Der himmlische Rausch, der sich nicht einstellt

von Petra Hallmayer

München, 4. Dezember 2010. Im Hohelied Salomos glaubte Herder einst zu erkennen, "wie Liebe gesungen werden muss, einfältig, süß, zart, natürlich". Diesem Credo würde sich heute bloß noch die Schlagerindustrie anschließen. Jedes nicht völlig bildungsferne Kind weiß, dass die Liebe nicht nackt und unschuldig dem Herzen entspringt, sondern kulturellen und gesellschaftlichen Mustern folgt. Wirklich klüger hat uns das nicht gemacht. Die Seufzer sind nicht weniger tief und die Träume nicht kleiner geworden.

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©Arno Declair

Von der Unbeholfenheit, mit der wir ihnen nachjagen, erzählt Andreas Kriegenburg nun in den Kammerspielen. "Alles nur der Liebe wegen" heißt sein Theaterprojekt, dessen Texte er gemeinsam mit den Schauspielern erarbeitet hat.

Menschen, die sich suchen und verfehlen
In einer weiten Schlossmuseumshalle mit rosa Marmorsäulen und weiß-güldenen Flügeltüren setzt sich Wiebke Puls zum Auftakt mit einem kecken eleganten Hüftschwung auf einen Stuhl vor das Publikum. "Entschuldigen Sie bitte", sagt sie und listet ihre Wünsche auf. "Entschuldigen Sie, würden Sie mir einen Stern vom Himmel holen?" In einer Folge szenischer Miniaturen begeben sich Frauen und Männer auf die Suche nach dem Glück, deren Gedanken Stefan Merki als zwischen ihnen hin und her huschender Geist laut werden lässt. Alle wollen nur das eine: Ausbrechen aus dem Käfig der Einsamkeit, endlich Zuflucht finden in fremden Armen.

Sie irren durch scheiternde Anfänge, ausgehungert nach Berührungen, laufen davon und verfehlen sich, stolpern in Sackgassen und über ein Fallstricknetz aus riesengroßen Ansprüchen und riesengroßen Ängsten, den Blicken der anderen nicht zu genügen. Sie starren entsetzt auf die Spuren der Zeit auf ihrem Körper, die ihr Selbstbild unerbittlich zerstören. Sie beschwören Kindheitserinnerungen, sagen Gedichte auf und hetzen durch ein tristes lächerliches Speed-Dating. Dabei, scheint es für einen Augenblick, könnte alles so einfach sein.

Flirrend, spinnwebzart, traurig absurd
In leuchtend bunten 50er-Jahre-Kleidern treten die Frauen strahlend schön auf die Tanzfläche. Doch kaum beginnen sich die Paare im Walzertakt zu wiegen, stürzen sie streitend auseinander, weil der himmlische Rausch sich nicht hopplahopp einstellte, wenden sich einem neuen Gesicht und einer neuen Enttäuschung zu. In einer herrlich komischen Pantomime versucht ein jeder sich als begehrenswertes Objekt auf dem Paarungsmarkt anzupreisen, werfen sie sich in groteske Posen, mutieren zu Hoppelhäschen und Gockeln.

Zu Musik von Schostakowitsch bis zu Jazz-Klassikern wie "Mr. Bojangles" entfaltet Kriegenburg mit einem fantastischen Ensemble einen traumgleich versponnenen betörenden Bilderreigen mit traurig elegischen, absurden, spinnwebenzarten, flirrend intimen und burlesken Momenten. Eine pausenlos plappernde Frau richtet den Anzug ihres Mannes, zupft unablässig an ihm herum, bis er ihr in den Finger beißt und sie schreiend zurücklässt. Ein alter Mann wartet seit 32 Jahren jeden Donnerstag auf seine Geliebte, die nie kommt und trifft dabei ein junges Mädchen. Nicht jede der Szenen ist allerdings gleich bestechend. Raffungen hätten gut getan, mitunter schleichen sich Längen ein und die überdehnte Kinderei einer Tombola, bei der das Publikum Umarmungen gewinnen kann, ist gänzlich überflüssig.

Unheimlicher Akt der Inbesitznahme
Doch das kann den Zauber der Inszenierung nicht zerstören, an deren Ende sich für ein Mädchen ihr Traum vom Fliegen erfüllt, das angeseilt "Höher! Höher!" rufend aufwärts gezogen wird, bis es in der Luft schwebt, entrückt und allein. Das Glück zu zweit bleibt an diesem Abend ein uneingelöstes Versprechen. Nur einmal dürfen sich ein Mann und eine Frau einander ganz preisgegeben umschlingen. Mit verknoteten Gliedern machen sie ihre Haut zur Folie ihrer Liebesversicherungen, beschreiben jeden freigelegten Zentimeter mit dem Wort "Ja" in einem unheimlichen Akt der totalen Inbesitznahme.

