Der alte Traum vom schnellen Geld

von Claudia Klupsch

Potsdam, 24. Oktober 2010. Am Broadway fiel "Enron" durch. Nach wenigen Vorstellungen war Schluss. Vermutlich bereitete die Satire über den gescheiterten amerikanischen Traum eher Unbehagen denn Vergnügen. Wie dem auch sei, in England verbuchte das 2009 uraufgeführte Stück der jungen britischen Autorin Lucy Prebble Publikumserfolge. Erstmals ist es nun auf Bühnen hierzulande zu sehen. Nach der Premiere am Staatstheater Nürnberg am Sonnabend schloss sich tags darauf der Ring deutschsprachiger Erstaufführungen am Hans Otto Theater Potsdam.

Der Skandal traf die amerikanische Nation ins Mark. Alles nur Fake! Der texanische Energie-Riese Enron hatte in unvorstellbaren Ausmaßen Zahlen frisiert, Bilanzen gefälscht, Schulden kaschiert. Mit ausgedachten Geschäftserfolgen kletterten die Aktienkurse in die Höhe, strichen Manager Millionengewinne ein, bis schließlich 2001 das Kartenhaus mit Milliardenverlust krachend in sich zusammenfiel. Anleger und Mitarbeiter stürzten in den Ruin.

Die Schuldscheine fliegen

Prebble vermischt bei ihrem Blick in das Konzern-Innenleben Realität und Fiktion, Fakten und Phantasie. Die Potsdamer Inszenierung spielt von der ersten Sekunde an mit den Ebenen: Eben noch versichert Schreibmaschinen-Getacker die Wahrhaftigkeit der Story, um im nächsten Moment vom Soundtrack zur Kult-TV-Serie "Dallas" abgelöst zu werden. Die Assoziation ordnet die haarsträubende Geschichte seichter Unterhaltung zu, liegt aber ernstlich nahe - spielte doch "Dallas" den Traum vom schnellen, leichten Geld vor, wobei niemand so richtig durchstieg, mit welchen Tricks der Serien-Fiesling Geschäfte machte.

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Mäuse übernehmen die Büros © HL Böhme

Dass Videokünstler Niklas Ritter, bekannt auch durch die Zusammenarbeit mit Armin Petras am Berliner Maxim Gorki Theater, unter seiner "Enron"-Regie Filmsequenzen einsetzt, überrascht nicht. Clever illustriert ist etwa, wie sich der Konzern seiner Schulden entledigt - kopfüber aus dem Fenster lehnen und die Schuldscheine einfach fliegen lassen. Eine absurde Vorstellung, ein lächerliches, ein sinnreiches Bild: Enron stellte das Finanzsystem auf den Kopf.

Dämonen mit Mäuseköpfen

Die Inszenierung betont mit gewitzten Mitteln den expressionistischen Charakter des Stückes, produziert dabei so eindrucksstarke wie schräge Bilder. Ritter erzählt die wahre Enron-Geschichte als absurde Show. Die Bühne gleicht einem steigenden Aktienkurs, auf dem Enron seinen Tanz zelebrierte, den Tanz auf dem Vulkan. Auch in der Potsdamer Inszenierung wird getanzt, "God bless America" wird pathetisch abgesungen, Personen mit Mäuseköpfen übernehmen als erscheinende Dämonen die Büros. George W. Bush steht gleich in dreifacher Ausführung auf der Bühne und stellt allerlei mit sich an. Ein Symbol, wie tief die Politik in den Skandal verwickelt war.

In die Dialoge muss Niklas Ritter die faktenreichen Vorgänge verpacken. Der Prebble-Text ist auf gutes Maß gebracht. Wechselnde Erzählperspektiven und originelle Einfälle lockern immer wieder auf. Ein Höhepunkt ist der Auftritt der Handpüppchen mit Avdokatenperücken als synchron schnatternde Anwaltsunschuldslämmer.

Die Riege der Skrupellosen

Die Personen bleiben unnahbar, seltsam überdreht und klischeehaft. Ritter lässt sie mitunter über große Distanz von einer Bühnenecke zur anderen miteinander sprechen, die Rücken einander zugewandt. Christoph Hohmann mimt einen skrupellosen Vorstandsvorsitzenden, amerikanisch theatralisch, ein Mann, der sich blind auf seine Vasallen verlässt, um in aller Ruhe Golf spielen zu können. Wolfgang Vogler als Enron-Präsident zeigt den eitlen, arroganten Gewinnmaximierer, von sich selbst geblendet, den öligen Klang eines Showmasters in der Stimme. Seinen Protegé und Finanzjongleur lässt Simon Brusis je nach "Kassenlage" schlitzohrig bis fatalistisch erscheinen. Einzig die Managerin, die Nele Jung als taffe Geschäftsfrau präsentiert, warnt vor dem nahenden Unheil. Meike Finck, Jan Dose und Holger Bülow überzeugen stark in wechselnden Rollen, als raffgierige Händler ebenso wie als karikierte Wirtschaftsprüfer. Szenenapplaus brandet auf, als sie gemeinsam das Börsengeschehen "performen".

"Enron" passt in unsere Zeit von Finanz- und Wirtschaftsskandalen. Ritters intelligente, moderne Inszenierung ist eine unterhaltsame wie scharfsinnige Politsatire, die auf die Schwächen des Kapitalismus, auf menschliche Schwächen wie Habgier und Selbstüberschätzung deutet und den Wahnsinn der Finanzwelt spiegelt. Durchfallen dürfte das Stück in Potsdam keineswegs. Ganz im Gegenteil.

