Vom Häuten der Zwiebel

von Georg Kasch

Berlin, 18. Oktober 2010. Diese Seefahrt, die ist lustig. Weil da einer steuert, der sein Schiff vollkommen im Griff hat. Weil da einer mit jeder Geste, jedem Blick auf der Klaviatur seiner Rolle und der des Publikums spielt wie auf einem leichtgängigen Akkordeon. Weil da jemand seinen selbstmitleidigen, zwischen Größenwahnsinn und seelischem Dauerabsturz taumelnden Bühnencharakter pointiert auf die lächerliche Spitze treibt, ohne ihm seine Glaubwürdigkeit, seine Würde zu nehmen. Paul Schröder spielt den jungen Autor Anfang 30 in Nis-Momme Stockmanns "Kein Schiff wird kommen", der beim Versuch scheitert, schreibend den Markt zu befriedigen (ein "nachhaltiges Drama" soll's sein, über die Wende) und dabei auf sein eigenes Familiendrama stößt.

Kitschkrusten abkratzen

Uraufgeführt wurde dieser Text, mit dem Stockmann seinen frischen Ruhm als eines der heißesten dramatischen Talente zugleich problematisiert und festigt, im Februar in Stuttgart. Das Deutsche Theater Berlin hat nun - wieder einmal - die wenig glamouröse Aufgabe übernommen, in seiner Box ein aktuelles Stück nachzuinszenieren (bis Dezember sollen auch Oliver Klucks "Warteraum Zukunft" und Ewald Palmetshofers "hamlet ist tot" folgen).

Und erweist Stockmann damit nicht nur den großen Dienst von zusätzlichen Tantiemen. Sondern auch den eines kleinen großen Abends. Das liegt zum einen an Regisseur Frank Abt, der wie Stockmann keine Scheu vorm menschenfreundlichen Gefühleausloten und zugleich das Fingerspitzengefühl besitzt, sich bildende Kitschkrusten sofort abzukratzen. Behutsam häutet er den Text, nähert sich - anders als Annette Pullen bei der Uraufführung - den beiden autistischen Charakteren über Monologe, die den andern adressieren, mitdenken, aber eigentlich nur sich selbst meinen.

Autor selbzweit

Also spaltet sich der junge Autor in den (kleinen) Paul Schröder und den (großen) Elias Arens, die die Vater-Sohn-Bälle einander zuspielen, indem sie sie fallen lassen (auch die Mutter ist schon beiläufig im Bild, als stumme, mild lächelnde Akkordeonspielerin, die den ernst agitierenden Schröder einmal zwickend aus dem Konzept bringt, ein andermal mit ihrer melancholischen Quetschkommodenlustigkeit vor sich hertreibt). Also enthüllt auch Anne Ehrlichs Bühne erst allmählich Markwart Müller-Elmaus Vater, der im vergilbten siebziger-Jahre-Interieur hockt hinter einer milchigen Plane, verschwommen wie jene lichtfleckigen Fotos, von denen zu Beginn die Rede geht, und einer Schieferschindelwand, die in dem Moment krachend zu Boden fällt, als der junge Autor im Stück seinen Vater bittet: "Erzähl mir wie das war... mit Mama."

Der Vater verweigert sich, der Sohn schreibt das Drama vom Wahnsinnstod seiner Mutter selbst, schickt es dem Vater, der es laut liest - und hier, in der indirekten Form, scheint es für einen Moment so etwas wie ein Begegnung zu geben zwischen den beiden: Müller-Elmau, der sich störrisch durch das Skript kämpft, sich gegen jeden Satz zu sperren scheint und doch die Worte drängend zermahlt, wird einmal von Schröders Stimme überblendet. Während der Sohn sich an die letzte Begegnung mit der kranken Mutter erinnert, krümmt sich sein Vater stumm am Küchentisch.

Schröder!

Das Drama im Drama, hier ist's keine (Er-)Lösung im emotionalen Nahkampf, sondern nur eine weitere Schicht, die der Sohn auf der Suche nach dem eigenen Kern abträgt. Was bleibt, ist keine Essenz, keine Botschaft. Was bleibt, ist eine ebenenreiche Theater-Kunst, deren augenfälligstes Symbol der rote Samtvorhang ist, ein Fremdkörper auf dieser kleinen Bühne.

