Schau noch mal! Schau anders! Schau selbst!

von Kai Krösche

Wien, 5. November 2010. Eins will nicht so recht passen zu den schrillen Adidas-Jogginganzügen, in denen die Akteure – von den verschiedenen Farben einmal abgesehen – uniform auf die Bühne treten: Ein kleines schwarzes Quadrat auf weißem Grund, an das Gemälde des russischen Malers Kasimir Malewitsch erinnernd, ziert die Kostüme auf irritierende Weise. Ein Kunstwerk, das eine "Empfindung der Gegenstandslosigkeit" hervorrufen möchte, das den Bezug auf eine konkrete, externe Realität verweigert.

Wie geht das zusammen mit den kommenden zwei Stunden, in denen (oberflächlich betrachtet) auf mal heitere, mal nachdenkliche Weise, mit viel Gefühl und Witz, meist locker und zu eingängiger, computerprogrammierter Musik die telefonisch aufgezeichneten Erinnerungen der 34-jährigen US-Amerikanerin Kristin Worrall an ihre frühe Jugend Wort für Wort gesungen und getanzt werden?

Gruppenzwang und Ausgrenzungsangst
Natürlich, der Schein trügt. Trat die vielbeschworene "konzeptuelle Strenge" in der ersten, zum Theatertreffen 2010 eingeladenen Episode von Life and Times der New Yorker "Off-Off-Off-Broadway-Truppe" Nature Theater of Oklahoma noch offensichtlich in den Vordergrund, so scheint sie bei "Episode 2" auf den ersten Blick aufgelockert: Der Abend ist kürzer, der Text wird hier nicht nur gesungen, sondern streckenweise rezitiert und sogar simultan spielerisch in Szene gesetzt und es gibt auffällig mehr Tanz- und Gesangssoli. Die Bühne ist zum freistehenden, schwarz-glänzenden Laufsteg geworden und auf diesem Präsentierteller tanzen und singen die Akteure musicalartige Pop-Choreographien und an den Sound der 80er (und manchmal auch 90er) erinnernde Pop-Melodien, gehen unter in und tauchen wieder auf aus einem immer wieder subtil gebrochenen Konformismus.

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© Anna Stoecher

Dabei werden aber gerade in diesem fließenden Wechselspiel von eintönigem Show-Choir-Gemeinschaftstanz und ausdrucksstarken Soli jene frühjugendlichen Geschichten von Gruppenzwang und Ausgrenzungsangst, von denen "Episode 2" vielfach erzählt, formal reflektiert. Immer wieder tun sich kleine Augenblicke des Widerspruchs auf, in denen die zur bewußt unerreichbaren Perfektion strebende Inszenierung aufbricht und samt der Akteure auf spannende Weise an ihre Grenzen stößt – in kleinen, beiläufigen Gesten der Darstellerinnen und Darsteller, in denen diese von der anstrengenden, aufgezwungenen Choreographie abweichen, aus dieser absichtlich und/oder gegen ihren Willen ausbrechen; und in flüchtigen Blicken, die inmitten eines omnipräsenten Einheitslächelns plötzlich zum kritischen, individuellen Kommentar werden.

Solo über schulische Schwächen
Diese unaufdringlichen, aber entscheidenden Brüche funktionieren dabei stets auf zwei unterschiedlichen, aber eng miteinander verbundenen Ebenen: Einerseits passen sie auf ganz naheliegende Weise zum der Inszenierung zugrundeliegenden Text – zu jener ur-menschlichen Gespaltenheit zwischen Dazugehörenwollen und dem starken Wunsch nach Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit, sowie zu den oft undurchschaubaren Mechanismen, durch die Menschen abwechselnd ausgegrenzt und dann doch plötzlich wieder zum Mittelpunkt einer Gruppe gemacht werden.

Spätestens dann, wenn beispielsweise im Text die Rede von einer Reise nach Japan ist und die japanische Akteurin Fumiyo Ikeda daraufhin laut aufhorcht, aus der Rolle fällt und dafür einen mahnenden Blick ihrer Mitspielerin kassiert – oder wenn Ikedas einziges, in gebrochenem Englisch gesungenes Solo von der schulischen Schwäche der Erzählerin ausgerechnet im Fach "Englisch" handelt und das Kichern im Publikum zum Teil der Inszenierung wird, öffnet sich die persönliche Geschichte von "Life and Times" und wird auf eine weitere, auf sich selbst hin- und über sich selbst hinausweisende Bedeutungsebene gehoben.

