Eiskalte Hand, mir graut vor dir

von Simone Kaempf

Berlin, 25. November 2010. Helge und Tina, Bernd und Rita, und jetzt also Peter und Petra. Ganz normale kleine Menschenleben, die in den Stücken von Sibylle Berg schon in unterschiedlichen Variationen vorgeführt wurden mit ihren mehr oder minder leidensreichen Leben, in denen es das Schicksal nie gut meint und ihre Gewöhnlichkeit genüsslich zelebriert wird. "Ein Kind im Uterusse schwimmt, es ist zu nix speziell bestimmt", so kam Helge in Bergs schönem "Helges Leben" zur Welt. Und der Satz kann genau so auch für Peter stehen, dem Sibylle Berg in "Nur Nachts" gleich noch ein weibliches Pendant zur Seite gestellt hat.

Petra und Peter, zwei Mittvierziger, "gleich geringer Marktwert", träumen noch einmal von der Liebe. Ihr romantischer Neuanfang wird tatkräftig begleitet von einem Einsatzleiter und zwei Geistern, die tun, was sie am besten können: Ängste schüren und schlechte Träume bereiten, herumspuken und Zweifel säen. Berg schickt ihre Figuren in ein kleines Stationendrama aus Tag- und Nachtszenen, Kinderstube und Altersheim, wo das Lehrstück mit dem nahenden Tod seinen Sinnhorizont findet. Wie sagt es Peter: "Hätten wir gewusst, wie albern das ist, das Ende, wie schnell es kommt und wie lächerlich, dann hätten wir den Rest nicht so ernst genommen."

Die Geister vermehren sich

Es ist nicht das erste Mal, dass Sibylle Berg diese Botschaft in ein Stück hüllt. Allerdings tauchten Geister als kommentierende Conferenciers noch nicht auf. Meist sind es bei ihr Tiere, die das menschliche Alltagselend beobachten und sich gar als Vergnügungsprogramm einlegen. Jetzt also Gespenster, und in der Inszenierung von Rafael Sanchez in den Kammerspielen des Deutschen Theaters stehen erst zwei, drei mit verkreuzten Armen in der Gegend rum. Dazu die Chefgeister (Natali Seelig und Christoph Franken), Störenfriede mit dunklen Augenhöhlen, ins Mikro rülpsend, wenns romantisch werden soll. Nervenbündelig die Kinder mimend, die doch Unsterblichkeit bringen sollen.

Die Angst nimmt zu, die Geister vermehren sich. Zwei Dutzend sind es schließlich, die mal chorisch Gedichtetexte soufflieren oder im Gleichschritt aufmarschieren. Sie sind in der Überzahl, entkräftend albern ist ihr Anblick: weiße Schutzanzüge wie Ermittler der Spurensicherung und freundliche Stoffmasken à la Halloween-Umzug. Sollte es ein semiotisches Horrordrama werden? Eine Beziehungskomödie mit Schreckensclowns? Man weiß es nicht.

Spiel mit den Ängsten und Illusionen

Sibylle Bergs Spott zielt insgeheim in Richtung Wirklichkeit, in der man sich so lächerlich leicht verblenden lässt und ein eigener Weg möglich ist, auch wenn sie die Jugend als besonders klug, das Alter als weise, der Massengeschmack als besonders bunt tarnt. Sanchez‘ Geisteraufmarsch ist ein Ulk, der im Spiel mit den Ängsten und Illusionen flach bleibt.

Die Lacher holt sich die Inszenierung aus ihrem drastischen Mitteleinsatz – mal eine tumb abgeschlagene Hand, dann eine Opernarienverulkung von Grönemeyers "Flugzeuge im Bauch", auf dessen Melodie sing man jetzt "Eiskalte Hand, mir graut vor Dir". Ein Musical will der Abend auch sein. Pathetisch Filmmusikalisches wird aufgedreht. Ein Saxofonist steuert Jazziges bei.

Möbelpackende Geister in zivil

Das Paar, um das es eigentlich geht, hat den schwersten Part. Judith Hofmann spielt Petra wie im Text angelegt bewusst blass und unscheinbar. Peter Moltzen als Peter versucht seiner Figur via Körper- und Bewegungssprache Format zu verleihen und inmitten des Gespensterulks sichtbarer zu machen. Sanchez schenkt ihnen sogar ein paar schöne Szenen, lässt ihre übergroßen Schatten auf einer Wand gefrieren wie Kinderangstbilder in einem Märchenbuch.