"Alles nur der Liebe wegen" geht unseren emotionalen Konfusionen, widersprüchlichen Sehnsüchten nach Hingabe und Kontrolle, Nähe und Distanz, nach Authentizität und Wahrhaftigkeit im Gewand der perfekten Inszenierung nicht analytisch auf den Grund, aber das muss auch nicht sein. Wir sehen Splitter von Verhaltensrastern, Bruchstücke von Dramen. Atmosphärisch dicht und wundersam leichthändig fächert Kriegenburg Facetten des Hungers nach Liebe auf.

Und vielleicht spiegelt ja gerade das Fragmentarische, Lückenhafte dieses Projekts etwas von der allgemeinen Ratlosigkeit, von der uns das Heer der Beziehungsexperten und Bilanzbuchhalter der Gefühle nicht befreien kann.


Alles nur der Liebe wegen
Ein Projekt von Andreas Kriegenburg
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Jürgen Tulzer, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Walter Hess, Sylvana Krappatsch, Lena Lauzemis, Oliver Mallison, Stefan Merki, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Edmund Telgenkämper.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mit den Irrungen und Verwirrungen der Liebe befasste sich Andreas Kriegenburg auch in seiner Inszenierung von William Shakespeares Ein Sommernachtstraum, die im September 2010 die Spielzeit am Deutschen Theater Berlin eröffnete.


Kritikenrundschau

Für den Deutschlandfunk (6.12.2010) berichtet Sven Ricklefs über Kriegenburgs Projekt: Der Regisseur buchstabiere "nicht wirklich Geschichten aus", vielmehr erzähle er von "schüchternen Versuchen und missglückten Begegnungen", reiße Schicksale an, spitze Situationen "slapstickhaft" zu, und wo die Figuren in "ihre eigene unleugbar kleine Menschlichkeit" abzustürzen drohten, greife er ihnen mit Musik und Lyrik unter die Arme (hier der podcast zum Nachhören).

Das "melancholische, wunschtraumversponnene Projekt" von Andreas Kriegenburg biete in letzter Instanz nur "Theaterfiguren. Reine Erfindungen", bedauert Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (6.12.2010). Immer wieder blitzten schauspielerische Leistungen auf, auch der Museumsbühnensaal von Kriegenburg überzeugt die Kritikerin ebenso wie das Kostümfest ("big time für Kostümbildnerin Andrea Schraad!"): "Alle paar Minuten ein anderes Outfit, mal Diva sein, mal Hascherl, mal Dame, mal dämlich, eben noch Angsthase, jetzt Angeber – so stellt man sich als Kind Theater vor: als eine große Verkleidungs- und Verwandlungsparty." Jedoch forme sich der Reigen der Figuren nicht zu einem Ganzen: "Lauter Einzelne sind das, Einsame. Fremde, die sich kurz begegnen, sich für einen Moment erhaschen oder einander verpassen." Gleiches gilt für die Produktion insgesamt. Fazit: "Man kann diesen Abend, der musikalisch mit Bach, Schostakowitsch und Satie auf große Emotion setzt, aber auch ziemlich gefühlsduselig und kitschig finden – oder zumindest putzig zusammengepuzzelt. Auch wenn manche Erfindungen herzallerliebst sind: Zu einem organischen, substantiellen Ganzen fügen sich die Miniaturen nicht."

"Mehr 'Bauer sucht Frau' als 'Sex and the City"", ist dieser Abend für K. Erik Franzen von der Frankfurter Rundschau (6.12.2010). Und das ist, angesichts der derzeitigen biologistischen Deutungshoheit in Sachen Liebe, als Lob aufzufassen. "Die dargestellten Parallelminiaturgeschichten bewegen sich zwischen den Polen des Liebesverhaltens eingehegter Erste-Welt-Bewohner: Liebe als Schauplatz eines radikalen Individualismus und als Ort des Sichfindens im Anderen. Das großartige Ensemble in den passgenauen Kostümen von Andrea Schraad spielt den Blitzkrieg der Selbstverwirklichung ebenso unterhaltsam wie doppelbödig, um in der nächsten Szene den Spiegelneuronen Raum zu lassen. Free Hugs!" In ihrer tänzerischen Leichtigkeit wird die Inszenierung dem Kritiker zur Allegorie: "Etwas Großes scheint auf an diesem in seiner Kurzweiligkeit auch berührenden Abend. Das, was Theater und Liebe verbindet. Das Spiel mit dem Partner gleicht dem Spiel mit dem Zuschauer: Man spiegelt sich im Blick des anderen und erhält so Auskunft über sein Selbst."