Die Empfindungen des wehrlosen Betrachters
Denn auch darum geht es in dieser Inszenierung: Um die Aneignung, Aus- und Umdeutung einer individuellen Story mittels "Form". Denn im allzu präzise choreographierten Tanz und den bewußt tendenziösen Zuordnungen bestimmter Melodien zu bestimmten Inhalten (von fröhlich über nachdenklich hin zu rührselig ist alles dabei) liegt natürlich auch eine beinahe gewaltsame Vorschreibung: Inhalte und Schwerpunkte haben so empfunden zu werden, wie es ein populärer Diskurs unter Aufbietung all seiner manipulativen Mittel vorgibt. Tatsächlich lenkt (nicht nur) die stark gefühlsbetonte Musik immer wieder auf geschickte Weise die Empfindung des gewissermaßen wehrlosen Betrachters und schreibt dabei unweigerlich (und doch Widerspruch provozierend) vor, welche Inhalte auf welche Weise erfahren werden.

Diese spannenden Augenblicke des unvereinbaren Widerspruchs, der Reibung zwischen strenger Form und menschlichen Grenzen sind es, die "Life and Times" von der naiven Theatralisierung eines gewöhnlichen Durchschnittslebens klar trennen: So gut der Abend bereits oberflächlich funktioniert, so unterhaltsam und fesselnd die Lebensgeschichte dieser ganz gewöhnlichen Amerikanerin auch ist – so scharf und kritisch seziert die Inszenierung dabei gleichsam die starken gesellschaftlichen, vor allem medialen (und damit auch eigenen!) Mechanismen, durch die menschliche Individualität einer ständigen Klassifizierung und Lenkung von außen unterworfen ist.

Existenzielles im Banalen aufspüren
Der auf der Bühne stattfindende Kampf der Akteure mit der Form, die alles zu überschatten droht, wird also zeitgleich – und dabei angenehm beiläufig – zu nichts Geringerem als dem Kampf des Individuums um Selbstbestimmung und Freiheit. Auf diese Weise wird die Inszenierung Kelly Coppers & Pavol Liskas auch ihrem eigenen Anspruch gerecht: Nämlich mit den Mitteln der Kunst Existenzielles im vermeintlich Banalen aufzuspüren.

Womit man dann auch wieder beim schwarzen Quadrat wäre. Denn findet sich nicht in diesem Schwarz auf Weiß, in diesem Alles-und-Nichts-Nullpunkt, in dieser scheinbar totalen Form – die beim genauen Hinsehen doch wieder aufgebrochen wird durch eine subtile Abweichung von der geometrischen Perfektion – schließlich auch die Aufforderung an den Betrachter: schau nochmal hin, schau anders, schau neu und vor allem – schau selbst?


Life and Times, Episode 2
Nature Theater of Oklahoma
Konzept und Regie: Kelly Copper und Pavol Liska, Ausstattung: Peter Nigrini, Musik: Robert M. Johanson, Julie LaMendola, Dramaturgie: Florian Malzacher.
Mit: Elisabeth Conner, Anne Gridley, Sabine Haupt, Fumiyo Ikeda, Julie LaMendola, Robert M. Johanson. Gastauftritt: Fabian Krüger, Markus Meyer, Moritz Vierboom.

www.oktheater.org
www.burgtheater.at

 

Der allseits gefeierte erste Teil von Life and Times kam September 2009 ebenfalls im Kasino des Wiener Burgtheaters heraus. Alles über das Nature Theater of Oklahoma auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Im Standard (8.11.2010) sagt Margarete Affenzeller grundsätzlich "Yesss" zur Episode 2 von "Life and Times" im Kasino des Burgtheaters. "Dieses Material hat keine Dekonstruktion mehr nötig; es zeigt in all seiner 'Fehlerhaftigkeit' auch seine Gemachtheit in reinster Form." Sie drücke sich besonders durch die unerbittliche Gleichförmigkeit dieser in der Tradition des amerikanischen Highschool-Show-Choir gehaltenen Inszenierung aus: "einfache Gruppenchoreografien, chorische Stimmen und bescheidene Soli". "An die damit für allgemeingültig erklärte Geschichte kann ein jeder Einzelne mit eigenen Erinnerungen andocken. Und die Erzählung bleibt dabei so individuell, wie auch die Gesichter der Performer sich von den identen Trainingsanzügen abheben." Allerdings, so der Wermutstropfen, habe das Nature Theater aus Gründen der Effizienz diesmal auf eine Liveband verzichtet. "Das war ein grober Fehler, den das beim Uraufführungstermin am Freitag höchst marode Soundsystem leider nicht ausbessern konnte. Der stimmlich-auditiven Dimension dieses Abends muss man mehr Sorgfalt widmen."

