Rettungsschirme für geschundene Seelen

von Anne Peter

Berlin, 27. Oktober 2010. Protest wird seit den jüngsten Ereignissen im Südwesten der Republik nicht mehr unbedingt mit Jugend assoziiert. Und auch in der Berliner Schaubühne ist es der altehrwürdige Erhard Marggraf, der als so fragil schutzbedürftiges wie eigensinniges Störelement nicht nur mit der Jungkörperdominanz bricht, sondern auch den zähesten Widerspruchsgeist beweist.

Störrisch schleudert er den Pulli in die Wanne, nachdem er ihn umständlich über den Kopf gewurschtelt hat. "'Friede den Hütten! Krieg den Palästen!', kennst du das?", fragt er den Sohn in Gestalt des genervt schauenden Kay Bartholomäus Schulze, während der ihn badefertig zu machen versucht. "Du bist doch Autor, so was musst du mal schreiben!" Dann redet er über Büchner und Nietzsche und darüber, dass weniger die Integrationsunfähigkeit der Migrantenkinder als vielmehr die der Finanzmanager ein Problem seien: "Die sehen sich nicht als Teil dieser Gesellschaft. Die teilen nicht."

Selbstermächtigung und Stimm-Erhebung

Nun, es muss ja nicht gleich ein "Hessischer Landbote" sein. Aber vielleicht ein Text, den man "Revolutionäre Energien" nennen könnte. Oder "Passiver Widerstand" oder "Blutrausch". Diese Titel spielt der vierzigjährige "Jungautor" in Falk Richters neuestem Theatertext in seinem Autorenkopftheater durch. Da steigert sich Stefan Stern in die Aufstands-Phantasie der "gedemütigten Praktikantenfresse" hinein: die "geht zu dieser Scheißfirma einfach nicht mehr hin die knackt jetzt lieber den Bankaccount des Chefs klaut seine Steuerunterlagen und erpresst ihn". Und Judith Rosmair erdenkt eine aggressive Heldin, die sämtliche Führungskräfte der Republik in den Herzinfarkt vögelt.

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Kollektivkörper oder Getriebene? "Protect me" an der Schaubühne © Arno Declair

Mit dem Meta-Theater-Kniff der Autorfigur, die immer wieder Fetzen einer vagen Handlung aufblitzen lässt, erzählt "Protect me" von der Sehnsucht, endlich sein eigenes Stück zu schreiben, die Regie für das eigene Leben zu übernehmen. Vom Zuschauenden zum Handelnden zu werden. Bereits zu Anfang formuliert Luise Wolfram das diffuse Gefühl, dass "irgendetwas nicht stimmt". Immer wieder zerrt sie der Tänzer Philipp Fricke dabei vom Mikro weg; immer wieder erobert sie sich dieses Instrument der Selbstermächtigung und Stimm-Erhebung zurück, das zahlreich auf Katrin Hoffmanns dunkel-cooler Bühne bereit steht. Milchige Plastevorhänge begrenzen diese im Hintergrund, davor ein schwarzglänzender Tischtresen über die Länge des Raumes, der immer wieder als Laufsteg dient, und drei mobile Zimmerzellenkästen mit Glasfront - klaustrophobische Privatsphären, in denen die Performer buchstäblich die Wände hochgehen.

Dieses Leben auf Kosten der anderen

Thematisch wie formal schließt dieser von Falk Richter und der Choreographin Anouk van Dijk gemeinsam gestaltete Abend nahtlos an ihr genreübergreifendes Hybrid-Werk Trust an, das überaus fruchtbare Ergebnis ihrer Zusammenarbeit von vor einem Jahr. Damals wirkte die zersprengende Kraft von van Dijks Tänzerarrangements auf das zuletzt oftmals in oberflächlicher Coolness steckenbleibende Richter-Theater wie der reinste Adrenalinschock. Ausgelotet wurden die desaströsen Folgen der Verantwortungslosigkeit in betriebswirtschaftlichen und beziehungstechnischen Dingen, der kollektive Zustand einer Generation von Hyperindividualisten, die jenseits ihrer Arbeitswelt kaum noch Erfahrungen machen.

Diese Themen werden in "Protect me" recycelt und um einige Aspekte ergänzt. So macht man sich auf unterhaltsame Weise über Therapie- und Selbstfindungswahn lustig, über Yoga, Tai Chi, Klangschalen und Globuli, mit denen die "Opfer der Finanzkriege" in Wohlfühl-Resorts wieder aufgepäppelt werden. In weißen Bademänteln wandeln die Schauspieler in dieser Szene, liegen gemeinsam am Boden und ersticken in dem Mantra "Ich freue mich am Reichtum der anderen" jegliche aufrührerische Energie. Wieso aber sollte man seine Wut eigentlich bezähmen? Gegen den Hunderte Milliarden schweren Rettungsschirm für die Banken wird hier ein Rettungsschirm für die armen, einsamen, Konsum-gebeutelten, Leistungs-getriebenen, Facebook-Twitter-Skype-verseuchten Seelen gefordert. Behauptet wird die Krise als permanenter Ausnahmezustand.

