Köpfe unter Fremdkontrolle

von Esther Boldt

Mannheim, 23. Oktober 2010. Agnes ist echt ein Klassekerl. Mit ihren Boots und engen Stretchjeans, den kinnlangen, dunklen Locken, die sich lässig-elegant in die Luft zwirbeln. Mit ihrer Reibeisenstimme, die bärbeißig-scharf, aber auch mädchenhaft-zärtlich sein kann. Sie wohnt zwar in einem Motelzimmer zur Dauermiete und weiß nicht, was "matriarchal" heißt, aber sie hat einen staubtrockenen Humor und auch dann noch einen kessen Spruch auf den Lippen, wenn ihr Exmann ihr gerade so eine reingehauen hat, dass sie zu Boden ging.

Außerdem trinkt und kokst sie vielleicht etwas viel, aber das stört Peter wenig. Sie ist Kellnerin, vor zehn Jahren verschwand ihr Sohn spurlos, als sie ihn im Supermarkt kurz aus den Augen ließ, ihren Gatten hat sie wegen seiner Gewalttätigkeit hinter Gitter gebracht. Peter ist, mit seinen weiten Jeans, die Hände in die Taschen seiner Lederjacke gebohrt, eher zufällig in ihr Leben gestolpert. Der ehemalige GI und Golfkriegsveteran hat angeblich nicht viel mit Frauen am Hut. Aber zusammen sind Agnes und Peter so einsam und misstrauisch, dass sie ein wunderbares Paar abgeben würden. Doch nicht in dieser Welt. Da endet ihre Randexistenzen-Romanze kaum, dass sie begonnen hat, in Weltflucht und Paranoia.

Ein bizarres Kammerspiel

Willkommen in dem Stück "Verwanzt" des US-amerikanischen Autors Tracy Letts, das 2004 als "Bug" off-broadway uraufgeführt wurde. Nachdem das Nationaltheater Mannheim in der letzten Spielzeit Letts "Eine Familie/ August: Ossage County" als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne brachte, steht nun "Verwanzt" im Spielplan. Im Studio des Nationaltheaters hat der isländische Regisseur Egill Heidar Pálsson das bizarre Kammerspiel inszeniert. Auf einer Drehscheibe kreiselt Agnes' Motelzimmer mit braungrüner Sperrholzeinrichtung. Ragna Pitoll als Agnes und Taner Sahintürk als Peter beäugen sich achtsam, nähern sich zart und zaudernd aneinander an.

Doch Agnes' frisch aus der Haft entlassener Exmann Goss versucht, sie wieder unter seine Gewalt zu bekommen, und ihre Freundin R.C. meldet Zweifel an Peters Integrität an. Wobei Sascha Tuxhorns Jerry Goss allzu verständig und sanft gerät, um als handfeste Bedrohung durchzugehen. Und die muss er sein, um den Übergang vom Misstrauen und von der Versehrtheit zur Paranoia einzuleiten.

Die ultimative Biowaffe

Unversehens wird die frische Liebe zur Isolationshaft, schotten sich Agnes und Peter immer mehr von ihrer Umgebung ab und entdecken dafür ein großes Interesse für kleine Tierchen - die so klein sind, dass man sie glatt übersehen könnte: Wanzen. Im Deutschen steht der Name der Insekten auch für winzige Abhörgeräte, in "Verwanzt" sollen sie als lebendige Überwachungsinstrumente die Weltbevölkerung kontrollieren. Peter entdeckt eine seltsame Wanzenart im Motelzimmer und entwickelt eine Theorie: Im und nach seinem Einsatz in Kuwait sei er als Versuchskaninchen missbraucht worden, um Wanzen zu züchten, die sich als Parasiten im Menschen einnisten sollen, um ihre Gehirne zu kontrollieren – die ultimative Biowaffe.

So verarbeitet Letts Stück diverse Verschwörungstheorien, die mit Vorliebe um die Weltmacht USA und ihren Geheimdienst CIA gesponnen werden, zu einer wilden Mischung im White-Trash-Drogenrausch: Da operiert seit 1954 die Bilderberg-Gruppe daran, dass der Status Quo der Machtverteilung erhalten bleibt, die Reichen reich bleiben und die Armen arm. Zu diesem Zweck forschen Wissenschaftler und Agenten nach Mitteln und Wegen, die Weltbevölkerung unter Kontrolle zu bekommen.

Haarsträubendes brav gescheitelt

Das ist alles genauso haarsträubend, wie es klingt, und könnte eine schräge Reflexion der alltäglichen Paranoia sein. Pálssons Inszenierung aber fehlt die Schärfe, die es braucht, um Letts groteskes Stück zwischen Thriller und Satire oszillieren zu lassen. Die Liebesgeschichte wird mit feinem Gespür, doch zuviel Ernst und Realismus eingefädelt. Der Ton gerät dadurch so  sinnträchtig, dass viele Pointen der durchaus witzigen Dialoge nicht zünden und unversehens jede Doppelbödigkeit verschwindet. Ohne diese aber wird die haarsträubende Verschwörungstheorie samt tödlichem Finale mit hektischen Blicken und spritzendem Kunstblut unerträglich und höchstens unfreiwillig komisch.

