Vom affigen Kriegskasper gebissen

von Daniela Barth

Hamburg, 30. Oktober 2010. Willkommen in der Talkshow. Thema: Der Krieg der Kulturen. Oder: Das Leben ist ein Witz. Und: Ja. Griechenland... und ja, Troja... Vier Männer haben sich aus den Stuhlreihen - das Bühnenbild ist ein Zuschauerraum - erhoben, in denen sie zuvor lässig lümmelten, bauen sich vorm Auditorium auf und quatschen erstmal locker drauf los. "Helena denkt, oh Mann, jetzt steh' ich in 'ner toten Möwe, das geht ja gar nicht", Julian Greis schüttelt kokett seine blonde Lockenperücke, spielt mit seinen Fingern und parliert dann weiter: "Wär' ich ein räudiger Kadaver - und nicht ich / wär' ich ein stinkendes Stück Dreck - nicht Helena / Helena - ich?"

Da wird er auch schon unterbrochen, im plauderschauderhaften Ton Daniel Lommatzschs: "Ja. Iphigenie ist immer noch glücklich, sehr glücklich in ihrer Sänfte." Sie denke aber auch viel, diese Iphigenie, über Liebe und Vaterland, Hochzeit und Beerdigung, und das irgendwie im Kreis, ja eben sehr kompliziert. Deshalb spreche sie auch in Versen: "Solch' großes Glück! Es macht mich selig und zugleich verrückt."

Ihr Vater Agamemnon (André Szymanski) - im Laufe des Abends als "Kriegskasper" tituliert, der die "pazifistischen Gesichter" des Publikums beschimpft - schickt Iphigenie nach seiner ersten herrlich demagogischen Rede ("Der Raub der Helena war ein kriegerischer Akt.") dieses Abends mit den Worten "Jetzt schiebst du deinen weißen Arsch da raus und tust es für Daddy" in den Opfertod. Ungeheuerlich, was? Der Wahnsinn!, irgendwie aber auch ein Witz, findet wohl auch Klystämnestra (Rafael Stachowiak), Iphigenies Mutter, die sich isoliert - "Mit diesem Krieg habe ich nix zu tun." -, aber den Tod der Tochter zulässt.

Absolute Gegenwart

Der junge Regisseur Antú Romero Nunes (Jahrgang 1983) wurde in diesem Jahr in der Kritikerumfrage von "Theater heute" zum Nachwuchsregisseur des Jahres 2010 gewählt. Nach seiner ersten Inszenierung im Thalia in der Gaußstraße in der letzten Spielzeit stellt er mit Tom Layones Stück "Atropa. Die Rache des Friedens" erneut Fragen, die schon in "Invasion!" anklangen. Was bewirkt Fundamentalismus? Wieso muss der Frieden mit Krieg erobert werden und was haben unsere eigenen Ansichten und Werte des Lebens damit zu tun?

Auf der Folie der griechischen Stoffe des Aischylos und Euripides deutet der flämische Autor Tom Lanoye den Krieg des Westens gegen den Osten neu und erzählt von beiden Seiten: Die Geschichte des Politikers Agamemnon, der den Krieg im Kampf um die Kultur ausbrechen lässt, sowie die Geschichte der geschlagenen trojanischen Frauen, die den Tod ihrer Männer und ihres Landes beklagen. Er hat ein sprachgewaltiges Konvolut kreiert, das Gegenwart aus der Distanz der Antike verhandelt und einen Konflikt neu aufrollt, der bis heute ungelöst geblieben ist.

Denn plötzlich war sie wieder da: die Furcht vor dem Terrorismus. Am Freitagnachmittag wurde an mehreren Flughäfen in den USA, England und Dubai Bombenalarm ausgelöst. In zwei Flugzeugen mit Ziel USA wurden Pakete mit Sprengstoff gefunden. Dann sind da die nicht mehr geheimen Akten aus dem Irak-Krieg, die all das sinnlose Leid von Menschen dokumentieren. So, dass einem eigentlich nur die Worte dafür fehlen. Oder um mit Helena / Julian Greis zu sprechen: "Das schnürt mir jetzt echt die Kehle zu."

Intensität

Antú Romero Nunes spielt bis auf Äußerste mit der Distanz dieses ur-ur-ur-uralten absolut aktuellen Stoffes: Seine durchweg männlichen Schauspieler dürfen ihre Frauen-Rollen quasi mit Händen in den Hosen distanziert und persönlich kommentierend erobern. Bis sie sich nackt machen, nämlich die Hosen runterlassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Daniel Lommatzsch etwa gibt splitterfasernackt und vollkommen überhöht die Iphigenie (der Einfall ist so genial wie einfach: der nackte Mann in der Frauenopferrolle). Und danach rückt er immer noch nackend den Stuhl näher ans Publikum heran, um diese unangenehme Situation hintersinnig auf die Spitze zu treiben: "Ja, ja: es ist mir auch unangenehm. Nicht so sehr, dass ich nackt bin, sondern, dass ich mich ausgezogen habe...".

Dieses "Aus-der-Rolle-in-die-Rolle-fallen" durchzieht den anderthalbstündigen Abend wie ein roter Faden und macht ihn besonders intensiv. Apropos Faden: Atropos, die Unerbittliche, war die griechische Schicksalsgöttin, die den Lebensfaden durchschnitt. Und Atropa belladonna ist die Tollkirsche oder auch Todeskraut: Der Saft der Kirsche ins Auge geträufelt, verleiht einen träumerischen Blick - früher ein Schönheitsideal. Zu oft angewendet, droht allerdings Erblindung. Siehe Agamemnon, der blind vor Wut, zerstört, was ihm in die Finger kommt. Der am Schluss als Affe mit baumelnden Armen achselzuckend mitten aus seiner soeben erzählten Allegorie über sich immer wieder prügelnde Affen hinein ins Publikum springt und die über alles schwebende Frage: WARUM? mit: "Das war schon immer so", beantwortet. Um schnell hinzuzufügen: "Entschuldigung. Das war nur ein Scherz."

 

Atropa
von Tom Lanoye
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Judith Hepting, Musik: Johannes Hofmann, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Julian Greis, Daniel Lommatzsch, Rafael Stachowiak und André Szymanski.

www.thalia-theater.de

 

Mehr zu Atropa: Tom Lanoyes Stück war im vergangenen Herbst in Nürnberg von Georg Schmiedleitner zum ersten Mal auf Deutsch aufgeführt und in Konstanz von Konstanz Lauterbach nachinszeniert worden.

 

Kritikenrundschau

André Szymanski führe ein "furioses Schauspieler-Quartett" in die "Wort-Schlachten" Lanoyes, ist im Hamburger Abendblatt (1.11.2010) zu lesen. "Jubel für die Inszenierung von Antú Romero Nunes", in der es "um Logik und Rechtfertigung des Krieges im Zeichen von Demokratie, Freiheit, Kultur und Religion" gehe. Daniel Lommatzsch (Iphigenie), Rafael Stachowiak (Klytämnestra) und Julian Greis (Helena) balancierten "zwischen Mann und Frau, Opfer und Täter und gehen zum Angriff aufs Publikum über". Das Stück werde dabei in eine "ironisch gebrochene Groteske über die Unbelehrbarkeit der Menschheit" überführt. Und obwohl hier "nur Konfetti-Kanonen explodieren, schlägt 'Atropa' ein und trifft zielsicher die wunden Punkte in der ambivalenten Debatte über die Verteidigung unserer Kultur".

 

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