Und im Happy End fährt Peter bei seiner Petra tatsächlich mit dem versprochenen Möbelwagen vor und man sieht wie durch die Türkamera einen Film, in der er ihr nicht nur am Schlagzeug die Liebe gesteht, sondern dass auch die Geister, jetzt in zivil, als Möbelpacker mit dabei sind. Wenn das keine wundersame Wendung der Bindungsängste ist! Insgesamt aber hat Sanchez kein gutes Händchen für Bergs bösen Humor. Beißt sich stattdessen am albernen Schabernack der Geister fest, denen man das Lehrstück über den Weg zur persönlichen Freiheit nicht abnehmen mag.

 

Nur Nachts
von Sibylle Berg
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Simeon Meier, Kostüme: Ursula Leuenberger, Musiker: Cornelius Borgolte, Video: Christoph Menzi, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Judith Hofmann, Peter Moltzen, Natali Seelig, Christoph Franken, Cornelius Borgolte und einundzwanzig weiteren Geistern.

www.deutschestheater.de

 

Mehr zu Inszenierungen von Rafael Sanchez gibt's im nachtkritik-Lexikon. Sibylle Bergs Stück wurde im vergangenen Februar von Niklaus Helbling am Wiener Burgtheater uraufgeführt.

 

Kritikenrundschau

"Vielen Dank" sagt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (27.11.2010) angesichts dieser "unerschrocken maulenden Schimpfdramatik", die "mutigerweise auf so altmodischen Kram wie Figuren, Szenen oder Poesie verzichtet und statt dessen gemütlich im Wohlstandssofa eines Mittelklassezynismus versinkt, um sich an allen Facetten des früh-, spät- und nachpubertären Weltekels zu laben". "Szenenbastler" Rafael Sanchez habe die Vorlagen von Sibylle Berg dankbar aufgegriffen und ein "Jugendtheatermusical mit viel Sologesang" daraus gemacht. Das Protagonistenpaar werde in diesem "toll rührigen Abend von der toll wandlungs- und also überraschungsfähigen Schauspielerin Judith Hofmann und der Peter von dem ebenso tollen Peter Moltzen gemimt". Die Geister, die das Glück des Duos Peter und Petra (dem Berg-Plot zufolge) immer wieder zu verhindern trachteten, "tragen lustige Ganzkörperanzüge, putzige Strickmützen mit knuddeligen Ohren dran, wedeln mit den Armen, hopsen im Kreis, tippeln in Gruppenformation", wie Pilz schreibt und dabei eher gemäßigtes Vergnügen signalisiert.

Rafael Sanchez habe "Nur Nachts" als eine Art Trash-Revue auf die Kammerbühne des Deutschen Theaters gebracht. "Und man muss durchaus fasziniert feststellen, dass man lange nicht zwei derart unterschiedlichen Humorsorten bei der gegenseitigen Neutralisierung zusehen durfte!", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (27.11.2010). Während Bergs Text schlank und spitz auf Pointen zulaufe, inszeniere Sanchez gleichsam in die Breite. "Er malt die böshumorige Midlife-Satire mit einer Überfülle bewusst plakativer Regieeinfälle aus: Das Geister-Duo wächst sich nach und nach zu einer 30-köpfigen Gespensterarmee aus. Auf Videowände werden effektsichere Schattenrisse projiziert. Eine abgehackte Hand dient als Kalauerstoff für das gesamte semantische Feld von 'Händler' über 'Handschuhfach' bis zu 'Handke, Peter'." Oft hebe der Inszenierungsulk den Zynismus des Textes einfach auf. "In einem Punkt allerdings treffen sich Text und Inszenierung hervorragend: Die Nabelschau des 'gepflegten Durchschnitts' (Berg) beschwört ein ebenso von globaleren Problemen unangekränkeltes Neunziger-Jahre-Gefühl herauf wie Sanchez' poppige Spaßtheater-Mittel. Falls das ein subtiler Fingerzeig gewesen sein sollte, ist er gelungen."

 

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