Gut geturnt

von Christian Rakow

Berlin, 20. November 2010. Das ist selten: Szenenapplaus fürs Bühnenbild, für eine himmelhoch aufragende, rotweiß gestreifte Tambourtrommel von Bert Neumann. Wenn sich ihre Seiten öffnen, verwandelt sie sich in ein kolossales Zirkuszelt mit rotierenden Aluvorhängen, Stoffbahnen mit Propagandadrucken und einem Panoramafoto vom Grunewald. Heillos durchstrauchelt Sophie Rois als galizischer Jude Kaftan diesen Bilderwald. "Berlin, da bin ich. Wo bist Du?"

"Im hypertrophischen Wachstum zur Vielmillionenmetropole erhielt sich ein Rest von Peripheriecharakter", so beschreibt Walter Mehring in einem der vielen epischen Einschübe seines Großstadtpanoramas "Der Kaufmann von Berlin" (1929) das historische "Preußisch-Berlin". Mit diesem "Peripheriecharakter" ist nicht nur eine Nische fernab der assimilierten jüdischen Kultur angesprochen: das ländliche, kleinhändlerische Scheunenviertel, die Gegend um die Volksbühne. Mehrings Blick zurück in die Inflationszeit 1923 visiert überhaupt die leere Mitte der Weimarer Republik an: eine fragile Demokratie unter dem Druck von Peripherien, zwischen rechten und linken Revolutionären, außenpolitisch isoliert, von Reparationslasten bedrückt.

"Berlin ist cool geworden"

Diese diffuse Kräftekonstellation muss Frank Castorf interessiert haben, bedeutet sie doch einen Kontrapunkt zu unserer Ära, in der sich Berlin in der "Mitte" konsolidiert. "Berlin war mal eine kalte und eine heiße Stadt, jetzt ist sie cool geworden", lautet sein gut gepflegtes Bonmot, das Castorf dem "Kaufmann von Berlin" im Programmheft beigibt. Dass die Uraufführung 1929 von Erwin Piscator besorgt wurde – nach seinem Weggang von der Volksbühne zum Nollendorfplatz (wo sie schnell Zielscheibe nationalsozialistischer Hetze wurde) –, spielt der Wiederentdeckung zusätzlich in die Karten. Schließlich legt Piscators politische Montageästhetik, mit Video und Episierung, eine Traditionslinie an, die bis zu Castorf selbst führt.

Eingekürzt sind die pathetischen Dimensionen der Stückhandlung. Mit einhundert Dollar steigt der Jude Kaftan während der Inflation zum Bankier auf, wird bald unwissentlich von antisemitischen Putschisten als Finanzier eingespannt, ehe er durch die Währungsstabilisierung nicht nur sein Vermögen, sondern, während ein Pogrom wütet, auch seine Tochter Jessi verliert. Der Tod der Tochter fehlt bei Castorf (stattdessen endet es etwas profaner mit dem Eintritt in die Prostitution). Alle anderen Geschehnisse klingen in einem großen Stimmengewirr an, das die Inszenierung schrill orchestriert.

Feuerritt auf Flakgeschütz

Der Akzent liegt auf den nationalistischen Rändern, deren Echoraum durch Reflexionen auf die Walter-Rathenau-Attentäter um Ernst von Salomon und die Organisation Consul verbreitert wird. Dieter Mann gibt bei seinem Gastauftritt an der Volksbühne wunderbar gemessen den antisemitischen Strippenzieher Dr. Müller (wie das Great Barrier Reef in der Brandung des Castorf'schen Wuseltheaters). Wildjagend umspielt ihn ein Marc Hosemann in Höchstform mit diversen durchgeknallten Rechtsauslegerauftritten, sekundiert von Mex Schlüpfer, der aasig seine SA-Chargen hinkauzt.

