Der Sohn des Hirnforschers reist in die Vergangenheit

von Bernd Mand

Heidelberg, 14. November 2010. Arie Stein hat einen Albtraum. Immer wieder denselben Albtraum. Auch jetzt. Ein Labor, das in Flammen aufgeht. Er steht mittendrin, will heraus und wird doch irgendwie vom Feuer angezogen. Da klingelt sein Mobiltelefon und lässt ihn zwischen den Theaterbesuchern auf einem Stuhl aufschrecken. Seine Frau Anna ist am Apparat und sitzt ihm gegenüber ebenfalls im Publikum. Sein Vater ist gestorben. Herzstillstand. Und zugleich der Anfang einer Reise in die Vergangenheit.

© Markus Kaesler
Axel Sichrovsky in "Medicament"
© Markus Kaesler

Der Zauber, der dem Anfang dieser Reise in Maya Scheyes Familiengeschichte "Medicament" innewohnt, ist allerdings kein guter. Das will schon die Geschichte, oder besser: das wollen die Geschichten so, die sich im Heidelberger Zwinger 1 in den nächsten knapp anderthalb Stunden unter den Scheinwerfern abspielen werden. Patentanwalt Arie ist Jude und hat nicht nur einen renitenten Albtraum, sondern auch eine Geliebte (von der uns allerdings nur erzählt wird) und eine Frau, Anna. Anna leidet sowohl unter schweren Depressionen als auch unter dem Fremdgehen ihres Mannes und ist gerade dabei, zum Judentum zu konvertieren. Aries Vater Juda war Sohn zweier Überlebender des Konzentrationslagers Dachau und arbeitete als Leiter der Bioneurologischen Abteilung an der Universität Heidelberg.

Zwei Erzählstränge und viel Theaterstoff

Bei ihrer Ankunft in Heidelberg treffen Arie und Anna auf den undurchsichtigen Christian, einen langjährigen Freund von Juda, und entdecken außerdem mysteriöse, halbverbrannte Dokumente, die wohl Teil einer wissenschaftlichen Studie zur Heilung von Alzheimer gewesen sind. Eigentlich schon reichlich Stoff für ein dicht gestricktes Stück Theater, doch es geht noch weiter. Hier öffnet sich nämlich ein zweiter Erzählstrang, der von Juda Stein als jungem Hirnforscher im Jahre 1974 erzählt, der ein Verhältnis mit der politisch engagierten Studentin Lisa führt und an Dokumente über medizinische Experimente eines Heidelberger Arztes an jüdischen Kindern in der NS-Zeit gelangt. Ein folgenreicher Fund, der Juda dazu verleitet, diese Erkenntnisse für seine Forschungszwecke zu benutzen, und Lisa zu einem verhängnisvollen Bombenanschlag anstiftet.

Maya Scheyes Text entstand als Auftragsarbeit im Rahmen der Theaterpartnerschaft "Familienbande" zwischen dem Theater Heidelberg und dem Beit Lessin Theater in Tel Aviv. Hauptthema der auf mehrere Jahre angelegten künstlerischen Zusammenarbeit der beiden Theater ist die Familie als "kleinste gesellschaftliche Einheit", und Scheyes Beitrag kniet sich tief in die Familienangelegenheiten. Jedenfalls oberflächlich betrachtet. Da geht es um nationale Identitäten, den Lebensalltag einer deutsch-jüdischen Ehe in der Gegenwart und um die Scham über das Deutschsein. Es geht aber auch um das Leben in diesem Land als deutscher Jude der zweiten und dritten Generation, die ethische Moral des Wissenschaftsbetriebs und die Vergangenheitsbewältigung im beginnenden Deutschen Herbst.

Komödie oder Tragödie?

Inhaltlich drall gefüllt gibt sich das Drama, doch scheint Scheyes Stück in der textlichen Verknappung ein wenig überfordert mit dem schweren Gepäck und gerät letztendlich nur zu einer groben Skizze, die sich selbst beständig zu erklären versucht. Und sich dabei nicht entscheiden kann, welchen Namen sie auf ihren Kofferanhänger schreiben soll: Komödie, Tragödie oder Satire. Meist treiben die vier Darsteller in den beiden Erzählströmen haltlos zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Jennifer Sabel wirkt als Lisa über weite Strecken schon fast verwundert ob der Geschichte, die ihr passiert, während Klaus Cofalka-Adamis Christian bei seinen Gastauftritten eher unbeteiligt seinen Text behauptet.

Mit viel Kraft und Farbe spielt Ute Baggeröhr die Ehefrau Anna und kommt dennoch nur schwer gegen die erdrückende Textvorlage an. Axel Sichrovsky spielt Sohn Arie und Vater Juda in einer Doppelrolle als Angelpunkt zwischen den sich immer wieder überkreuzenden Erzählsträngen. Doch wird er dabei überladen mit den inneren Konflikten zweier Personen und fungiert nur noch als holzschnittartige Andeutung.