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Paul Schröder in "Kein Schiff wird kommen"
© Arno Declair

Wie ja auch Stockmanns Text ein Kunst-Stück ist, eines allerdings, das Paul Schröder erst erlebbar macht. Sein junger Schriftsteller ist ein atemlos Getriebener, der seinen Selbst- und Weltekel höchst virtuos und mit irrsinnig komischer Wut in den Raum schleudert. Er flirtet mit dem und steigt durchs Publikum, bricht und kittet seine Rollenform in einer beiläufigen Geschwindigkeit, so dass jede Verfremdung schon wieder Teil des zerquälten Charakters ist. Und trotz aller Lächerlichkeit dieses wütenden Toren, der sich selbst viel zu ernst nimmt und das Bild, das andere von ihm haben, evozieren Schröders lange, fixierende Blicke zwischen Schlafzimmerlidern und halb geöffnetem Mund eine Verlorenheit, für die man ihn sofort umarmen möchte.

 

Kein Schiff wird kommen
von Nis-Momme Stockmann
Regie: Frank Abt, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Katharina Kownatzki, Dramaturgie: Meike Schmitz.
Mit: Elias Arens, Silke Lange, Markwart Müller-Elmau, Paul Schröder.

www.deutschestheater.de

 

Mehr Film zum Text? Den Dramatiker Stockmann sprechen hören und sehen Sie in Matthias Weigels Ruhrpod aus dem Sommer 2010. Und hier gibt's ein ausführliches Dossier zum Stück, das für den Mülheimer Dramatikerpreis 2010 nominiert war.

 

Kritikenrundschau

Stockmanns Stücke "sind mitunter ja auch etwas kunstbemüht, denkt man", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (20.10.2010). "Frank Abts Inszenierung zeigt, dass man da falsch denkt." Es gebe kluge Textverschiebungen und Figurenverdopplungen. "Aber alles das wäre nichts ohne die Zauberkunst Paul Schröders: Sie ist schönstes Vorhangtheater und ihre Demontage zugleich."

Anders Peter Hans Göpfert beim rbb Kultur (19.10.2010): "In Stuttgart wirkte dieses Erinnerungsspiel mit seinen zeitlichen Sprüngen sehr lebhaft, dann aber auch wieder sehr behutsam. Schröder spielt dagegen unentwegt fortissimo." Zwar gewinne Schröder gerade mit den karikierenden Momenten die Aufmerksamkeit des Betrachters. Aber der "Schlussteil, in dem nun der Vater das Manuskript des Sohnes liest und vorliest und die familiäre Tragödie ausgebeutet findet, wirkt hier angeklebt und macht zugleich die Schwäche von Stockmanns Stück sichtbar. Auch über den Einsatz einer stummen Darstellerin, die sich mit ihrem Akkordeon stimmungshaft steigernd ins Spiel einmischt, könnte man geteilter Meinung sein."

"Die Inszenierung gewinnt sehr durch die unterschiedlichen Erzählebenen", befindet hingegen Birte Förster in der taz (20.10.2010): "In langen, teils poetisch anmutenden Monologen gibt der Sohn eindrucksvoll seine eigenen zwiespältigen Gedanken sowie Streitsituationen mit seinem Vater wieder." Dabei werde die Vaterfigur im Hintergrund zum Spiegelbild des eigenen inneren Konflikts.

Frank Abt habe "den anspruchsvollen, gedankenschweren, monologisch strukturierten Text" eine "erstaunliche Frische verliehen", meint Christoph Funke im Tagesspiegel (20.10.2010). "Es gelingt ihm, den hohen Anspruch des Autors, in die Tiefen geschichtlicher und familiärer Geschehnisse vorzudringen, mit sinnlicher Kraft auf die Bühne zu katapultieren." Paul Schröder zeige dabei "eine energische Lust, das Ringen um eine Position im Leben und beim Schreiben zu verdeutlichen".

 

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