Verfangen in Tom-Waits-Melancholie

von Sarah Heppekausen

Essen, 29. Oktober 2010. Michael Laub hat ihnen eine Leinwand als Bühne gegeben. Den 17 Frauen, die er bei einem Casting in Istanbul aus 200 Aspiranten für seine Porträtserie ausgesucht hat. Eine Leinwand wie aus dem Fotostudio. Mal in Weiß, mal in Schwarz, Rosa oder Gold rollt die sich formgebend hinter und unter den Frauen wie ein Bilderrahmen um Familienaufnahmen. Nur macht ein Rahmen allein noch kein gutes Foto.

Auf der vielleicht drei Meter breiten Fläche erzählen die Istanbulerinnen von sich und aus ihrem Leben. Die Jurastudentin von ihrer Ess- und Fernsehsucht, die Reinigungskraft von ihrer Liebe zum Tanz, die Flötistin von der zu wenig beachteten klassischen Musik, die Turkologin von emotionalen und sexuellen Problemen. Eine singt, eine flüstert, eine verfällt in Posen, eine andere verharrt stumm und unbeweglich. Sie alle sind Schauspielerinnen oder möchten es gerne sein. Auf dieser Bühne allerdings spielt nicht ihr darstellerisches Talent die größte Rolle, Protagonist ist ihre Biografie. Das Familienalbum Istanbul soll sich durch persönliche Vita-Notizen füllen.

Details im Scheinwerferlicht

"Ich will meine Rollen nicht spielen, ich will sie leben", erklärt eine Grafikdesignerin und Schauspielstudentin. Aber Michael Laub geht es gar nicht um Rollen. Der belgische Regisseur und Choreograf ist kein Mann fürs Illusionstheater. Er setzt Privates ins Scheinwerferlicht als gebe es in jedem Leben genug spannende Details für ein Bühnenleben. Seine Porträtserie startete er 2002 am Hamburger Schauspielhaus unter Tom Stromberg. Damals präsentierte er Mitarbeiter des Theaters, später folgten Tänzerporträts, ab 2007 Castings in Städten wie Berlin. Im nächsten Jahr wird Laub seine Reihe an der Wiener Burg fortsetzen.

"Portraits Series Istanbul" gehört zum Theaterprojekt "Istanpoli" der Kulturhauptstadt Istanbul. Koproduziert von der hiesigen Kulturhauptstadt "Ruhr.2010", wird die Inszenierung jetzt als Gastspiel beim NRW-Festival der Freien Szene "Favoriten" auf PACT Zollverein gezeigt. Und natürlich erfährt der Zuschauer auch eine Menge über türkische Frauen. Die Erzählung über Haft- und Foltererfahrungen während der Militärjunta in den 80er Jahren berührt. Auch die verlegen-verunsicherte Mutter im Video, die bisher noch nie etwas ohne das Wissen ihres Mannes getan hat.

Wenige Blätter im Familienalbum

Aber der knapp zweistündige Abend führt keinesfalls die Dringlichkeit von Echtheits-Zertifikaten auf der Theaterbühne vor Augen. Im Gegenteil: Die lose Aneinanderreihung biografischer Statements gleicht eher dem belanglosen Blättern durchs Fotoalbum, bei dem das Auge des Betrachters sich nur selten auf ein Bild fixiert. Zum Beispiel auf die bizarr-piepsige Frau, die zwischen Depression, Showglanz und Tom Waits-Melancholie taumelt, und von der die Leute sagen, dass sie aussehe wie eine Zeichentrickfigur.

Beim Favoriten-Eröffnungsabend haben She She Pop und ihre Väter gezeigt, wie sich Realität inklusive vielschichtiger Gefühlslagen ins künstlerische Spiel transportieren lässt. Authentizität im Stofflichen und Illusion müssen sich nicht ausschließen. Bei Laubs Porträtserie Istanbul aber bleibt die Kunst leider im Rahmen stecken, weit scheinen kann sie so nicht.

 

Portrait Series Istanbul
Schauspielerinnen und solche, die es werden wollen
von Michael Laub
Idee, Konzept, Regie: Michael Laub, Dramaturgie: Astrid Endruweit.
Mit: Dilşah Demir, Makbule Tüzüner, Seher Şentürk, Asli Bostanci, Ayşe Burcu Eren, Filiz Altıntaş, Günce Miraç Dizman, Ahu Güral, Sevgi Keskin, Berrin Karabaş, Sare Ciğdem Tekelioğlu Demir, Yasemin Öztürk, Suzan Elif Kilinç, Zeynep Gülçin Yurdabak, Serpil Semra Yurdabek, Perihan Kurtoğlu, Eda Yildiz.

www.favoriten2010.de
www.ruhr2010.de
www.pact-zollverein.de

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.11.2010) schreibt Wiebke Hüster über die Entstehungsgeschichte von "Schauspielerinnen und solche, die es werden wollen". Zweihundert Personen beim Casting in Istanbul, 17 Frauen ausgewählt, was sie, "einige von ihnen nur auf eingespielten Videos, erzählen, vortanzen, vorspielen, singen oder musizieren, ist eine reinszenierte und bearbeitete Form dessen, was sie (...) in den Proben angeboten haben". Hüster gibt eine Reihe von Beispielen dieser Auftritte, darunter dieses: "Seher Sentürk erzählt, ihre Töchter seien Schauspielerinnen und hätten, anstatt sich selbst zu bewerben, ihre Mutter geschickt mit dem Hinweis, sie habe schließlich eine Geschichte zu erzählen. Diese, und nur diese, hat nichts mit Theater zu tun. Sentürks Tränen sind echt. Ihr Bericht handelt davon, wie die Militärjunta die Macht in der Türkei übernahm und sie und ihr Mann 1983 verhaftet, verhört und gefoltert wurden." Vorstellung für Vorstellung berichtet Seher Sentürk von "ihrem Schicksal". Keine dieser Frauen wolle, schreibt Hüster, zur Bühne. Sie träumten auch nicht von "großen Rollen" oder "Hollywood". Der Kontext sei ihnen völlig egal, "Hauptsache, Mittelpunkt sein, Scheinwerferlicht spüren, verkleidet und geschminkt irgendetwas aufsagen."

Am Ende der Performance von Michael Laub wisse man "nicht mehr über Istanbul als vorher", schreibt Melanie Suchy in der Süddeutschen Zeitung (8.11.2010). "Auch die Frauen bleiben fremd, als Individuen in Serie gebracht und so den Zuschauern gar nicht unähnlich. Die in perfekter Abwechslung gereihten Porträts wollen ja weder tief schürfen noch schwungvoll generalisierende Aussagen treffen. Sie würdigen die Frauen ganz einfach, vertuschen aber auch nicht die Banalität ihrer Lebensbeschreibungen und Selbstinszenierungsversuche. Als zeitgenössisch unheroische Kunst ist diese 'Portrait-Serie' sehenswert, sie hinterlässt jedoch auch eine unschöne Leere."

 

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