Ein kaputtes Feuerzeug rettet die Welt

von Hartmut Krug

Dessau, 15. Oktober 2010. Zwischen Straßenlaterne und beinlosem Klavier flüstert es "Sein oder Nichtsein", und der Mann, der dem hereinströmenden Publikum zugeschaut hat, schießt mit seiner schallgedämpften Pistole in den Souffleurkasten. Dann tritt dieser Verbrecher als dramaturgische Konzeptfigur an die Rampe und uns nahe: was ist ein Verbrechen, fragt er. Wie der Schauspieler Thorsten Köhler hier Zuschauer einzeln anspricht und anmacht und dabei das gewollte Ergebnis herausbekommt (Verbrechen ist relativ in unserer Zeit des Relativismus), das besitzt Witz und Souveränität.

Doch dann beginnt das "Spiel mit Menschen unserer Zeit", als das der Regie führende Dessauer Intendant André Bücker seine ehrgeizige "Doktor Mabuse"-Fassung montiert hat, und wir erleben ein zähes Spiel der Bedeutsamkeiten und Bedeutungen.

Rausch und Utopie, Wille und Macht, Baudelaire und Dr. No

Mit dem Spieler Dr. Mabuse suchten Norbert Jacques in seinem Roman (1919) und Fritz Lang in seinen beiden ersten Mabuse-Filmen (1922 und 1933 - einen dritten produzierte er 1960) das Lebensgefühl einer Zeit zu schildern, die von moralischer, gesellschaftlicher und politischer Desorientierung bestimmt schien. Mabuse, der gewissenlose Verbrecher, erobert die Frauen mit Hypnose und die Finanzmärkte mit Massensuggestion. Er will die Weltherrschaft, scheitert aber und wird wahnsinnig.

Gezeigt wird eine Gesellschaft, die ziellos auf ihren Untergang zudriftet. Was man irgendwie auch von unserer Zeit sagen kann. Also benutzt der Dessauer "Doktor Mabuse" die alten, oft veränderten Figuren in einer dramaturgischen Fleißarbeit und montiert immenses Material zu einer Spielfassung über Rausch und Utopie, Wille und Macht. Mit ein wenig Nietzsche, etwas Schopenhauer und viel Baudelaire (Die Blumen des Bösen), mit Thomas Morus und Campanella, mit natürlich Kracauer, Freud, Spengler, Hannah Arendt, Dr. No, dem Heiligen Sebastian und vielen weiteren Zitaten und Erklärfiguren wird unsere Zeit dem Publikum vorgeführt.

Was in den Menschen schlummert und ausbrechen kann, wird aber leider nicht aus den Theaterfiguren geholt oder in diese hinein gelegt, sondern mit philosophischen, soziologischen und psychologischen Texten belegt. Mabuse soll Verkörperung eines heutigen zerstörerischen Strebens nach immer mehr Reichtum, Lust und Macht sein.

Problem mit den Dimensionen

Wie Robert Borgmanns Leipziger Vatermord-Inszenierung (nach Arnolt Bronnen) kürzlich gehört Bückers "Dr. Mabuse" zu einer in Mode kommenden Art intellektuellen Basteltheaters, das dem Publikum vordenkt, statt es mit darstellerischer und sinnlicher Spielqualität zum Denken anzuregen. In Dessau sieht man einen unpräzisen, aber enorm ehrgeizigen Thesenrausch, geschüttelt und gerührt, wie es in der Aufführung heißt, der Menschen zwischen Desorientierung und Selbstzerstörung auf einem gedanklichen Flickenteppich aufstellt.

Die riesige Dessauer Bühne wird vor allem von leerem Raum bestimmt. Im Hintergrund dreht sich ein offenes Betongebäude als Wohnhalle und Spielhölle. Auf dem Dach eine von Flitterbändern umsäumte Art Duschkabine für Rausch und utopische Phantasien eines globalisierten Machttraums und -raums, im Hintergrund eine Projektionsfläche für Markt- und Börsendaten und gefilmte Bühnenaktionen in Großaufnahmen. Es gibt ein Sofa für Mabuse und private Dia- und Monologe, an einer Wand eine Reihe kleiner Videoscreens und an der Seite eine lange Showtreppe.

Viel Material, wenig Deutlichkeit, denn zwischen dieser unschönen und unpraktischen Konstruktion (Bühne Jan Steigert), die uns Aktionen und Menschen in die wuselige Unschärfe eines spielerischen Rumhängens fernrückt, und der Bühnenrampe, an der sich die Figuren präsentieren, verlieren wir die Schauspieler oft in einem von schlechter Lichtregie leer gelassenen großen Zwischenraum. Auf dieser Bühne stimmen die Dimensionen nicht, weshalb Video-Großaufnahmen (z.B. mit Mabuses bezwingendem blauen Augenpaar) die im Spiel fehlende psychische Spannung herstellen sollen.

Schlingernde Endzeitrevue

Gespielt wird fast zweieinhalb pausenlose Stunden vor allem laut und heftig, schließlich geht es um Leidenschaften. Es wird getobt, gebrüllt und gehampelt, und bei Szenen von Schicksalhaftigkeit und Todessüchtigkeit, kann, weil keine Fallhöhe mehr übrig ist, beides nur behauptet und aufgesagt, aber nicht gespielt werden. Das nicht sonderlich überzeugende Ensemble verliert sich schauspielerisch weitgehend im eher undifferenzierten Zitaten- und Bedeutungsrausch. Uwe Fischer gibt glücklicherweise keinen dämonischen Dr. Mabuse, bleibt aber allzu farblos.

