Schaubühne statt Sprechtheater

von Kai Bremer

Osnabrück, 15. Oktober 2010. Auf dem großen Holztisch sortiert das Mündel den Apfel, die beiden Stifte und sein Notizbuch. Dann auch die Zeitung, die der Vormund immer kleiner und kleiner gefaltet hat. Das Mündel sucht seine Ordnung. Der Vormund aber hat genug von dem manischen Verschieben und Neuordnen. Er wirft den aufgerollten Gartenschlauch auf die Anordnung, begräbt sie regelrecht darunter und wie zum Triumph setzt er dem Schlauchhügel seinen Hut auf. Keine Frage, wer der Herr im Haus ist.

Die Symbolik dieser Szene ist platt, angesichts ihrer brachialen Schlichtheit schon wieder komisch und man fragt sich, ob sie dem Stück, Peter Handkes "Das Mündel will Vormund sein" von 1969, gerecht wird. In der präzisen dramatischen Anordnung Handkes ist nicht die Rede davon, dass der Vormund den Schlauch auf die Sachen legt, sondern zu ihnen. Der Hut wird gar nicht erwähnt. Bei Handke fehlt die Symbolik, in Dominique Schnizers Osnabrücker Inszenierung ist sie offenbar.

Machtpolitik ist Symbolpolitik

Das ist gewagt. Handkes Stück zielt auf Verzicht des Symbolischen. Es soll nur das zu sehen sein, was ist. Keine tiefere Bedeutung. Das ist natürlich ein frommer Wunsch. Theater ohne Symbolik kann kaum gelingen. Zumal dann nicht, wenn auf der Bühne ein Machtverhältnis zu sehen ist und das Mündel alles dransetzt, Vormund zu werden. Machtpolitik ist Symbolpolitik. Handkes Handlungsanordnung konterkariert sein ästhetisches Anliegen. Schnizers Inszenierung ist so klug, diesem konzeptionellen Lapsus nicht auf den Leim zu gehen.

In einer anderen Hinsicht aber folgt Schnizer Handke ganz konsequent, nämlich in der Sprachlosigkeit des Stücks. Auch das ist nicht selbstverständlich. Akustische Untermalung ist inzwischen der Normalfall. Handke nennt sogar einen Titel: ein Stück von Country Joe and The Fish. Schnizer streicht die Untermalung und konzentriert die Aufführung damit auf das, was zu sehen ist. Schaubühne statt Sprechtheater.

Dem Abend fehlt jedes akustische Moment jenseits der Geräusche, die ein Stuhl macht, wenn er über den Bühnenboden geschoben wird, und ein Mensch, wenn er schnell um einen Tisch rennt. Das ist schlicht wie selten. Aber es hat die Mehrheit des Publikums überzeugt. Am Ende der Aufführung klatschen die Hörfähigen lange und die zahlreichen Gehörlosen im Publikum lassen die Hände auf Ohrenhöhe wackeln. Applaus zweisprachig.

Bemerkenswert puristisch

Doch ist es tatsächlich eine Leistung, mit ein paar klug gegen den Text gesetzten Ideen ein inzwischen kaum mehr gespieltes Drama für 90 Minuten unterhaltsam einzurichten und mit ein wenig Symbolik zu pointieren?

1969 war Claus Peymanns Uraufführung interessant, weil das Stück mit dem Verzicht auf das Sprechen einen Kontrapunkt setzte. Nach "Publikumsbeschimpfung" und "Kaspar" war klar, dass ein neuer Dramatiker-Stern für das Sprechtheater geboren war, dem man schon bald das bescheuerte Label "sprachgewaltig" anheften würde.

Mit "Das Mündel will Vormund sein" unterbrach Handke rabiat wie selbstbewusst sein Abarbeiten am Sprechen zu Gunsten des Schauens. Bemerkenswert ist, dass Schnizer diesen Grundimpuls gegen das Sprechen ohne Rücksicht auf die Physis seiner Schauspieler und die Ausdauer seines Publikums aufnimmt. Minutenlang sitzt das Mündel zu Beginn auf einem Stuhl und isst den ersten Apfel, beißt dann in den zweiten. Ganz so wie es Handke fordert.

Das wirkt schnell ernüchternd. Alles ist weitgehend so eingerichtet, wie es Handke sich einst erdacht hat. Nur ein paar Kleinigkeiten sind aktualisiert. Das Mündel (Dominik Lindhorst) trägt keine blaue Leinenhose, sondern nun einen grünen Overall und ein rotes Basecap. Der Vormund (Jan Schreiber ) hat zwar noch Gummistiefel an, doch sind die nicht mehr so lehmig wie 1969. Die braune Cord-Hose und der dunkle Woll-Zipper über dem blauen Hemd machen den Kerl gänzlich unspektakulär. Dann malt der Vormund mit Kreide eine Tür an die bewegliche hellgraue Rückwand, auch das: unspektakulär.

Mehr erkennen als zu sehen ist

Doch auf diese Weise kehren Dominique Schnizer und seine Ausstatterin Christin Treunert die Symbolpolitik des Stücks um. Schnizer und Teunert verweigern sich Handkes Illusion, dass nur das zu sehen ist, was ist, und bekennen sich zur Abstraktion. Die Inszenierung gibt damit eine wichtige Dimension des Stücks auf: seine Auseinandersetzung mit dem Volkstheater und seine Sympathie für die Schlichten. Aber ist das schlimm?

1969 konnten Typen wie das Mündel noch davon träumen, Vormund zu werden. Handke behauptet nicht, dass das gelingen kann. Aber er tut so, als wäre etwas gewonnen, wenn man einen Theaterabend lang sein redliches Bemühen ganz und gar entblößt von Symbolpolitik verfolgen würde. Gut vierzig Jahre später hat Schnizer dieser mitleidigen Sympathie den Garaus gemacht.

 

Das Mündel will Vormund sein
von Peter Handke
Regie: Dominique Schnizer, Bühne und Kostüme: Christin Treunert.
Mit: Dominik Lindhorst, Jan Schreiber.

www.theater-osnabrueck.de

 

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Kritikenrundschau

Auch vierzig Jahre nach der Niederschrift funktioniere "Handkes Bruch mit den Konventionen", schreibt Daniel Benedict in der Neuen Osnabrücker Zeitung (18.10.2010). "Auf der Bühne nichts zu machen ist und bleibt ein Skandalon mit komischem Potenzial." Dabei sei der Stoff ernst. Und dass Handke "die Bühne in seinen Anweisungen als ländliche Arbeitsstätte skizziert und dennoch auf eine Geschichte und auf Individualität verzichtet, macht sein Werk zum Mittelding zwischen Volkstheater und Beckett." Zu "den Qualitäten des intelligenten und kurzweiligen Abends" zähle sein Humor, die Darsteller fassten mitunter "das absurde Theater als Komödie" auf. Und Dominique Schnizers "Blick auf die Vorlage bleibt lustig: Womöglich hat Handke geglaubt, mit einem Stück aus nichts als Regieanweisungen vor Streichungen gefeit zu sein. Weit gefehlt. Schnizer verzichtet auf Masken, auf die vorgeschriebene Musik und macht auch sonst, was er will. Selbst in einem stummen Stück hat die Regie das letzte Wort."

 

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