Wer "an der Seite von Andreas Kriegenburg und seinen acht wunderbaren Schauspielern durch Amors Garten flaniert, wird Bekanntes neu entdecken, sicher Geglaubtes infrage stellen und - möglicherweise - ein bisschen verstehen", stimmt Michael Schleicher im Münchner Merkur (6.12.2010) in das Lob ein. Noch bei "komischen, krachenden Szenen" hüteten sich die Schauspieler davor, "in den Klamauk abzurutschen. Das ist eine schwierige Gratwanderung, doch sie gelingt." So entstehe ein Abend "voller Melancholie und Hoffnung, voller Komik, Zärtlichkeit und Schönheit, voller Sorgen, Träumereien und Poesie. Ein Abend wie das Leben."

Eine "melankomisch flirrende Uraufführung wurde mit großem Applaus gefeiert", berichtet Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (6.12.2010) und schließt sich dem Publikumsurteil an: "Was die acht Schauspieler mit Andreas Kriegenburg (Regie und Bühne) an Texten und Szenen erarbeitet haben, ist ein an Botho Strauß erinnerndes, mit elegischer Heiterkeit grundiertes Szenenmosaik. In der Stunde, in der sie noch nichts voneinander wissen, treffen Passanten, die gern Paare würden, aufeinander." Auch hier wird die schauspielerische und inszenatorische Eleganz hervorgehoben: "Licht, Musik und wunderbare Ensemble-Arbeit fügen sich hier zur hochmusikalischen, poetischen Theaterpartitur, die schwebend leicht, todtraurig und hochkomisch ist."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.12.2010) schreibt Astrid Kaminski: Johan Simons setze als Intendant auf Kontinuität. Dies allerdings ohne Fortune. Ausgerechnet Andreas Kriegenburg, "der sentimentalste aller ausgebuchten Regisseure", sei nun mit einer "sogenannten Stückentwicklung" beauftragt worden. Der "daraus hervorgegangene Theaterabend" künde von der "Sehnsucht", der "ironischen Trend- und Trashkonformität" der Gegenwartsdramatik so was wie "echte Gefühle" entgegenzusetzen, für Kaminski ein an sich "schützenswerter Romantizismus". Nur seien Kriegenburg und die acht Ensemble-Schauspieler "leider besonders schlechte Textdichter". Das Erdichten von Szenen bleibe "plump". Dabei hätten Kriegenburgs Bühnenbildgestaltung und die Eingangsszenen anderes als "schwermutsverunglimpfte Comedy" erwarten lassen. Doch stellten sich "performatives Alternieren der Figuren zwischen Schauspieler und Rolle, zwischen vorausgesetzter und ausprobierter Identität" nicht ein, stattdessen nu"ein Figurenfasching mit bewegungsneurotischen Clowns".

"Am Anfang war die Sehnsucht – und am Ende auch, so etwa könnte man den Szenenreigen (...) auf einen Nenner bringen", meint Silvia Stammen in der Zeit (9.12.2010). Da gebe es "verkorkste Vorspiele, hormongesteuerte Verzweiflungstaten, Selbstentblößungen und Rückzieher im falschen Moment". Außerdem natürlich das wiederum mit "wuchtigem Drehmoment" versehene Bühnenbild. "So klar der Bühnenbilder Kriegenburg einen Raum formulieren kann, so überbordend wirkt nicht selten das Einfallsprinzip des Regisseurs K., zumal wenn kein dramaturgisch zugespitzter Konflikt einen Spannungsbogen vorgibt." Dann verführe der Spieltrieb "zu wild wuchernden Szenenfolgen", in denen "rasant zwischen Elegie und Klamauk geswitcht" werde. Dazu habe Schraad "so viele hinreißende Kostüme entworfen, dass die Akteure von einer Figur in die nächste hechten müssen". In ihrem Tänzen würden die Spieler weniger als Verliebe kenntlich denn "als Virtuosen ihrer Kunst". Kriegenburgs Ansinnen, "ziellos zu arbeiten, wie bei einer Exkursion durch eine fremde Stadt" berge die Gefahr, "sich im Zweifel doch auf bekanntes Terrain zu retten". So ende "die Suche nach dem unendlichen Gefühl" hier "schon diesseits des Horizontes".

 

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