Auch hat man Mühe, Taner Sahintürks freundlichem Jungengesicht den traumatisierten, paranoiden und schizophrenen Ex-Soldaten abzukaufen. Den schüchternen Buben, ja, der lieber Cola als Schnaps trinkt und Agnes zögerlich anschmachtet. Aber nicht den versehrten Typen, der darunter zum Vorschein kommen soll. So setzt es sperrhölzerne Eindimensionalität statt schillernder Ambivalenz am Rande der Gesellschaft.

P.S. Es herrscht Unklarheit darüber, ob wir es hier mit einer deutschsprachigen Erstaufführung (DSE) zu tun haben. Denn diese fand eigentlich bereits 2005 im Kölner Theater am Sachsenring statt. Der Verlag aber habe diese als "Try-out" angesehen und dem Nationaltheater "Verwanzt" als DSE verkauft, so lautet die Erklärung der Mannheimer.

Verwanzt
von Tracy Letts, deutsch von Anna Opel.
Regie: Egill Heidar Pálsson. Bühne: Anke Niehammer. Kostüm: Janine Werthmann. Komposition und Einspielung Originalmusik: Sascha Tuxhorn. Dramaturgie: Jan-Philipp Possmann.
Mit: Ragna Pitoll, Taner Sahintürk, Luisa Stachowiak, Sacha Tuxhorn.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Mehr Ansichten von traumatisierten Kriegsheimkehrern und Nationen im Auslandseinsatz? Lesen Sie über Simon Stephens' Motortown in den Inszenierungen von Andrea Breth oder Dieter Giesing. Mark Ravenhills Antikriegstableau Shoot/Get Treasure/Repeat hatte jüngst in Düsseldorf in der Regie von Jana Klata und in Berlin unter Claus Peymann deutsche Aufführungen.

 

Kritikenrundschau

Tracy Letts' Text "Verwanzt" sei für die Zuschauer "eher ein harter Brocken als leichte Kost", schreibt Alfred Huber im Mannheimer Morgen (25.10.2010). Entpuppe sich das angeblich gesichtete Ungeziefer doch bald als Wahnvorstellung eines Ex-Golfkriegs-Soldaten - und Letts' Stück als "Psychothriller auf der Drehbühne des Lebens". Egill Heidar Pálsson habe diese "Reise zu den Ufern des Todes mit Musik, Licht und überraschenden Perspektiven geschickt aufgeheizt. Sein weltenschweres Theater dampft", bisweilen "auf Kosten sorgfältiger Figurenzeichnungen und etlicher Leerstellen". Ragna Pitoll als Agnes habe allerdings "berührende, imposante Momente". Man sehe da "einen Alptraum, für den die Routine gelegentlich die Gesten bereithält". Am Ende bewegten sich Pitoll und Sahintürk anscheinend sogar "an den Grenzen ihrer physischen Leistungsfähigkeit". Eine solch "konsequent sich ausliefernde Hingabe an Text und Handlung" könne gefährlich sein, manchmal fehle es der Aufführung an "notwendiger Distanz, vertraut die Regie mehr der heißen Luft als den subtileren Formen der Schauspielkunst".

Es gehe bei Letts "nur am Rand um große Politik, im Vordergrund steht das zutiefst private Elend zweier Menschen, deren verhängnisvolles Zusammentreffen katastrophale Folgen hat", meint Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (25.10.2010). "Viel Aufmerksamkeit" widme Pálsson der Entwicklung von Agnes' Psychose, verlasse sich dabei jedoch allzu sehr "auf das intensive Zusammenspiel seiner beiden gleichermaßen glaubhaft agierenden Hauptdarsteller". Ansonsten glänze diese Arbeit "nicht gerade durch Einfallsreichtum". Die Nebenrollenspieler Stachowiak und Tuxhorn blieben "weit unter ihren Möglichkeiten". "Dass dennoch von der ersten bis zur letzten Minute Hochspannung herrscht", sei vor allem "dem effektvoll zum blutigen Exzess gesteigerten Handlungsaufbau und der faszinierenden Leistung der Protagonisten" zu verdanken.

Letts' Stück ist für Martin Halter von der Frankfurter Allgemeinen (26.10.2010) "eine kleine böse Farce, die virtuos mit der Mehrdeutigkeit" des Titel-Worts spielt. In Mannheim sei der "Doppelwahn" von Peter und Agnes allerdings "nur ein halber", da Pálsson die "zwielichtige Parabel" derart "harmlos realistisch" inszeniere, "dass sich das klaustrophobische Grauen und metaphysische Jucken nie so recht einstellen will". Seine Inszenierungsbeigaben erinnerten "mehr an Edward Hoppers gepflegte Melancholie als an die Gespenster im Kopf eines traumatisierten Kriegsveteranen", "die Hölle von Sex, Drogen und Brutalität ist nur ein Kaminfeuer". Pitoll immerhin überzeugt den Kritiker "als taffe, alternde Schlampe Agnes". Sahintürk wirkt auf ihn allerdings eher "wie ein Jugend-forscht-Schüler", und "wenn der kleine Irre sich die Zähne mit der Kneifzange ausreißt, werden auch dem Albtraum des Stücks unfreiwillig komisch die Zähne gezogen". Dieser "moderne Woyzeck" werde mit der "Flachzange aus dem Werkzeugkasten des Sozialmelodrams chemisch entlaust". Fazit: "Diese Wanzen jucken nicht mehr".

 

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