Des Gutmenschen Nachtlied

von Esther Slevogt

Berlin, 23. Oktober 2010. Am Anfang tritt ein Mann im Frack auf. Das schulterlange Haar adrett gescheitelt. Irgendwie sieht er dem französischen Satiriker Honoré Daumier ähnlich. Allerdings muss er lange Zeit unter deutschen Biertrinkern gelebt haben. Betont unpathetisch und lapidar liest er dann auf seiner rot bevorhangten Kasperletribüne Karl Kraus' berühmte Einleitungssätze zu seinem Monumentaldrama über den Ersten Weltkrieg "Die letzten Tage der Menschheit" vor. Dass nämlich eine Aufführung dieses Dramas nach irdischer Zeitrechnung zehn Abende umfassen müsste und daher einem Marstheater zugedacht sei. Ohnehin könnten Theatergänger dieser Welt nicht standhalten.

Damals nämlich, im Jahr 1917, war das Theater formal noch nicht auf der Höhe, die Karl Kraus mit diesem etwa 800 Druckseiten umfassenden Dokumentarstück als erster erklommen hatte, in dem er die Gegenwartsgeräusche, -fetzen und - stimmen zu einem Hieronymus-Bosch-haften Tableau des Schreckens und des verlogenen Sprechens darüber gesampelt hat. Kraus wollte auch gar kein Theaterstück schreiben. Nur schien ihm dessen Prinzip der direkten Rede am geeignesten für seinen Zweck zu sein, kurze Straßen- und Schlachtszenen, Schnitte in Machtzentralen oder bürgerliche Wohnzimmer mit Textfetzen aus der Werbung, Zeitungsartikeln und klassischem Dichtungsgut zu verschneiden.

Sampler von Gegenwartsabfällen

So hat das genialische Ekelpaket aus Wien aus Versehen das Dokumentartheater erfunden. Ist nicht nur Ahn von Piscator und Brecht (was er sich natürlich verbeten hätte), sondern auch jüngerer Stimmenimitatoren und Sampler von Gegenwartsabfällen wie etwa Rainald Goetz, der am Ende des Abends im Berliner HAU auch zu Wort kommen wird. Aber fangen wir von vorne an.

Der Mann im Frack, der hier eingangs von seinem mit viel rotem Stoff zu einen enormen Kasperletheater verwandelten Gerüst zu uns spricht, ist Patrick Wengenroth. Auch er einer, der sich die Parole "Keine Dichtung, nur noch Wahrheit!" auf die Fahnen geschrieben hat und einst mit "Planet Porno" ein Theatertrash-Format erfand, das die medial verwurstete und unkenntlich gewordene Wirklichkeit in ihrer Fratzenhaftigkeit noch mal überdrehte und sie in Fetzen zu schrill-schrägen Theatershows zusammenbaute. Keine Frage, irgendwann musste er auf Karl Kraus als einen Verwandten in Geist und Methode stoßen.

Und dann begegnen wir ihnen natürlich auch recht schnell, den üblichen Wengenroth-Verdächtigen: Bart Simpson, Ernie, Bert und Muppet-Show-Charakteren. Dazu ein paar komische Männer mit Bundeswehrhemden und Stahlhelmen, die als Soldaten-Karikaturen den Abend über permanent Eulen nach Athen tragen. Weil wir ja längst wissen: Jawoll, Soldaten sind doof. Das ist sozusagen des Gutmenschen Nachtlied schlechthin. Bloß dass es sich bislang kaum als friedensfördernd bewiesen hat.

Das Sprechen vom Krieg

Des Weiteren treten auf zwei verfettete Hofräte, die Goethes Gedicht "Wanderers Nachtlied" kriegstauglich umdichten, die Kriegsreporterin Alice Schalek im netten Club-Blazer, die uns mit pädagogischem Sesamstrassen-Ton über den großen Gleichmacher und Demokratisierer Krieg belehrt und das große Sterben cool findet. Und dann ist da noch ein onanierender Seppel.

All diese bösen Kinderfernsehfiguren geben nun, rasant auf zwei Stunden herunter gekürzt, das vielstimmige Kraus-Drama als fieses Kasperle-Stück über das Sprechen vom Krieg. Zünftig werden manchmal Bilder aus dem Ersten Weltkrieg auf den Vorhang projiziert, was aber eher für historische Patina als für Erkenntnis sorgt. Zwischen den Akten spielt die Berliner Rockband "Die Türen" auf. Das ist immer wieder mal ganz lustig und unterhaltsam.

Man ahnt manchmal leise, Wengenroth wollte seinen Finger in die Wunde legen, dass diese ausufernde Sprachorgie, mit der Kraus den Zynismus moderner Kriege hier vorführt, in ihrer existenziellen feuilletonistischen Stahlgewitter-Wucht sich möglicherweise affirmativer zum Krieg und seinem medialen Echo verhält, als ihm selber je bewusst geworden ist. Hat Kraus' Drama doch immer wieder Künstler dazu gebracht, sich höchst aufgerüstet im Antikriegspathos zu suhlen, das letztlich seine Reize just der kritisierten Ästhetik des Krieges verdankt. 1999 zum Beispiel Hans Kresnik, der das Stück in einem Bremer Kriegsbunker in Szene setzte.

