Wie Ratten im Labor

von Jördis Bachmann

Weimar, 16. Oktober 2010. Alle Deutschen sind Nazis – dieser Satz scheint nicht schlimmer zu sein als der Workshop, in dem er ausgesprochen wird. Damit endlich etwas in diesem Workshop passiert, etwas das nicht gleich wieder verdrängt wird, weil es einfach niemanden interessiert. Wenn was interessiert, dann höchstens die Kleine aus der Cafeteria.

Aber weder die Kleine aus der Cafeteria, noch der Workshop, der zunächst insiderisch zerredet wird, noch die Nazis sind Kernthemen im "Kluck Labor I", das im Kesselsaal des Weimarer E-Werks Premiere feierte, sondern nur Bestandteile eines Brainstormings, das sich im Laufe des Experiments immer weiter verdichtet.

Ein Experiment der Nabelschau

Der Außerhausautor des Deutschen Nationaltheaters Oliver Kluck hat keine Figuren entwickelt, sondern Schauspielern etwas in den Mund gelegt. Er hat eine Textfläche gespannt, aus der Regisseurin Claudia Meyer mit dem Ensemble innerhalb von 14 Tagen ein Stück konstruierte. Wenig Zeit – Beschleunigung ist eine der Substanzen, die für das Gelingen des Experiments unerlässlich waren.

In seinem Labor mischt Kluck etwas, das sich mit sich selbst beschäftigt – mit dem Kulturbetrieb deutscher Theater, mit neurotischen Schauspielern, die sich selbst darstellen, weil alles auf der Bühne Selbstdarstellung ist. Da schleudert Jeanne Devos, die im Ballerinakleid Spitze tanzt, dem Publikum und ihren Kollegen wütend entgegen, dass sie einmal ganz groß werden wird, ein richtiger Star. Da reden auch die übrigen vier über sich selbst, das Leben als Schauspieler, über den Text, den sie sprechen sollen; sie rauchen Zigaretten, essen Bananen, weil sie sich manchmal wie dressierte Äffchen fühlen und sie singen gemeinsam.

Immer nur BahnCard 50

Kluck selbst wird während des Abends von den Schauspielern auf einer Art Hochsitz durch den alten Kesselsaal des E-Werkes gerollt, in dem das Publikum sitzt. Umgeben von Ventilen, Rohrleitungen und Metallleitern, die sie gleich zu beginn geräuschvoll abklopfen, wandern die Schauspieler und mit ihnen die Spielfläche im Verlauf des Experiments durch den Raum – und das Publikum wandert mit, zieht samt Papphockern von rechts nach links und von vorne nach hinten. Kluck verfolgt währenddessen die Umsetzung seines Werkes von oben wie der Forscher seine Ratten im Labor.

Was er von dort aus sah, hat ihm vermutlich gefallen: eine dynamische und schonungslose Betrachtung der Theaterwelt, die die Tragikomik hinterm Vorhang offenbart. Hier wird klargestellt wie viel Glamour tatsächlich im Theater steckt: "Wie sagte schon Maxim Gorki, letztes Jahr, wie immer angesoffen, bei einer Premierenfeier: je prächtiger das Theater, desto mehr Armut hinter seinen Mauern." So zumindest schreibt Kluck in einem Brief an den Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters, Thomas Schmidt, der ihm für seine Reise von Berlin in die "Provinz" Weimar, die ihm ohnehin nicht schmeckt, nur den Bahncard-50-Preis erstatten will.

Der große Knall kommt bestimmt

Und Bahnfahren an sich mit diesem "Elend aus Rentnerreisegruppen, Kleinkindern, die sich scheinbar selber erziehen, Sockengestinke, tuberkuloseartiges Aushusten und mobiltelefonierende Geschäftsleute" sei ja schon eine psychische und physische Belastung – vor allem für Dramaturgen. Der Preis müsse also voll erstattet werden. Über einen Polylux wird der Brief an die Wand des Kesselsaals geworfen und von den Schauspielern gelesen. Alles verschwimmt: Fiktion und Realität berühren sich und bleiben doch auf Distanz. Vielleicht ist es diese Nähe zum eigenen, realen Leben, die Jeanne Devos, Elke Wieditz, Nico Delpy, Christoph Heckel und Hagen Ritschel trotz der kurzen Probezeit so sicher werden ließ.

In Cowboy-Hüten und -Stiefeln bringen sie Klucks Textfragmente und Gedankenfetzen zum Fließen. Nach einer Stunde im Kluck Labor kommt dann – wie es sich für ein Experiment gehört – der große Knall: Da geht es um kleine, dunkle Wohnungen in Berlin, um den letzten Urlaub, der schon lange zurück liegt und immer wieder um Sex – klar. Dabei rennen die Fünf im Kreis, immer schneller, bis sie sich am Ende gegenseitig erschießen.

Auch wenn das Experiment so nicht wiederholbar ist, da die kurze Probezeit ein wichtiger Teil des Konzepts war – es wird nicht der letzte Knall gewesen sein, weil noch drei Labore folgen. Alle auf die gleiche Art, aber mit verschiedenen Schauspielern. Ob und wie sie im Zusammenhang stehen werden, wird sich erst nach dem Kluck Labor IV zeigen.

Kluck Labor I
von Oliver Kluck
Regie: Claudia Meyer, Bühne: Nicola Antonia Schmid, Kostüme: Tanja-Seri Eickert, Video: Bahadir Hamdemir.
Mit: Jeanne Devos, Elke Wieditz, Nico Delpy, Christoph Heckel, Hagen Ritschel, Oliver Kluck.

www.nationaltheater-weimar.de


Mehr zu Oliver Kluck? Wir besprachen die Uraufführungen seiner Stücke Das Prinzip Meese und Warteraum Zukunft, für das er den Kleistförderpreis erhielt.


Kritikenrundschau

Hartmut Krug hat für Deutschlandradio (16.10.2010) "einen unterhaltsam selbstreflexiven Theaterabend" gesehen, "der das theatrale Changieren zwischen Realität und Fiktion, Da-Sein und Vor-Machen mit Witz thematisiert. Die Entstehung und Einstudierung des Textes sind ein Experiment, das einen sympathischen Abend über verwirrte Lebensgefühle hervorgebracht hat." Wobei das Ganze trotzdem "keine große Dramatik, keine wahnsinnig spannende Aufführung" ergebe.


"Die Vorlage für diese sogenannte Stückentwicklung im e-werk erwies sich als derart schmal und unterbelichtet", meint Wolfgang Hirsch in der Thüringischen Landeszeitung (18.10.2010), "dass die bestens Bernhard-erprobte Regisseurin Claudia Meyer ihre Akteure so lange und immer wieder in variationsreich sich wiederholende Sprechetüden hineinstürzte, bis aus der kollektiven Suada bernhardinische Melodien hervorsprossen: Whow! Was aber wollte der uninspirierte Textflächeningenieur mit seinem al-fresko-Machwerk, das zwischen Alt-68er-WG-Palaver und gutmenschlichen Gemeinplätzchen, Weichspülsoziologie und Pseudo-Houellebecq-Attitüde assoziativ pendelte, bedeuten?" Den fünf Akteuren aber "sei samt Meyerin herzhaft gedankt für die ergötzliche Kostprobe ihrer Kunst, da sie mit zirzensischem Eifer bewiesen, wie, wenn man's versteht, sogar aus nichts etwas wird, sofern man sich müht".

 

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