Und Kaftan? Er durchläuft bei Sophie Rois eine Assimilationsbewegung vom wirr staunenden Hundert-Dollar-Juden (mit Bart und Pelzmütze) zum buchhalterischen Anzugträger mit Pilzkopffrisur. Durchweg bleibt er lieblich naiv. Einfachste Additionen fallen ihm so schwer wie Grundschülern eine Differenzialgleichung. Das Klischee vom gierigen Juden ist gründlich weginszeniert. Für Power seitens der Seinigen sorgen abwechselnd eine fabulös garstige Margarita Breitkreiz als seine Tochter Jessi und Maria Kwiatkowsky als selbige Jessi, wenn sie das finale Pogrom zionistisch konterkariert und durch einen Feuerritt auf einem Flakgeschütz beantwortet.

Politik wird Popanzspektakel

Überall wird gegen den Strich gelesen, sprießen die Travestien. Haltungen wechseln im Sekundentakt. Figuren werden in Zitatkonglomerate pulverisiert. Mindestens am Anfang ergibt das einen schönen Historienschwank. Auf die vier Stunden Gesamtdauer gesehen, drängt sich dann aber doch die Frage auf, wozu der abnehmend lustige Mummenschanz eigentlich angesetzt ist. Die Balance zwischen Mitte und Peripherie gerät in der allumfassenden Dezentrierung von Figuren und Motiven jedenfalls bald aus dem Blick.

Mehring zeigt, wie Kapital politisch instrumentalisiert wird und sich letztlich gegen den Kapitalisten Kaftan selbst wendet. Eine Fabel mit tragikomischer Ironie. Castorf treibt sie weiter in den Sarkasmus: Im Zeichen des Kapitals verwandelt sich bei ihm alle Politik in Popanzspektakel. Auf einen dialektischen Rückschluss oder auch nur einen Hauch existenzieller Grundierung wartet man vergebens. Nirgends gibt das Spektakel den Blick frei auf eine Politik, die das Kapital ihrerseits zu bändigen wagte. So bleibt die historisch – mit Blick auf die aufkommenden Bewegungen der 1930er Jahre – reichlich unschuldige Lektüre auch aktuell wenig anschlussfähig. Und man bestaunt und bedauert eine Inszenierung, die viele Salti schlägt, ohne ein Mal auf den Füßen zu landen.


Der Kaufmann von Berlin
von Walter Mehring
Regie: Frank Castorf, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Video: Jens Crull, Kamera: Mathias Klütz, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Bärbel Bolle, Margarita Breitkreiz, Marc Hosemann, Maria Kwiatkowsky, Dieter Mann, Sophie Rois, Mex Schlüpfer und Volker Spengler.

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr zu Frank Castorf gibt's im nachtkritik-Lexikon. Und wer Lust auf noch mehr Kaufmänner hat, lese über Shakespeares "Kaufmann von Venedig", etwa in den Inszenierungen von Armin Petras am Berliner Maxim-Gorki-Theater oder von Elmar Goerden in Bochum. Auf welchen Bühnen die Kontrakte des Kaufmanns von Elfriede Jelinek jüngst zu sehen waren, können Sie ebenfalls im nachtkritik-Lexikon erfahren.

 

Kritikenrundschau

Castorf verspüre einen aufklärerischen Auftrag, meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (22.11.2010), und zwar "angesichts der nachgewachsenen und zugezogenen glatten Leute, die hier in Mitte wohnen und die keine Ahnung von der Lokalgeschichte haben." Dieses Bildungsanliegen habe ihm "von einem seiner vielen Ex-Dramaturgen den Vorwurf eingebracht, er wolle ein Märkisches Museum aus der Volksbühne machen. Doch da besteht keine Gefahr. Denn für einen Heimatkundelehrer verfügt Castorf zwar über das nötige brennende Interesse, was ihm jedoch fehlt, ist jegliche vermittlerische Geduld. Seine Inszenierung führt vor allem zweierlei vor: die Omnipotenz der Schauspieler und die Unkundigkeit des beschämten und ermüdeten Zuschauers." Von einem gelungenen Abend könne "trotz aller assoziativen und schauspielerischen Energie nicht die Rede sein, eher von einer wilden, interessanten dramaturgischen Katastrophe. Aber Gelungenheit ist nun mal eine Kategorie, die einen wie Frank Castorf langweilt."