Der Zauber von Teil eins werde nicht nur wiederholt, sondern sogar übertroffen, findet Norbert Mayer in der Presse (8.11.2010). "Hier wird mit Pathos und Leidenschaft gespielt, mit kleinen Gesten gearbeitet, voll heiligem Ernst, sodass man schließlich nach zwei Stunden sagen kann: Ja, so war es wirklich, unser Leben vor zwanzig, dreißig Jahren." Das Geheimnis dieses Naturtheaters: "Es wertet ein gewöhnliches Leben in allen Schattierungen und Nuancen auf der Bühne aus." Worralls Erinnerungen verlaufen nach denselben Mustern der freien Assoziation, aber die Umsetzung auf der Bühne wirke jetzt konziser, schöner, einfach bezaubernd. "Das Monotone der Erzählung, die fast mechanische Rhythmik, wird geschickt durch verstohlene Blicke, ungewöhnliche Tanzschritte, grandiose Auftritte unterbrochen, auch die zeittypische Musik verleiht dieser Aufführung einen unverwechselbaren Charakter."

Auf die Rückkopplung ins Private habe es die New Yorker Off-Truppe Nature Theater of Oklahoma angelegt, schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (8.11.2010). "Darauf, dass man als Zuschauer unversehens anfängt, in seinen Erinnerungen zu kramen. Dass man beginnt, in den fremden Gesichtern und Figuren auf der Bühne die Gestalten der eigenen Vergangenheit zu sehen." Der erste Teil von "Lifes and Times" gewann durch die formalen Brüche, das Ausstellen der Biografie einesteils liturgische, anderenteils hyperreale Qualitäten. "Auch der zweite, kürzere Teil mit seinen Pubertätsgeschichten setzt wieder auf das Paradox des Realismus in der Kunst: Allgemeinheit gewinnt ein erzähltes Leben gerade dann, wenn es so konkret wie möglich präsentiert wird. Gleichzeitig verwenden Liska und Copper Elemente des Modernen Tanzes, wird wieder alles gesungen und im brechtschen Sinne vorgezeigt." Fazit: "ein so streitbares wie bewusst widerspruchsvolles Theaterprojekt über die Uralt-Frage nach dem Wesen der Kunst – und nach dem Wesen des Lebens. Es beantwortet sie mit grösstmöglicher Radikalität: Alle sehen hier denselben Abend, aber jeder erlebt seine eigene Inszenierung."

"Anders, aber um keinen Deut weniger gelungen" findet Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (9.11.2010) den zweiten Teil von "Life and Times": "Mit einer Genauigkeit, die schlichtweg umwerfend ist, haben die beiden Regisseure aus Worralls Erzählung eine Art Singspiel gemacht, das große Oper, sentimentales Musical und amerikanischer Show Choir gleichermaßen ist. Letzterer gibt die strenge Form des zweistündigen Abends vor, dessen Dramaturgie sich nicht unbedingt an den mal chorisch mal in Soli oder Duetten vorgetragenen Inhalten aus Warrens Leben orientiert." Jane Fondas Aerobicstunden hätten nicht sehr anders ausgesehen, "aber schließlich geht es hier ja auch um eine Sozialisation im Zeichen des Pop. Nicht die Besonderheit von Worralls Leben wird ausgestellt, sondern seine Austauschbarkeit."

"Dauerbewegungsmusik mit klanglichen Schatten der Erinnerung" hat Egbert Tholl gehört, wie er in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2010) schreibt. Auch er kann sich dem Charme der gesungenen und getanzten Pubertäts-Erinnerungen nicht entziehen: "Im Idealfall tauchen eigene Erlebnisse im Gedächtnis auf, die man lange und lieb vergessen glaubte, weil man nicht andauernd an die peinlichste Zeit seines Lebens denken will, inklusive Teenager-Existentialismus, echte oder behauptete Depression." Sein Fazit: "So sehr die Banalität des Blöden ausgebreitet wird, in einer Art amerikanischem Sprachdadaismus, so sehr fräst sich der Sog dieser exakt durchgearbeiteten Gedächtnis-Show ins eigene Hirn. Und wenn man nur für einen Moment an eine eigene, sehr frühe Liebesniederlage denkt, dann hat einen der Abend schon überrumpelt. Fortsetzung folgt."

 

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