 

Enron
von Lucy Prebble
Deutsch von Michael Raab
Regie: Niklas Ritter, Bühne: Bernd Schneider, Kostüme: Ines Burisch
Mit: Christoph Hohmann, Wolfgang Vogler, Simon Brusis, Nele Jung, Meike Finck, Jan Dose, Holger Bühlow

www.hans-otto-theater.de

 

Kritikenrundschau

Lucy Prebble greife zwar "zu phantasiehaften Mitteln", erzähle aber ziemlich genau die Geschichte des Enron-Konzerns, meint Peter Hans Göpfert im rbb-kulturradio (26.10.2010). Ihr Stück lasse sich als "ein Macbeth-Drama der Gegenwart" lesen, gehe es doch auch hier "um unermessliche Gier, um Lüge und krankhaftes Streben nach Reichtum und Macht". Wolfgang Vogler als Enron-Chef Jeffrey Skilling sei allerdings "alles andere als ein zweiter Macbeth" und wohl auch kaum dem Original-Skilling ähnlich. Von dessen "krimineller Energie", vom "Abgrundböse", das "mit Charme und Charisma gepaart" war, sehe man hier nichts. Vogler spiele stattdessen "einen schlanken Angestellten-Typus (...), mehr nett als taff". Niklas Ritter verknappe das Stückpersonal und lasse sich einige schöne Ideen des Textbuches entgehen. Zu Beginn lege ein Trio "eine fabelhafte und für das Funktionieren der Finanzgeschäfte symbolische Luftnummer hin". Der "ganze surreale Wahnsinn dieser Geschichte" teile sich allerdings nicht mit. "Die Regie stolpert von der Groteske ins Betuliche. Wo inhaltlich Größenwahnsinn angesagt ist, wird es auf der Bühne kleinkariert und angestrengt komisch."

Das "halbdokumentarische Werk" Prebbles besitzt für Christian Rakow von der Märkischen Allgemeinen Zeitung (26.10.2010) "analytische Schärfe in Brecht'scher Manier". Die in den "Wirtschaftskrimi" eingelassenen Anschauungsbeispiele gehörten "zum Erhellendsten, was man auf Theaterbühnen über Finanzkrisen erfahren kann". Dazu beschleunigten "Revueeinlagen" die Handlung mit "geradezu klassisch tragischem Kern": In Jeffrey Skilling flackere "die Hybris archaischer Helden: der Glaube an die Gestaltungskraft des Individuums und übermenschlicher Machbarkeitswahn". In der Potsdamer Reithalle werde der "radikal gekürzte" Prebble-Text allerdings "weggehastet, in bemüht coolem Ton, der von der ersten Minute an signalisiert: 'Es ist eine zynische, kalte Welt. Schert euch nicht drum!'" Man müsse das Publikum "nicht derart unterfordern". Niklas Ritter gelängen zwar "einige raffinierte Bildeinfälle", auch habe er eine schnelle Comic-Eingreiftruppe parat - diese Mittel taugten jedoch für Prebbles Figurendramatik "nicht einmal in Ansätzen". "Nirgends ist Fallhöhe angedacht; Motivationen und Selbstdeutungen der Handelnden fehlen. Von Leistungs- und Konkurrenzdruck keine Spur." Hier würden bloß "Abziehbilder verklebt", Pointen reihenweise verschnitten. "Deutlicher kann eine Regie kaum ausdrücken, dass sie mit einem Stück nichts anzufangen weiß."

Das Stück erzähle nicht "von den belogenen und betrogenen Opfern, sondern von den Akteuren in der Schaltzentrale des Konzerns", so Babette Kaiserkern in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (26.10.2010). Damit werde "Potenzial verschenkt", trete "an die Stelle eines potenziellen menschlichen Dramas" schließlich "eine Szenenfolge aus Dokument und Revue". Angelpunkt von Ritters Inszenierung sei die 80er-TV-Serie "Dallas". Film- und Videoeffekte, Pantomime, Puppenspiel, Gesang beleuchteten "die illusionistische Welt der Manager", "Reliefs von antiken Kriegern" deuteten "überzeitliche Brisanz" an, und "eine brillant inszenierte Videokampfspielszene verweist auf die mentale Verstrickung des trickreichen Finanzchefs Andy Fastow in einer Fantasy-Welt". Simon Brusis spiele den Zahlenmenschen "mit nüchterner Präsenz", Ken Lay den bigotten Vorstandschef "mit kaugummi-breiter Diktion und triefenden Reden", Voglers Skilling sei ein "blasser Typ, dem man den großen Betrüger kaum abnehmen will". Möglicherweise gehöre diese "wenig bühnenwirksame Fadheit der Figuren zum Konzept". Zwar fehle es dem gekürzten Stück bisweilen "an Schärfe und Absurditäten". Dennoch lege das HOT hier "eine sehenswerte Inszenierung zu einem hochaktuellen Thema" vor.

"Man muss die Geschehnisse um die Rekordpleite nicht direkt mit Shakespeares 'Macbeth' vergleichen, um zu erkennen, dass sie ganz gut auf eine Bühne passen", findet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.10.2010), kritisert aber Ritters "Interpretation, die so tut, als benötige das genau modellierte, faktenreich amüsante, immer wieder satirisch ausschweifende Drama unbedingt einen eitel assoziierenden deutschen Stadttheater-Überbau". Richter flüchte in allerlei mehr oder weniger gymnastisch inspirierte Regie-Mätzchen mit und ohne Live-Kamera: "Die in rund achtzig Minuten sehr verknappte Aufführung zerfällt auf einer fast leeren Spielfläche mit einem Projektionsschirm und einem Schreibtischstuhl in freudlose Szenen, die sich weder zu einem unterhaltsamen noch zu einem kapitalismuskritischen Bogen fügen."

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