Viel flüchtig Gutes

von Willibald Spatz 

München, 29. September 2007. Es gibt viel zu viele Theaterstücke. Und es gibt kaum schlechte Theaterstücke, weil in jedem einzelnen ein Mensch mit seinen Gedanken, mit dem, was ihn beschäftigt, steckt. Deshalb ist es schwer für die Theater, den richtig guten halbwegs gerecht zu werden und dem Publikum zu zeigen, was aufregend ist an der aktuellen Dramatik. Die Kammerspiele pflegen zu diesem Zweck das jährliche "Wochenende der jungen Dramatiker", dessen Hauptabend zweigeteilt ist.

Die ersten zwei Stunden soll man durchs Haus gehen und selbst nach den Texten jagen, damit man den Wert des Wortes wieder schätzen lernt. Diverse, durchaus namhafte Autoren haben kleine Texte geschrieben, die jetzt an 17 Orten im Haus unter der Überschrift "Nach Hause telefonieren" installiert sind. Vor einer kleinen Garderobe zieht man zum Beispiel eine Nummer und wird dann nach kurzem Warten vom Schauspieler André Jung im Beamtenton hereingebeten. Den legt er gleich ab und bettelt um ein wenig Kleingeld, um seine Mutter anrufen zu können, weil dem Bruder etwas passiert sei.

Wunderbar raunzendes Gestammel
Paul Brodowsky, der das verfasst hat, zerbricht die Bitte in Stücke, bis nur noch raunzendes Gestammel übrig ist. Nach zwei wunderbaren Minuten wird man wieder entlassen und sucht weiter nach ähnlich schönen Momenten. Allerdings oft vergeblich, weil an manchen Stationen zu wenig verstanden wird, da die Nachbarproduktionen zu laut sind. Immer wieder haben die Zuschauer nicht richtig Platz oder sollen mitwirken, was es noch schwieriger macht, sich auf das jeweilige Fragment einzulassen. Aber vielleicht sollte das so sein, weil das so ja auch auf Kommunikationsprobleme hinweist.

Dann kommen fünf richtige Stücke auf die Bühne. Das Motto lautet "Da kann ja jeder kommen". Und jedes der Stücke kommt aus einem anderen europäischen Land und handelt irgendwie von Migration. "Sehr viel Wasser" von dem Katalanen Carlos Malloi Quintana schickt zum Beispiel einen harmlosen Mann auf die Straße und lässt ihm eine geheimnisvolle Frau begegnen.

Obwohl weiter nichts passiert oder zu passieren scheint, verrät er dennoch seine Frau und seinen Freund, die sich vorher schon verraten fühlen. Nach und nach verschwinden die Grenzen zwischen den Personen, es wird ziemlich mysteriös – ein bisschen wie in einem Film von David Lynch. Das Stück wäre es wohl wert, inszeniert zu werden, ist auch gerade in Barcelona zu sehen. Hier wird es aber leider nur gelesen.

Schülerscherz wächst ins Unermessliche
Ebenso wie die geheimnisvolle Weihnachten-bei-Oma-Geschichte aus Helsinki von Maria Kilpi und das schlaue, allerdings beim bloßen Hören etwas spröde Zusammenbrechen eines Journalisten an einer Reportage über schrumpfende Städte, das Katja Hensel in ihrem Stück "Ins Weite schrumpfen" beschreibt.

"Invasion!" des Schweden Jonas Hassen Khemiri dagegen wurde szenisch eingerichtet. Es geht um einen Schülerscherz, der ins Unermessliche wächst und schließlich eine Terrorangst entfacht, die im Privatleben einiger unbedarfter Zeitgenossen erheblichen Wirbel verursacht. Jorinde Dröse hat das lustig umgesetzt, es flutscht fröhlich in 45 Minuten vorbei. Das tut gut, weil es entspannt, schließlich hält man sich mittlerweile schon die dritte Stunde im Theater auf.

Bemerkenswerte Blitzinszenierung
Möglicherweise steckt in dem Stück sogar eine Menge, nur mitbekommen kann man davon nicht viel. Auch Hannah Rudolphs Blitzinszenierung von "Sumsum" der Schweizerin Laura de Weck ist bemerkenswert und lässt einen viel lachen. Mit wenig Mitteln macht sie viel.

Stefan Merki springt am Anfang dieser Inszenierung – der Abend dauert an dieser Stelle schon etwas mehr als fünf Stunden – an die Rampe und sagt nur: "So jetzt", und alle sind begeistert. Er spielt einen Mann, der zwanzig Stunden fliegt, um sich in einem fernen Land eine Frau zu holen. Thematisch klingt das bestenfalls nach gehobenem Kabarett. Die Sprache jedoch ist aufregend und hebt dieses Stück aus der Reihe heraus.