Im Tagesspiegel (22.11.2010) schreibt Andreas Schäfer: "Sich im Stoff verlieren! Ist das nur einer der vielen Kalauer, die in der Luft liegen, oder Castorf'sche Selbstironie? Es lag nicht nur 1923 und 1929 viel in der Luft, sondern auch vor dieser Inszenierung, einem Coup der Volksbühnendramaturgie. Es kommt viel zusammen. Die Wiederentdeckung eines vergessenen Autors mit einem noch mehr vergessenen Skandalstück, das rund um den Bülowplatz im Scheunenviertel spielt, quasi am Ort der Volksbühne. Inflationssorge, Terrorwarnungen. Die Spannung war also groß - und verflüchtigte sich schnell während der schläfrigen Betrachtung eines Bilderreigens, eines vierstündigen George-Grosz-Gedenkpanoramas." Castorf inszeniere nicht, sondern male "das Grelle, Chaotische, Klischeehafte nach und blättert eine Art dreidimensionales Wimmelbuch der Zwanziger durch. (...) Es liegt ein süßlicher Historismus in der Luft, das Sentiment eines Briefmarkensammlers, das sich mit dem derben Humor einer Boulevardbude mischt. Mensch, damals war ja wat los jewesen!"

Die Welt (22.11.2010) widmet sich dem "Kaufmann von Berlin" in einer Kurzkritik, von der online nicht zu entscheiden ist, ob sie von Ulrich Weinzierl oder Elmar Krekeler stammt. Darin heißt es: Castorf "erkannte zwar, dass Mehrings Textmonster kaum als Steinbruch für eine schicke Parabelrevue auf die Gegenwart taugt. Er wollte es trotzdem spielen. Und so machte er eine Historienrevue draus: übers antisemitische, geldgeile, militaristische Weimardeutschland, über den unaufhaltsamen Aufstieg der braunen Brut. Türen klemmen. Der Text klemmt. Die Souffleuse hat ordentlich zu tun. Die Schauspieler haben es auch. Wie in Fieberschüben müssen sie Tonlagen und Rollen wechseln. Es wird ausgiebig jiddisch gesprochen. Was muss man eingenommen haben, fragen wir uns, um zu verstehen, was da abgeht?"

Mehr kann Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (22.11.2010) diesem "Kaufmann von Berlin" abgewinnen. "Mehrings ausuferndes Stück ist eine literarische Wiederentdeckung, spitz und ironisch wie Tucholsky, kraftvoll und lebensnah wie Döblin, auch eine lebenspralle Berlin-Studie". Nicht dem "Aufstieg und Fall eines Ostjuden", sondern breiten "Milieu-Exkursionen" gelte Castorfs Aufmerksamkeit. Es sei ein "wüster, oft oberflächlicher Bilderbogen", der insbesondere durch Dieter Manns Gastauftritt "Momente der Tiefenschärfe" erhalte. Ebenso gelungen sei das Bühnenbild von Bert Neumann, in dem das Grunewald-Foto eine bittere Pointe liefere. Eingangs retuschiert, entdecke man später, wenn die Retusche schwindet, dort das Schild "Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht." Fazit: "Hätte der Abend ein paar mehr Zuspitzungen dieser Art und weniger Leerlauf gehabt – er hätte ein großer werden können."

In der Märkischen Allgemeinen Zeitung (22.11.2010) nimmt Frank Dietschreit diese Aufführung und ihre "hinlänglich bekannten Bühnen-Späße" weniger gelassen: "Linker Antisemitismus" lautet sein Vorwurf an Mehrings Stück und seine Hervorholung aus dem "Theater-Giftschrank" durch Castorf: "Die von Mehring erfundenen und von Castorf auf die Bühne geschickten Juden sind Karikaturen ihrer selbst, brüllen in unverständlichem Jiddisch laut durcheinander, wollen Geschäfte um jeden Preis machen. Was in der Finanzkrise zum Glück keine Rolle spielte, hier kommt es zum Tragen: Das antisemitische, auch von der politischen Linken bediente Vorurteil vom raffgierigen Juden." Dieses Klischee, so der Kritiker, werde "auch nicht dadurch dementiert, dass Castorf die Rolle des Kaftan mit einer Frau besetzt."

