen locker in Petras' sehr Ernst zu nehmendem Gedankengerüst herumzuklettern und weit mehr als nur "Pausenclownerien" zu zeigen.
Hermannsschlacht, München: Dank für den Tipp
@ Eric Ender
Danke für den Tipp, ich habe schon davon gelesen. Es läuft dann auch Petras Inszenierung Krieg mit dem Guiskard von Kleist, die ich letztes Jahr schon in München gesehen habe.
Was noch läuft steht hier rechts im Button vom Goetheinstitut unter Die Feuerprobe – zum 200. Todestag Heinrich von Kleists.
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