Oh Tannenbaum, wie brennst du so lichterloh!

von Ulrich Fischer

Bonn/Bad Godesberg, 3. Dezember 2010. Weihnachtsmarkt auf dem Theaterplatz stimmt die Uraufführungsbesucher ein auf Sibylle Bergs neues Drama – "ein Weihnachtsstück" heißt es im Untertitel. Im Eingangsbereich der Kammerspiele lauert allerdings die Ernüchterung. "Jetzt ist Schluss!", schreiben die empörten Theaterleute und werben für Unterschriften. Die Argumente wiegen schwer: "In den letzten 10 Jahren hat das Theater der Stadt Bonn 14 Millionen Euro eingespart. Heute arbeiten 230 Menschen weniger am Theater als im Jahr 2000." Aber das reicht den Stadtoberen noch nicht. Die Theatergemeinde schreibt ihren Mitgliedern und allen Bonner Bürgern: "Der Skandal dabei ist, dass es die Stadt Bonn für denkbar hält, ihr Schauspiel und ihre Oper gänzlich preiszugeben." Als Quintessenz formuliert Elisabeth Einecke-Klövekorn, die langjährige und kampferprobte Vorsitzende der Theatergemeinde: "Dem Theater Bonn droht ein irreparabler Schaden."

Wider die Rotstiftschwinger

Während ich unterschreibe, denke ich, dass die Bezeichnung "Bundesstadt", mit der sich Bonn in Erinnerung an seine einstige Hauptstadtfunktion schmückt, in diesem Zusammenhang einen finsteren Nebensinn bekommt: Wenn dieser Skandal durchgeht, können die neoliberalen Rotstiftschwinger sich im Kampf gegen kritische Podien weiter ermutigt fühlen.

Sibylle Berg findet den angemessenen sarkastischen Ton, das hat sie schon in früheren Stücken bewiesen. Klaus Weise, Bonns Intendant, der viel zu lang zu den Zumutungen der Bonner Kulturpolitik geschwiegen hat, kann sich zu Gute halten, die Berg fürs Theater gewonnen zu haben. Als er noch Oberhausens Bühne leitete, hat er die Schriftstellerin, die sich gern schrill und exzentrisch gibt und dem Theater skeptisch gegenüberstand, überredet, ein Stück zu schreiben – inzwischen ist sie durchgesetzt.

Sozialdemokratisch vs. anpassungsselig

"Lasst euch überraschen!" ist eine Auftragsarbeit, die Lektüre ein Vergnügen: Die Fabel, die Figuren, der Dialog, alles makellos. Vater und Mutter, beide "Ü 60", haben ihre inzwischen erwachsenen Kinder und deren Partner zum Heiligen Abend eingeladen. Das Elternpaar erwartet wie das Publikum den Beginn einer unabsehbaren Folge von Katastrophen – die Eltern bang, das Publikum hoffnungsfroh. Es wird nicht enttäuscht.

Die Eltern waren wohl mal Achtundsechziger, sind inzwischen brave Sozialdemokraten und entsprechend enttäuscht über die windschnittige Anpassungsseligkeit ihrer Kinder. Marie arbeitet in einer PR-Agentur, ihr Gatte Fred ist "Lektor in einem dieser Verlage (Random House etc.), die funktionieren wie die Musikindustrie. Übergewichtig." Lukas, der Sohn, arbeitet als Kurator, seine Freundin Lena ist schwanger. Da wir es erstens mit einem Drama und zweitens mit einem von Sibylle Berg zu tun haben, ist Lena im neunten Monat und das Kind kommt kurz vor Stückende zur Welt. Drittens handelt es sich ja um ein Weihnachtsstück – beim Anlass der Feierlichkeiten soll ja auch ein Baby eine wichtige Rolle gespielt haben.

Mehr als Liebe hält Habsucht die Familie zusammen. Objekt der Begierde ist das Haus, "Die Villa" genannt. Die Eltern gedenken nicht, es herzugeben, Marie will es für sich und Lukas nicht minder. Die Geschwister schmieden Ränke gegen- und lästern übereinander – zumal Fred gerade arbeitslos geworden ist. Er scheint unfähig, sich gegen Vorwürfe zu wenden, er sei selbst schuld.