Kampf des Dichters mit den Windmühlen

Wengenroth nun setzt dialektisch wie brav auf betontes Antipathos. "Schau her, bleibt dumm!" krakeelen "Die Türen" und versprechen reinstes Wohlgefühl und existenzielle Thrills satt schon in der Popkultur. Am Ende reißt Wengenroth mit großer Geste die roten Vorhänge vom Gerüst. Nackt steht es jetzt da, das Theater. Aber dieser Abend irgendwie auch. Obendrauf noch mal Wengenroth, der aus Rainald Goetz' berühmtem Text "Subito" liest, mit dem sich der damals 29-Jährige 1983 in Klagenfurt verbal auf die literarische Bühne gebombt hatte (und zur Bekräftigung mit einer Rasierklinge seine Stirn aufschlitzte).

Kein Kaiser also, der als Gott die letzten Tage der Menschheit mit "Ich habe es nicht gewollt!" endet, nachdem die vermessenen Erdenwürmchen von einer außerplanetarischen Macht besiegt worden sind. Sondern ein Dichter, der mit Blut und wilden Worten in den heldenlosen achtziger Jahren gegen die Windmühlen des Großfeuilletons und ihre Papierheroen zu Felde zog. Aber wozu?



Die letzten Tage der Menschheit
von Karl Kraus
Regie: Patrick Wengenroth, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Ulrike Kuhlbrodt/ Lisa Kentner, Lichtdesign: Hans Leser, Dramaturgie: Georg Scharegg, Musik: Die Türen.
Mit: Vivien Mahler, Annika Meier, Verena Unbehaun, Knut Berger, Christoph Gawenda, Patrick Wengenroth, Burak Yigit. Musiker: Ramin Bijan, Chris Imler, Michael Mülhaus, Maurice Summen, Omega Jan.

www.hebbel-am-ufer.de

 

Mehr zu Patrick Wengenroth im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Die letzten Tage der Menschheit" von Patrick Wengenroth seien "ein zwischen Kabarett und Dada, Poptheater und Performance angesiedeltes Stück Kommentartheater aus lässig hingewürfelten Nummern", schreibt Dirk Pilz sowohl in der Berliner Zeitung als auch – verlegerischen Synergieeffekten geschuldet – in der Frankfurter Rundschau (jeweils 25.10.2010). "Alle gemeinsam suchen sie, uns davon zu überzeugen, woran Kraus keinen Zweifel ließ: Dass der Krieg neben Toten und Lügnern vor allem Menschen-Karikaturen produziert." Durch Wengenroths "grell komische Regiebrille" erscheine "die ganze Welt wie ein Karikaturenstadl, nicht nur die des Krieges. Es gibt bei ihm keine hehren Orte des Wahren, Schönen, Guten, sondern: Scherz, Satire, Ironie - und durchaus auch tiefere Bedeutung, nur dass Tiefe und Bedeutung immer als Zitat und Querverweis erscheinen, also wie ein Stück glitschige Seife durch die Szenen schlittern."

Patrick Wengenroth hätte "das Überdrama zerschlagen, die Handlung verdrehen, die Schauspielerinnen und Schauspieler sich wild austoben lassen können", meint Jörg Sundermeier in der tageszeitung (25.10.2010). Wengenroth nehme jedoch den Text ernst und ringe "dem Stück viele Gegenwartsbezüge ab", traue der Aktualität seines Stücks am Ende aber doch nicht. Wengenroth befürchte, "mit einem zu klassischen Theater durchzufallen, daher eröffnet er nicht nur das Stück mit Krausens Anmerkungen zum Stück, sondern tritt auch am Ende wieder auf, (...) um zuletzt Rainald Goetz' Text 'Subito' vorzutragen." Das "halbgare Ende" aber lasse "die Frage aufkommen, warum Wengenroth sich eigentlich dieses Dramas angenommen hat. Doch Wengenroth stellt seine Schwierigkeiten mit diesem Stück aus, es ist theaterinterne Reflektion, allerdings nicht L'art pour l'art. So kommt es zu gelungenen und weniger gelungenen Szenen. Wengenroth drängt sich schlussendlich sogar vor sein Ensemble. Das klingt egozentrisch. Doch es ist dem Thema, mit dessen Bewältigung schon Kraus Schwierigkeiten hatte, angemessen. Und also überhaupt nicht schlecht."

Ernie rufe "Endsieg", und dazu spiele die Band "Die Türen" live einige Hits, berichtet Patrick Wildermann in einer Kurzkritik im Tagesspiegel (25.10.2010). "Warum? Das steht in den Sternen."

 

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