Symbolische Zerreißprobe der Körper

Dieser treibt die Körper zu Schussgeräuschen oder aufbrandenden bis pochenden Elektrosounds (Matthias Grübel und Malte Beckenbach) durch den Raum, besonders beeindruckend im Solo Franz Rogowskis zu Anfang. Arme werden geschleudert, Beine ziehen in die andere Richtung. Wieder schickt (die selbst auch mittanzende) Anouk van Dijk die Gliedmaßen der Performer mit ihrer Gegenbewegungs-basierten "Countertechnique" weit in die Körperumlaufbahn. Immer wieder sucht man aneinander Halt, hochgereckte Arme erflehen Schutz, tastende Hände versuchen Nähe bis zur Zärtlichkeit. Doch dann reißt die Fliehkraft die Tänzer wieder auseinander, Bilder des Getriebenseins, des Hinschlidderns und Balanceverlierens, der Anziehung und sofort kehrtmachenden Abstoßung.

Zwar hat der neue Abend nicht mehr die elektrisierende Wirkung des Vorgängers. Tanz und Schauspiel fließen hier nicht so bestechend spielerisch zur Symbiose ineinander, sind mehr nach- und nebeneinander angeordnet. Und vielleicht ist die Inszenierung dafür, dass sie von seelischen und gesellschaftlichen Kaputtheiten zu erzählen trachtet, auch allzu wohl gestylt, zu clean, zu schick? Aber das sind Mäkeleien auf hohem Niveau. Die Reihe der Tanz-Theater-Hybridformen an der Schaubühne, für die auch Constanza Macras steht, wird mit "Protect me" auf schlüssige Weise fortgeschrieben. Wieder sind es diese Tanzkörper, die den Fragen, Ängsten, Bedürfnissen des einzelnen im abstrakten Raum der Systeme und Diskurse konkretes Gewicht verleihen. "Are we five days before the revolution?", fragt van Dijk gen Ende. Dieses Theater scheint es sich zu wünschen.


Protect me (UA)
von Falk Richter und Anouk van Dijk
Regie und Choreographie: Falk Richter und Anouk van Dijk, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Matthias Grübel / Malte Beckenbach, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Carsten Sander.
Mit: Erhard Marggraf, Judith Rosmair, Kay Bartholomäus Schulze, Stefan Stern, Luise Wolfram (Schauspieler), Anouk van Dijk, Philipp Fricke, Franz Rogowski, Nina Wollny (Tänzer).

www.schaubuehne.de

 

Mehr zu Falk Richter und Anouk van Dijk: Ihr Hybridprojekt Trust hatte genau vor einem Jahr an der Berliner Schaubühne Premiere. Mehr zu Falk Richter gibt es auch im nachtkritik-Lexikon.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=lPngr0UbSQs}


Kritikenrundschau

"Richters vernehmbare Wut auf die Oberflächlichkeit und die rücksichtslose Gier nach Geld, Erfolg und Erlebnissen, die er für den Götterfunken eines kapitalistischen Weltenbrandes hält, verführt ihn immer wieder dazu, diese Oberflächlichkeit zu reproduzieren", resümiert Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (5.11.2010). Bei "Trust", seinem letztem Versuch der Promi- und Banker-Schelte, habe die Verbindung mit dem Tanztheater von Anouk van Dijk noch zu einer schönen Aufweichung der Konzeptfiguren geführt. Jetzt verblasse die Kraft dieser Beziehung in der Wiederholung. "Zwar erfand die niederländische Choreographin wieder intensive Momente, wo Körper gegen Karikatur rebellieren, aber die meiste Zeit verbraucht sich Bewegung im Versuch, Posen der Glamour-Welt lächerlich zu machen." Die wenigen Szenen, die diesen viel zu langen Abend punktuell verdichten, sind jene, in denen Falk Richter Persönliches zulasse. "Für die abgedroschene Welterklärungs-Polemik, die den Hauptteil des Stückes ausmacht, gilt der Rat der Künstlerin Jenny Holzer: 'Protect me from what I want.'"

Gelungen ist die Text-Tanz-Collage, befindet Eberhard Spreng im Deutschlandradio Kultur (27.10.2010). Richter setze dabei auch auf Texte, die er im Sommer schon in Avignon erprobt habe. "Wiederum gelingt der Dialog vom Text und Tanz; einzelne fröhlich-groteske Textkaskaden, etwa von Judith Rosmair, tänzerische Soli der Einsamkeit in Ticks und Spleens, wie das der Anouk van Dijk, überzeugen. Auch wenn der Abend über die Kälte der Welt und das Sterben der Herzen Collagecharakter hat, Ansätze für viele Abende skizziert und nur durch eine fiktive Autorenfigur, die Autofiktion des Falk Richter zusammengehalten wird."