Eine zu verachtende Ansammlung überheblicher Menschen

Sibylle Berg erfindet noch ein drittes (Halb)Geschwister, "Minu – ca. 20, farbig, kann angemalt werden", der lebende Beweis für die Untreue des Vaters. Er hat das reizende Kind mit der Frau eines Freundes gezeugt, was den Familienzusammenhalt stärkt, weil seine Frau mit deren Gatten über lange Jahre ein inniges Verhältnis gepflegt hat. Als dies alles aber aufgedeckt wird, reagiert der Vater halbpanisch und will sich aufhängen – Sibylle Berg arrangiert ein apartes Nebeneinander von gescheitertem Selbstmord und Geburt. Je größer das Chaos desto mächtiger der Spaß. Erfreulicherweise nimmt Sibylle Berg selbst dem Kritiker Arbeit ab, indem sie ihre Figuren Aspekte des Stücks selbst kommentieren lässt – Fred ätzt: "Ihr seid nicht mehr als eine zu verachtende Ansammlung überheblicher Menschen."

Im Dialog finden sich sonderbar geschliffene Formulierungen: "Müllerhaben betreibt eigentlich soziopolitische Recherchen. In allen seinen Arbeiten spielt das Verhältnis 'öffentlich-privat' eine zentrale Rolle, indem er die Formen des Öffentlichen, des öffentlichen Brauchs, Gebrauchs oder der divergenten Umnutzung von Dingen auf ihre individualpolitischen Implikationen hin erforscht." Mit solchen sich häufenden verbalen Zumutungen – an Schauspieler wie Zuschauer – macht sich die Berg mal wieder über das Geblähte öffentlichen Sprechens lustig, unter besonderer Berücksichtigung des allerneusten Wissenschaftsjargons. Auch andere Bereiche des öffentlichen Lebens (Kunst, Literatur) schickt sie in einem gekonnten Rundumschlag auf die Bretter. Und hat dabei wieder ihren guten alten Rat parat: Lasst euch nicht von hochstapelnden Bombastrednern und anderen selbsternannten Experten imponieren. Verlasst euch auf euren eigenen gesunden Menschenverstand!

Tiefenschicht der Komödie

Das Leichte ist so schwer zu machen. Andreas Freichels hat ein abstraktes Bühnenbild entworfen. Den sechs Hauptdarstellern entsprachen sechs überlebensgroße, bewegliche Elemente, die, wenn je zwei zu einem Paar zusammengefügt wurden, ein Quadrat zeigten, in dessen Inneren ein Kreis ausgespart bleib. Diese Elemente fanden im Lauf des Spiels nur selten zusammen – bewegt von Technikern in ihrem Fuß, die sich über Funk verständigten.

Maaike van Langen suchte, wie ihr Bühnenbildner, unter der Oberfläche. Die niederländische Regisseurin macht eine Tiefenschicht der Komödie sichtbar, die Trauer über die Konflikte zwischen den Generationen, ohne das Komische zu vernachlässigen. Und sie erfand starke Bilder, das eindrücklichste: Ein Tannenbaum schwebt vom Schnürboden herab und beginnt zu brennen. Nicht die Kerzen, der Christbaum brennt lichterloh. – So kam eine melancholische, surrealistisch getönte Uraufführung zu Stande: Ganz unabhängig von Weihnachten gibt es angesichts des Streits das Bedürfnis nach mehr Harmonie, nach einem Miteinander, nach Verständnis und nach jener Anerkennung, die jeder fordert und kaum einer bereit scheint zu geben.

Exzellieren im Egoismus

Das Ensemble spielt uneinheitlich: Susanne Bredehöft wirkt als Mutter mehrmals überfordert. Sie übertreibt die Stadien zunehmender Trunkenheit, übertreibt auch die Exaltationen; die Regie hat ihr zu wenig geholfen, eine kohärente Figur zu finden. Rolf Mautz als Vater agiert überzeugender, skizziert einen Mann, der versucht, über die klaffenden Abgründe Brücken zu bauen, aber ohne wirklichen Elan. Daneben zeigt Mautz auch den Betrüger.

