Zwischen Frack und Boygroup

von Christina Kirsch

Ulm, 18. November 2010. Die Zeit fliegt, der Sangeswettbewerb naht, und da stirbt dem bürgerlichen Männerquartett der Tenor weg. Fällt um, ist tot. Im Theater Ulm schwebt der Verblichene in der Komödie "Bürger Schippel" an einem Bühnenhaken gen Himmel. Zweifelsohne ist der Sänger in Schönheit hingegangen, doch für die drei übrigen Sänger ist der Siegerkranz mit diesem Ausfall nicht mehr zu erringen. Nun ist guter Rat für die gut betuchten Herren zwar nicht teuer, aber unstandesgemäß.

Man käme ja gerne um die Demütigung herum, aber es bleibt nichts anderes, als Paul Schippel (Raphael Westermeier) zu bitten, als vierter Mann auszuhelfen. Schippel hat eine wunderbare Stimme, aber eine miese Herkunft. Er ist das, was man in besserer Gesellschaft nur hinter vorgehaltener Hand flüstert: ein Bastard, ein uneheliches Kind also, dreckiger Proletarier noch dazu.

Das Quartett springt im Quadrat

In Ulm treten die Sänger im weißen Anzug mit Zylinder auf. Man gibt sich bürgerlich und bieder, wirft mit Floskeln und Etikette um sich und ist stets bemüht, Anstand und Besitzstände zu wahren. Das spießige Leben spielt sich in einem großzügigen Bühnen-Rahmen ab, den Britta Lammers zunächst senkrecht auf die Bühne stellt. Dahinter geben die Sänger stimmlich ihr Bestes und sie sehen aus wie auf alten Photographien von Sängerehrungen.

Doch es dauert nicht lange und der Rahmen kippt. Jetzt liegt er wie ein Sandkasten auf der Bühne, und das Quartett springt im Quadrat. Der breite Rahmen hält das plüschige Wohnzimmer von Familie Hicketier zusammen. Da sind ein Sofa und der Servierwagen, die Blumenvase und der Teppich, unter den gemeinhin viel gekehrt wird. Britta Lammers lüftet den muffigen Teppich an einer Ecke und lässt ihn wie eine geblümte Bergspitze emporragen. Auf seinem Gipfel thront der goldene Kranz.

In der Inszenierung von Philipp Jescheck, der das erste Mal in Ulm inszeniert, wird das Objekt der Begierde als heutige Fernsehtrophäe mit Spots in Szene gesetzt. Man merkt die Absicht wohl. Das Musikbusiness soll karikiert werden, aber eine Discokugel und goldener Flitter haben allein wenig Sprengkraft. Als das Gesangsquartett schließlich auftritt, benehmen sich die vier Herren wie eine Boygroup. Man ahnt Philipp Jeschecks Kritik an Grand Prix und Co, aber seinen Zitaten fehlen Pepp, Biss und Schärfe.

Ins Plüsch gebissen, den Aufstieg geschafft

Bis es an diesem Abend zum Wettbewerb kommt, schwebt noch der dandyhafte und lendenstarke Fürst (Volkram Zschiesche) als Elvis-Verschnitt im Pelzjäckchen mit Glitzerkostüm von oben herab. Der Hochrangige macht sich an Thekla Hicketier (Aglaja Stadelmann), Schwester von Sangesbruder Tilmann Hicketier (Wilhelm Schlotterer) heran. Das deftige Schäferstündchen findet in der Seitenloge statt. Für Thekla ist in dem Moment "der Kranz hin", als die Sänger für ihn proben. Aglaja Stadelmann spielt die Rolle ein bisschen verzogen, trotzig und stets mit Schnute. Sie steigt als benutztes Mädchen auf der gesellschaftlichen Leiter schnell hinunter.

Derweil übt Schippel den Aufstieg. Raphael Westermeier hetzt ungewaschen, etwas irre und distanzlos über die Bühne. Er bespringt das weiße Sofa und verkrallt sich im Plüsch. Seinen Gönnern wirft sich dieser Kaspar Hauser der Gosse an die Brust, doch die wehren pikiert ab. Singen ja, aber einer der ihren dann doch lieber nicht. Selbst den Handschlag, ein Ritual der Unterschicht, verweigert man Schippel. Doch Schippel schafft es letztlich doch noch nach oben in das Bürgertum.

Knöcheltief im Wasser

Carl Sternheim, der das Stück 1913 in Berlin auf die Bühne brachte, wollte nicht nur Unordnung in die viel zitierte Gemütlichkeit bringen und den Helden aus der Unterschicht der phrasenhaften Selbstinszenierung des Bürgertums gegenüber stellen, sondern auch romantische Vorstellungen konterkarieren. So zupft Thekla Blümchen wie Gretchen im "Faust". Szenen aus "Kabale und Liebe" werden angerissen und die Balkonszene aus Romeo und Julia findet in einem goldenen Käfig statt.
Der "hohe Herr" ist dem Käthchen aus Heilbronn entliehen. Das ist von Philipp Jescheck handwerklich sauber in Szene gesetzt. Es ermüdet in den knapp drei Stunden trotzdem.

Letztlich vollkommen ungeklärt bleibt die Tatsache, warum die Darsteller stets im knöcheltiefen Wasser waten. Das spritzt sehr schön, doch warum? Hier zieht nicht einmal mehr die Absicht, das Gewohnte umzukehren und somit neu sichtbar machen zu wollen. So duelliert und liebt man sich im seichten Wasser, man bringt die Frau an den richtigen Mann und Paul Schippel korrumpiert sich zum Bürger. Die Ulmer haben ihren Schippel reichlich verplantscht.

 

Bürger Schippel
von Carl Sternheim
Regie: Philipp Jescheck, Bühne & Kostüme: Britta Lammers.
Mit: Aglaja Stadelmann, Ulla Willick, Karl Heinz Glaser, Gunther Nickles, Wilhelm Schlotterer, Raphael Westermeier, Volkram Zschiesche.

www.theater.ulm.de

 

Kritikenrundschau

Regisseur Philipp Jescheck habe sich in Ulm als Regisseur "mit festem Formwillen" vorgestellt, schreibt Petra Kollros (Südwest Presse, 20.11.2010). Einerseits sei er "mit ziemlich viel Respekt für das Stück ans Werk gegangen", andererseits habe er dessen "Spannungs- und Unterhaltungspotenzial" nicht recht getraut. Die "Aufforderung des Stückes", das "mangels einer ausladenden Geschichte", nach "Inszenierungseinfällen" giere, habe Jescheck "natürlich" angenommen. Er biete einen "ganzen Katalog plastischer Bilder", die zwar nicht "originell", aber "stimmig und fürs Auge effekthaltig sind". Dennoch entwickle der Abend "zu wenig Drive und Witz", weil er die Schauspieler in eine "Attitüden-Form" presse: "Sie wirken, als habe man ihnen Zügel angelegt."

Zwischen "Verballhornung und Drama, Kitsch und Kunst, Langeweile und Elan" wisse das Publikum nie so recht, woran es ist, schreibt Roland Mayer (Neu-Ulmer Zeitung, 20.11.2010). Zu "neuer Zeitlosigkeit" des "sprachzerhackten Worttheaters" von Sternheim verhelfe diese "flippe Inszenierung" jedenfalls nicht.

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