Genau diesen Punkt sieht Hartmut Krug im Deutschlandfunk (Kultur heute, 21.11.2010) anders. Nicht nur mit der "souverän kabarettistischen" Einstiegsszenene entgehe Castorf dem Antisemitismus- wie dem Philosemitismus-Vorwurf, sondern auch "weil Sophie Rois diesen Kaftan als einen naiv-träumerischen, vor allem um seine kranke Tochter besorgten Menschen spielt". Castorf habe "das politische Erklärstück als historisches Spektakel inszeniert". Jedoch agiere darin jeder Schauspieler "wie er will und wie er sich fühlt oder sieht, und immer pflegt er dabei mit expressiver Überdeutlichkeit seinen eigenen, selbstgenügsamen Stil." Es sei "ein Schreitheater mit oft undeutlicher Artikulation, dem man eine Regiearbeit mit den Schauspielern nicht anmerkt." Trotz der Auftritte von Dieter Mann ("ein erratischer Kraftblock in einer zerfaserten Inszenierung") zeigt sich der Kritiker konsterniert: "Selten wurde so deutlich, dass Frank Castorf, verdienter Regisseur der Volksbühne, ästhetisch und inszenatorisch in einer Sackgasse gelandet ist."

Castorf "sieht die historische Kontinuität von Rassismus, Chauvinismus und seelenfressendem Kapitalismus", schreibt Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (24.11.2010): "Deswegen dieses Stück. Deswegen die Radikalität der Mittel, das Vorlaut-Aufdringliche, das viele Besucher so verstört, dass sie schon zur Pause das Weite suchen." Dabei erkläre sich die Inszenierung erst von hinten und sei sinnvoll, obwohl der Abend miserabel durchchoreografiert sei und die Aussetzer enervierten: "Die Inszenierung ergibt politisch Sinn. Weil sie beschreibt, wie pervers der Prozess einer Akkulturation verlaufen kann, und wie verheerend und fremdgesteuert Faschismus auch im Einzelnen entsteht."

Weit weniger kann Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.11.2010) mit dem Abend anfangen: "Castorf walzt Mehrings deftige Collage zumeist äußerst uninspiriert durch trockene erzählerische Passagen und banal-überdrehte Soloeinlagen vier Stunden lang aus." Ansonsten werde "sattsam gejiddelt, berlinert, gebrüllt, gekreischt. Manchmal versteht man ansatzweise, dass der kritisch-polemische Autor einst Themen wie Antisemitismus, Nationalismus, Kapitalismus, Faschismus aufgespießt hatte." Immerhin lässt sich Frau Basinger von der Idee betören, "die außergewöhnliche Sophie Rois als Kaftan zu besetzen, wie um den Konflikt zwischen ursprünglicher und angenommener Seinsform zu verdeutlichen. Zuerst in orthodoxer Tracht mit Bart, dann im Geschäftsanzug ohne Bart, am Schluss im roten Paillettenkleidchen zeigt sie diesen ewigen Juden als kokettes wie getriebenes Energie- und Nervenbündel im Stil vergnügter Stummfilm-Ästhetik.

"Die einmontierten Vulgarismen aus Zilles 'Huren-Gesprächen', die historischen Ausflüge in die links- und rechtsradikalen Gespensterdebatten der zwanziger Jahre samt Ernst von Salomons nationalbolschewistischem Geplauder - das hat so viel Sprengkraft wie ein nass gewordener Silvesterkracher", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.12.2010), "auch wenn Marc Hosemann Ernst von Salomon sehr komisch als eine Art verstrahlten Groucho Marx spielt." Fazit des kurzen Texts: "Rezessionsboulevard und Kolportage, nur dass sich das arg zäh und zunehmend melancholisch und trist dahinschleppt."


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