Die Darsteller der jungen Generation exzellieren im Egoismus, wenn es darum geht, Konkurrenten in die Pfanne zu hauen. Die Bereitschaft zu teilen wäre für sie nur eine Schwäche. Bei den Wichtigtuer-Wortpassagen hatten alle Schwierigkeiten – einige Pointen kamen nicht über die Rampe. Die Akteure vermochten nicht, das gesamte komische Potential Sibylle Bergs zu entbinden, da wäre noch einiges zu optimieren.

Den begeisterten Schlussapplaus unterbrach dann Rolf Mautz und verlas, während alle an der Produktion Beteiligten hinter ihm auf die Bühne traten, eine Resolution der Bühnenangehörigen zur Verteidigung der Bonner Theater, bat das Publikum um Unterstützung. Es dankte ihm mit abermaligem Beifall, eine demonstrative Geste des Einverständnisses. Hoffentlich saß Bonns neuer Kulturdezernent im Publikum und kann seinem Oberbürgermeister berichten.

 

Lasst euch überraschen! Ein Weihnachtsstück (UA)
von Sibylle Berg
Regie: Maaike van Langen, Bühne: Andreas Freichels, Kostüme: Beatrice von Bomhard, Licht: Helmut Bolik, Dramaturgie: Christopher Hanf.
Mit: Susanne Bredehöft, Charity Laufer, Kornelia Lüdorff, Maria Munkert, Oliver Chomik, Arne Lenk, Rolf Mautz.

www.theater-bonn.de

 

Auch Sibylle Bergs Stück Die goldenen letzten Jahre wurde am Theater Bonn uraufgeführt. Außerdem wurde die Autorin dafür zu den Mülheimer Theatertagen 2009 eingeladen.

Mehr zur Krisen-Lage in Bonn: Die nachtkritik-Meldungen vom 9. November (inklusive ausgiebiger Thread-Diskussion), vom 17. November und vom 26. November 2010.

 

Kritikenrundschau

Same procedure as every year! Vater stolpert über eine Alubox wie Butler James über den Tigerkopf, "doch der Titel der Weihnachtssatire, die Sibylle Berg dem Theater Bonn geliefert hat, verheißt mehr", so Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (5.12.2010). Es "bleibt nicht bei den Klischees eines Generationenkonflikts, in dem sich die Alten über den prekären Biedersinn der Jungen mokieren und diese ihnen vorwerfen, sie für ideologische Marotten vernachlässigt zu haben". Auf einmal brennt der Baum und die farbige Minu stellt sich als Tochter des Vaters vor, der jahrelang ein Doppelleben führte. Happy End sei Pflicht, "und so kommt Lena noch nieder. Es ward ein Kind geboren." Fazit: eine "dramatische Bastelarbeit", von Maaike van Langen "typengenau besetzt" und "flott" inszeniert.

"Sie fallen übereinander her, saufen, machen sich gegenseitig fertig", berichtet Dietmar Kanthak im Bonner Generalanzeiger (6.12.2010). "So etwas erlebt man immer wieder gerne, zumindest im Theater." Fast jedes Wort besitze "eine Spitze, eine dürftig verkleidete Beleidigung. (...) Absoluter Höhepunkt: Freds Auftritt im Elchkostüm, ein finnisches Volkslied singend." Bergs Auftragswerk setze auf "plakative Effekte, zynischen, manchmal herrlich absurden Wortwitz und auf boulevardeske, gelegentlich banale Versatzstücke." Obgleich in der Uraufführung nicht "jede Pointe zündete", habe sie doch "galligen Weihnachts-Humor, bis der Baum brannte", besessen. "Die Schauspieler, die abwechselnd im Bühnenboden versanken, aus ihm hervorkamen oder von oben herabschwebten, nahmen Sibylle Bergs saftige Rollen-Angebote dankbar an."

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