Als jemand, der überall auftaucht und dabei immer derselbe und zugleich stets ein anderer sein könnte, verwandelt er sich nicht in andere Figuren, sondern kleidet sich immer nur anders. Susanne Hessel macht die Tänzerin und Nutte zu einer Art verzweifelter Soubrette, Katja Sieder weht als Gräfin, die das heimliche Spiel liebt, schön verloren durchs Geschehen, und Gerald Fiedler gibt den vom Staatsanwalt in der Vorlage zum Polizeikommissar gewordenen Gegenspieler Mabuses recht handfest.

Wo Siegfried Kracauer eine manipulierbare, vergnügungssüchtige Oberschicht beim Tanz auf dem Vulkan entdeckte, zeigt uns André Bücker ein Geschichts- und Gesellschaftspanorama als trübsinnig auf die totale Katastrophe zuschlingernde Endzeitrevue. Bei ihm siegt nicht das Gute über das Böse, sondern in Dessau endet der Totentanz mit einem Selbstmordattentäter, dessen Feuerzeug nicht funktioniert.


Doktor Mabuse (UA)
von André Bücker frei nach Motiven von Norbert Jacques und Fritz Lang
Regie: André Bücker, Bühne: Jan Steigert, Kostüme: Katja Schröpfer und Jan Steigert, Musik: Daniel Dohmeier, Video: Barbara Janotte, Dramaturgie: Maria Viktoria Linke.
Mit: Uwe Fischer, Thorsten Köhler, Gerald Fiedler, Susanne Hessel, Jan Kersjes, Katja Sieder, Stephan Korves, Matthieu Svetchine, Sebastian Müller-Stahl.

www.anhaltisches-theater.de

 

Mehr zu André Bücker: wir besprachen seine Uraufführung von Dietmar Daths Roman Waffenwetter in Mannheim.

 

Kritikenrundschau

Das Publikum werde in André Bückers "Doktor Mabuse"-Inszenierung nahezu pausenlos mit Bildern und Klängen "bombardiert", schreibt Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung (18.10.2010). Der Abend sei "eine Zumutung", funktioniere "nach dem Prinzip Überforderung". In Jan Steigerts "expressionistisch gerahmter Stadtlandschaft" würden "Worte auf Videos auf Musik gestapelt, Nervosität und Konzentrationsverlust sind Programm". Aber das sei schließlich auch die Methode des Manipulators Mabuse. Immer wieder mäandere "die eigentlich lineare Geschichte in abseitige Regionen" - und immer bestehe die "Gefahr, dass der Zuschauer aus der Bahn getragen wird". Manche Texte seien eher als weißes Rauschen zu verstehen, "als Träger von Informationen, die nicht zu entschlüsseln sind". Mabuse sei bie Uwe Fischer ein "überwach tänzelnder und hypnotisch begabter Verführer, der sich schließlich an der scheinbar schwächsten Beute die Zähne ausbeißt". Die Inszenierung funktioniere "im Idealfall als pausenloser Trip, als multimediale Druckbetankung der Sinne". Dafür müsse man in Kauf nehmen, dass sie "keine Psychologie kennt, sondern die Figuren archetypisch behauptet". Das Theater werde hier als Ort erlebbar, "der an Ängste rührt und am Ende keine Entwarnung gibt".

Helmut Rohm
schreibt in der Magdeburger Volksstimme (19.10.2010): Es sei dies kein "einfacher Abend" gewesen. André Bücker, so Rohm, sei es um Fragen gegangen: "Was ist ein Verbrechen? Wer sind die Verbrecher?" Und: "um die große Politik, um Banker-Gebaren, um Rauchen oder Nichtrauchen (...) auch um Manipulation". "Zwielichtig" seien die Spieler, "denen André Bücker per Videokamera zusätzlich direkt in die Gesichter sehen lässt". Skurril auch in den Kostüme. "Masken, Verwandlung (... ) Wer sind die? Immer wieder eine Frage an diesem Abend." - "Und wer ist Mabuse? Im Stück am ehesten der unbeherrschte, machtgierige, maßlose Verbrecher, Spieler, Trinker und Utopist ..." Bücker wolle mit seinem "heutigen Mabuse" hinterfragen, ob die "Katastrophe, die völlige Zerstörung der Systeme die einzige Chance auf einen Neuanfang für eine sich zunehmend selbst abschaffende Menschheit" sei. Vor allem das Publikum werde gefordert "vor dem philosophischen, auf die großen Fragen der Menschheit zielenden Ansatz".

In der Dessauer Johanniskirche hat Dirk Pilz die Aufführung von "Dr. Mabuse" in den Mittelpunkt seiner Theaterpredigt gestellt. Mehr darüber lesen Sie in einem Bericht des mz-web.de der Mitteldeutschen Zeitung (18.10.2010). "Pilz, im Hauptberuf Theaterkritiker (...) und Mitbegründer der Plattform nachtkritik.de", habe es verstanden "höchst konzentriert, sowohl der Inszenierung als auch den damit verbundenen theologischen Fragen gerecht zu werden". Er begann seine Predigt mit: "Das Böse lässt sich nicht auf einen Namen bringen" und habe die biblischen Geschichten nach der Darstellung des Bösen befragt. Über Luthers Bild vom Teufel sei er zu Thomas Manns "Doktor Faustus" und "Manns These, dass ohne den Teufel, den Verrückten und Verbrechern keine Kunst zu haben sei" gekommen. "Das Böse sei abstoßend und faszinierend zugleich." Der rauschhafte Theaterabend "Doktor Mabuse" sei ein Spiel im Spiel über das Spiel mit Menschen. Zum Glück gäbe es keine Schubkästen für Gut und Böse, seien die Figuren uneindeutig, "das gehört zu jener Zeit, die die unsere ist". Als "eminent politisch" habe Pilz die Inszenierung gelobt.

 

 

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