"Richters Texte kennen so wenig ein Außen wie jenes Innen, das sie beschreiben, weshalb man sich schon immer gewaltsam hinein ziehen lassen musste in die hermetischen, gezielt desorientierten, posthumanen Kapitalmächte von 'Electronic city' bis 'Unterm Eis'", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (29.10.2010). "Doch erweist sich 'Protect me' nun (...) als der bisher düsterste, gewollt vergeblichste, ungewollt inhaltsärmste Versuch." Dabei orientiere sich Richter "mit der ausgestellten Verwundbarkeit des Autors, seiner privaten Selbstausschöpfung als Schmerzensmann und Sohn eines sterbenden Vaters" an das Therapietheater des sterbenden Christoph Schlingensief: Hier aber erfriere diese Therapie "zur eiskalten Masche." Meierhenrichs Fazit: "Sozialkritische Fantasie bräuchte Scharfsinn statt Hammer."

Rüdiger Schaper
bringt im Tagesspiegel (29.10.2010) den Abend so auf den Punkt: "Fünf Schauspieler und vier Tänzer umkreisen Gefühlszustände und politisch-gesellschaftliche Befindlichkeiten." Dass das noch keinen Theaterabend ergebe, das "weiß Falk Richter, Autor und Regisseur, und deshalb baut er mit seiner künstlerischen Partnerin, der Choreografin Anouk van Dijk, eine Versuchsanordnung auf. Ein bisschen Interaktion zwischen den Akteuren und viele, viele Worte, meist in monologischer Form: Es wird dann schon etwas herauskommen."Deutlich auseinander fielen die tänzerischen und schauspielerischen Teile: "Die Bewegung wirkt härter (...), der Ton bitterer, die Texte schwächer und die Musik (...) lauter, aggressiver. Kein guter Mix".

Kurz und bissig kommentiert Manuel Brug in der Welt (29.10.2010): "Richter lässt sein Personal quasseln, van Dijk schleudert ihre Leute durch den Raum. Dazwischen steht die entzückende Judith Rosmair, wuschelt sich die sowieso schon wuscheligen Haare noch wuscheliger und rosmaiert gurrend ins Mikro." Jedweder revolutionäre Elan bleibe ein behaupteter, herausgeschrieener: "Musik loopt in Endlosschleife, und Jugend verschwendet sich maßvoll. Da träumt eine 'Praktikantenfresse' von Rache und die Rosmair möchte Bänker totvögeln. So haben sich alle schön schick schaubühnenmäßig im 'Wohlfühlressort' eingerichtet, gegen das sie dekorativ die Wände hochgehen."

"Text und Körpersprache gehen in dieser Gemeinschaftsarbeit von Falk Richter und Anouk van Dijk eine äußerst sinnstiftende Alliance ein", befindet hingegen Katrin Bettina Müller in der taz (29.10.2010). "Ob die Figuren nach innen oder nach außen vorstoßen, in jeder Richtung entzieht sich ihnen das Eigentliche, der Kern, von dem man ausgehen könnte, der Feind, gegen den man kämpfen könnte." Richter verbinde die öffentliche Krise mit dem Privaten, "das Versagen der Politik vor den Finanzsystemen mit dem Versagen des Autors, auf diesem politischen Feld etwas auszurichten." Der Abend sei eher eine Variation von "Trust" als eine Weiterentwicklung: "In beiden Stücken gibt es großartige Momente von Welterklärung, Erkenntnisblitze; dass von ihnen nur Rauch bleibt und das Lachen der sich gut unterhaltenden Zuschauer, darüber hat sich die Traurigkeit des Autors womöglich vergrößert."

Die Irritation, ob das "Emo-Kitsch oder bereits ein endzeitlicher Kommentar auf die Wiederkehr des Gleichen darstellt" habe man an diesem Abend auszuhalten, empfiehlt Tobi Müller in der Frankfurter Rundschau (30.10.2010). Fünf Schauspieler und vier Tänzer performten "das Leiden an der Welt als Subjektkrise", wie er schreibt. "Vielleicht verhält es sich auch umgekehrt, dann wächst der persönliche Zusammenbruch zur Apokalypse heran. Das ist ein bisschen egal und gründet gerade in der Struktur der Psychose, die zwischen Ich und Umwelt nicht mehr unterscheiden kann." Neu sei, dass Falk Richter die Figur des Autors in diese vagen Theorieposen einführe und mehr Ironie erlaube als in früheren Arbeiten. "Die Krise ist jetzt auch jene eines 40-jährigen Autors und Regisseurs, dem die Eltern sterben und der sich nach Schönheit und Vergebung sehnt." Am stärksten findet Müller aber die oft sprachlosen Bilder, in denen er die Angst, von der dieser Abend sooft erzähle manchmal tatsächlich konret werden sieht.

 



    

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