Apfelmus im Garten Eden

von Dieter Stoll

Nürnberg, 31. Oktober 2010. Der Baum der Erkenntnis könnte auch das "Warten auf Godot" ausschmücken, verbotene Früchte geraten unter Sprengstoff-Verdacht, die Seligkeit liegt am Hochhausdach nur wenige Schritte entfernt, und an der Theke in Mallorca wird man von Träumen erlöst. "Paradiesische Zustände" nennt das Schauspielhaus Nürnberg (wie berichtet, wurde der für 38 Millionen Euro generalsanierte Bau nach anstrengenden Ausweich-Spielzeiten am 23.Oktober eröffnet) zur Feier der eigenen Stimmungslage ein ungewöhnliches Eroberungs-Projekt.

Zehn neue Stücke von zehn Autoren an zehn verschiedenen Orten des Hauses, durch acht Regisseure mit 19 Schauspielern als Rundgang inszeniert. Ein entspannter Drei-Stunden-Marathon, an dessen Ende den Zuschauern die Regeln der modernen Architektur geläufiger sind als die Gesetze der zeitgenössischen Literatur.

Das Motto öffnet großherzig alle Möglichkeiten zwischen Drama und Satire, was schon mal für jeden Autor paradiesisch wirken musste. Projektleiter Frank Behnke, in der zehnjährigen Direktion von Klaus Kusenberg die treibende Kraft fürs Unkonventionelle, gewann per Stichwort namhafte Schreiber fürs Spiel mit Raum und Wort. Überwiegend aus der Generation der Mittvierziger, flankiert von der 28jährigen Friederike Trudzinski (sie ließ mit "Der Hit" am Ballermann im Dreiecksverhältnis springen) und dem 66jährigen Fitzgerald Kusz (der Marco Steeger als liebeskranken Franken an eine Sprechanlage verbannte).

Tragödien-Hüpferchen

Zwischen launigen Nümmerchen wie Albert Ostermaiers Sündenfallobst-Schmonzette "Adams Apfel" und listig hingerenkten Grotesken wie Franzobels "Seemannsbraut" (da gerät Elke Wollmann als Fischerin ins Fangnetz absurder Einwanderungs-Politik und Regisseur Georg Schmiedleitner sprach in der ersten Reihe aufgeregt den Text mit) ist Martin Heckmanns langes, sprödes Gedicht "Ins Offene" auf höchstem Niveau und verlorenem Posten. Am besten funktioniert es, wenn Ulrich Hub den Projekt-Titel für eine knallige Drei-Männer-Posse aufnimmt oder Lukas Hammerstein auf der großen Bühne mit "Ich bin da" den Sturz in die Freitod-Dramatik als kleines Tragödien-Hüpferchen wagt.

Die Zuschauer wandern in zwei Gruppen durch Maler- und Probensäle, klettern über vier Etagen vom Kammerspiel-Keller bis zum Transport-Aufzug und finden in Sibylle Bergs heiterer Oscar-Wilde-Paraphrase "Wenn Tiere zu sehr lieben" schließlich gemeinsam das Schmunzeln als offene Haltung für alle Fälle. Apfelmus im Paradies ist theologisch noch unerforscht. Etwas harmlos wirkt das alles unterm Strich, aber durchweg erstklassig gespielt.

... und Georg Schmiedleitners "Nathan"

Man muss das Projekt sowieso im Zusammenhang mit den Duftnoten sehen, die das neue Nürnberger Schauspielhaus in der ersten Premierenwelle setzte. Da ist neben dem verzichtbaren Bekenntnis zum Briten-Boulevard der Revue Enron viel gelungen. Nach Gesine Schmidts protokollierten Charakter-Vignetten örtlicher Einwanderer "Die Russen kommen!" (Auftragswerk) und der an den Nerven abwechselnd kitzelnden und zerrenden Thriller-Regie von Caro Thum für Dennis Kellys "Waisen" (Deutschland-Premiere) war das auch Georg Schmiedleitners fester Schraubgriff nach Lessings "Nathan". Er hat den Bescheidwisser vergesellschaftet, macht ihn zum Kollektiv einer Sonntagsreden abschmeckenden Workshop-Gruppe. Die Vision von der Toleranz der Religionen lässt er auf deren Gewaltpotenzial wie auf einen Prellbock auflaufen.

Vor diesem Hintergrund wirkt "Paradiesische Zustände" wie ein Versprechen. Nürnbergs Schauspiel will offensichtlich ab sofort in allen Gewichtsklassen antreten. Mut genug ist derzeit vorhanden.

 

Paradiesische Zustände
von Sabine Harbeke, Martin Heckmanns, Franzobel, Fitzgerald Kusz, Lukas Hammerstein, Gesine Schmidt, Albert Ostermaier, Friederike Trudzinski, Ulrich Hub und Sibylle Berg.
Uraufführung
Projektleitung: Frank Behnke, Regie: Cordula Jung, Michael Schlecht, Gesine Schmidt, Kathrin Mädler, Frank Behnke, Georg Schmiedleitner, Sabine Harbeke, Klaus Kusenberg, Bühne: Florian Angerer, Ulli Remmert, Kostüme: Catharina Bornemann, Mareike Porschka.
Mit: Felix Axel Preißler, Thomas L. Dietz, Thomas Klenk, Hartmut Neuber, Julia Bartolome, Philipp Niedersen, Michael Hochstrasser, Rebecca Kirchmann, Stefan Lorch, Pius Maria Cüppers, Marco Steeger, Elke Wollmann, Stefan Willi Wang, Jochen Kuhl, Patricia Litten, Henriette Schmidt, Michael Nowack, Nicola Lembach, Jutta Richter-Haaser.

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Zur Wiedereröffnung des Schauspielhauses besprach nachtkritik.de Enron von Lucy Prebble in der Regie von Klaus Kusenberg.

 

Kritikenrundschau

In den Nürnberger Nachrichten (2.11.2010) schreiben Steffen Radlmaier, Birgit Nüchterlein und Katharina Erlenwein über das zweite Eröffnungspremierenwochenende im Schauspiel. Anstrengend aber unterhaltsam sei das Uraufführungs-Paket und empfehlenswert. Überrascht werde man von seltenen Einblicken in das, was für die zehn Autoren mit der Vorstellung vom Paradies zu tun habe. Bei Ulrich Hub "mutieren" im Garten Eden "harmlose goldene Äpfel zu potenziellen Handgranaten", sein Drama sei eines der witzigsten im Uraufführungs-Marathon. Bei Fitzgerald Kusz brennt in einem Mann die "Glout" der Liebe, doch seine Sonja mache die Tür nicht auf. Franzobels "Die Seemannsbraut", gespielt im Lastenaufzug, hänge "tropfnass im Netz", könne auch "einen super Apfelstrudel backen" habe allerdings "die Logik der EU-Einlasspolitik für Migranten nicht ganz durchschaut". Über die Schauspieler erfährt man leider nichts.

 

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