Im besten Fall amüsiert
Ganz am Anfang des Abends bekommt man mitgeteilt, dass alle Stücke kurz vor ihrer Uraufführung stehen würden. Das klingt im Nachhinein wie eine Entschuldigung dafür, dass man sie hier jetzt nicht richtig erleben darf.

Es gibt da draußen noch unzählige Stücke und Autoren, die entdeckt gehören. Die es verdienen würden, in den Kammerspielen gelesen zu werden. Deswegen hätte man nach so einem Abend eigentlich lieber, wenn das Theater sich in Zukunft für zwei oder drei Stücke und Autoren entscheiden würde, und diese dann richtig und ungekürzt zeigt. So ist man im besten Fall amüsiert. Von dem Potenzial, das in den Texten steckt, nimmt man meist wenig mit.

Die lange Nacht der jungen Dramatiker
Die fünf ausgewählten Autorinnen und Autoren aus Schweden, Finnland, Spanien, aus der Schweiz und aus Deutschland entern für eine lange Nacht die Münchner Kammerspiele: Jonas Hassen Khemiri, Maria Kilpi, Carlos Mallol Quintana, Laura de Weck und Katja Hensel.
Szenische Lesungen, Skizzen und –Einrichtungen von Jorinde Dröse, Peter Kastenmüller, Christiane Pohle, Hannah Rudolph und Regina Wenig.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Wunderbar, herrlich, großartig!", ruft Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2007). "Invasion" eine "durchgeknallte Phantasmagorie von Jonas Hassen Khamiri hat es ihm angetan. dieses Stück muss, bitte, bitte, ins repertoire übernommen werden." Und zwar müsse es genau in der von Jorinde Dröse binnen fünf Tagen hingetupften Version mit Schauspielern "zum Verlieben". Egbert, Egbert!  Und gleich noch e mol: "Eine Kultaufführung wäre dies, zum Liebhaben". Khemiri, halb Schwede, halb Tunesier, spüre Klischees auf, zwirbele sie hoch und verknüpfe sie in "einer Erzählstruktur wie Quentin Tarantino". Das Stück beinhalte alles, "was derzeit diskutiert werden muss, wenn es um jemanden geht, der Muslim, Araber, geheimnisvoll und vielleicht realiter gar nicht vorhanden ist". Kurt streift Tholl die anderen Stücke und nennt die "Ausbeute": groß.

Kommentare  
Zu den jungen Dramatikern in München 1
Das Stück SumSum von Laura de Weck empfand ich als ziemliches Ärgernis und es ist für mich relativ unverständlich, wieso die Dramaturgie der Münchner Kammerspiele es ausgewählt hat.Da werden von Anfang bis Ende sämtliche Charaktere nach Strich und Faden vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein sozial relevantes Thema - Ehezusammenführung via Internet, sprich reicher Westmensch sucht Frau aus armem Schwellenland - wird zugunsten unfreiwilliger sprachlicher Komik geopfert. Auch reicht es anscheinend der Autorin nicht, Menschen mit geringen deutschen Satzbaumitteln zu zeigen, nun darf man ihnen auch noch beim Englisch lernen zusehen. Ist das lustig! Da kann man so richtig von oben herab darauf schauen und sich "sophisticated" fühlen. Herrlich! Die Regisseurin Hanna Rudolph tut das ihrige, daraus tumbes Schenkelklopftheater mit Kartoffelchipsfaktor zu machen. Jeder Gag ein Lacher, jeder Lacher überflüssig und am Ende bleibt nur Leere und man nimmt nichts mit nach Hause.

Vor zwei Tagen betonte noch Willibald Spatz den Gegensatz der strengen Wieler-Inszenierung zum Oktoberfest. Was man in "SumSum" sah - sprachlich retardierte Menschen in peinlichen Situationen - hätte man auf dem Oktoberfest wahrhaftiger erlebt. Nur wer sich für Theater entscheidet, möchte etwas anderes sehen.

Ein Volltreffer dagegen das Stück der finnischen Autorin Maria Kilpi "Plus Null Komma Fünf Windstill". Zwei Generationen am Rande der Zivilisationen schürfen tief im Verborgenen und der Zuschauer wird fündig.

Etwas lieblos leider die Lesung von "Sehr viel Wasser" und auch die "pennälerhafte" Inszenierung von "Invasion" konnte mich nicht überzeugen. Das Stück von Katja Hensel braucht wohl wirklich einen handfesten Inszenierungszugriff.

Insgesamt wurde man nach der verkürzten "Ödipus" Premiere auch an diesem Abend nicht satt, und erinnerte sich an vergangene "Dramatikerwochenenden", an denen mehr inszenatorischer Aufwand betrieben wurde und für mich eine lebendigere Atmosphäre herrschte.
Zu den jungen Dramatikern in München 2
Wenn die Münchner Kammerspiele keine neuen Stücke spielen wollen - oder diese nicht -, sollen sie's nicht tun. Aber fünf Stücke Nonstop, zusammengestrichen und zum Teil ungeprobt - was soll das?
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