Starke Szenen und ein Eierkuchenende

Immer wieder versucht Regisseur Avishai Milstein den schleppenden Text-Schwertransport voranzutreiben und schafft sich hier und da den Freiraum für starke szenische Momente, wie die langsame, noch unsichere Wiederannäherung von Anna und Arie im Lichtstrahl zwischen den Theaterzuschauern, die in ihrer Zerbrechlichkeit stark bewegt. Oder das präzise komponierte Zusammenführen der Personen aus beiden Handlungslinien kurz vor dem finalen Schwarz.

Oft geraten allerdings gerade die Übergänge von einer Handlungsebene in die andere zu Szenen einer spröden und angestaubten Humorigkeit, die einen ratlos in den Sitz sinken lassen. Einzig die offen gestaltete Raumbühne von Gili Avissar trotzt – wohl wissend um ihre einnehmende Anselm-Kiefer-Referenz – stoisch der heißluftgefütterten Geschichte, die man auf ihr zum Besten gibt. Zwischen ansehnlich grob gezimmerten Laborregalen und angekohlten Aktenordnern klärt sich dann zuletzt so ziemlich alles friedlich in einem Eierkuchenende auf. Auch die Herkunft von Aries Albtraum.

 

Medicament (UA)
von Maya Scheye
Regie: Avishai Milstein, Bühne: Gili Avissar, Kostüme: Diana Ammann, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer.
Mit: Axel Sichrovsky, Ute Baggeröhr, Jennifer Sabel, Klaus Cofalka-Adami.

www.theaterheidelberg.de

 

Nachtkritiken zu weiteren Aufführungen der deutsch-israelischen Zusammenarbeit in Heidelberg:

They call me Jeckisch von Nina Gühlstorff und Nina Steinhilber

Die Demjanjuk-Prozesse von Jonathan Garfinkel

Undercover Tel Aviv von Stéphane Bittoun

… und ein Theaterbrief aus Israel des Regisseurs Avishai Milstein.

 

Kritikenrundschau

Für Deutschlandradio Kultur berichtet Christian Gampert (Fazit, 14.11.2010) über Avishai Milsteins Inszenierung von Maya Scheyes "Medicament" in Heidelberg. Das Problem sei, dass der Schauspieler Axel Sichrovsky beide Rollen, sowohl Vater als auch Sohn darstellen muss. Der Sohn ist Gamperts Meinung nach "nicht so arg gelungen" (er spiele dessen Abgrenzungsversuche "ganz wild und aggressiv"), während der Vater "sehr viel vorsichtiger und glaubwürdiger" gerate. Theatralisch sei das eine "sehr schwierige und – ich will nicht sagen: lederne, aber doch spröde Angelegenheit". Das Stück sei zwar "absolut ehrenwert", aber doch auch "überkonstruiert". Alle auftretenden Figuren versuchten, sich von ihrer Herkunft zu verabschieden, die Vergangenheit loszuwerden.

Im Zentrum des Stücks stehe die Frage, ob man "von wissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren" dürfe, "die auf unmenschliche Weise gewonnen wurden", macht Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (16.11.2010) deutlich. In "zwei parallel laufenden Zeitsträngen" werde "von Bild zu Bild aus der Gegenwart zurück in die 1970er Jahre" gesprungen. Die Recherche des Patentanwalts Arie decke "eine Überfülle verborgener Konflikte auf". Das alles wirke zwar "arg konstruiert", sei aber "gut motiviert". Milstein verzichte in seiner Inszenierung "klugerweise auf zusätzliche Verkünstelung seitens der Regie", ihm gehe es "vor allem um Glaubwürdigkeit". "Dank seines herzhaften Zugriffs und der engagiert mitziehenden Schauspieler" schaffe es diese "unprätentiöse Aufführung, dem sperrigen Text erstaunlich viel Leichtig- und Lebendigkeit abzugewissen". "Hauptakteur des spannenden Abends", Axel Sichrovsky, springe "mühelos" zwischen Sohn und Vater hin und her.

"Relevanter, verstörender, aktueller kann Theater kaum sein", findet Martin Eich, wie auf Welt-online (17.11.2010) zu lesen ist. Nach eineinhalb Stunden verlasse der Zuschauer das Theater, "und die umliegenden Universitätsgebäude der Altstadt scheinen sich plötzlich geneigt zu haben. Unter der Bürde der Vergangenheit, unter der Last der Erinnerung." Milstein mache aus Scheyes Vorlage "einen Parforceritt durch die Zeitgeschichte", in dem die Handlungsebenen so verwoben sind wie die Figuren verstrickt: "Die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit ist Aussage und Stilmittel zugleich. Das war gewagt, ist gelungen." Dazu trage auch "das glänzende Ensemble" bei, zuvorderst Ute Baggeröhr und Axel Sichrovsky. "Die Frage nach Ethik und Moral, sie erscheint hier in der Endlosschleife." Dem "Schmelztiegel der Schuld" entkomme hier niemand. Hier spiegele sich "das Politische im Privaten". Die "lärmende Sprachlosigkeit" vergifte den "ehelichen Mikrokosmos wie das Schweigen über die Menschen-Versuche den gesellschaftlichen Makrokosmos".

 

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