Die Ausgenüchterten

von André Mumot

Hannover, 5. Dezember 2010. Wie leicht ist es zu feixen, wenn die Sittenstrengen von der Lust bezwungen werden. Denn, das ist ja bekannt, das Dionysische lässt sich nicht unter Verschluss halten. Eben noch steht Florian Hertwecks Pentheus als selbstgewisser Karrierepolitiker auf dem weiß lackierten Holzpodest, das im Foyer des Schauspiels Hannover als einzige Bühnenmarkierung dient, und macht Politik der guten Worte. Hier spricht er von Werten und von seinem Feldzug gegen die wilden Feste der Bakchen. "Ich habe alles, denke ich, im Griff", sagt er, als wisse er nicht, dass man niemals ungestraft solche Sätze formulieren darf.

Dann aber werden die Holzplanken von innen hochgedrückt, und aus der Pandorabox der kleinen Tribüne erhebt sich ein lilafarbenes Kissenungetüm. Gezackt wie eine zur gigantischen Hand mutierte Hüpfburg dehnt es sich weiter und weiter aus, Meter und Meter bis zur hohen Decke, auch in die Breite – so weit, dass auch das Publikum zurückweichen muss. Ein spektakulärer Sieg aller verdrängten Lustbarkeiten, ein spektakulärer Sieg des Bühnenbildes, und ein bitterer zugleich.

"Betrinke dich sofort!"

Denn so einfach ist das nicht mit dem Konflikt zwischen Ordnung und Orgie, nicht in der letzten, vor Menschen- und Götterverachtung strotzenden Tragödie des Euripides, und zum Glück auch nicht in der Inszenierung von Christian Tschirner. Der nämlich ist klug genug, um zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die wahrlich keinen Aufruf zu mehr Alkohol und Enthemmung nötig hat.

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Hanna Scheibe als pöbelndes Partywrack
© Katrin Ribbe

Und so ist bei ihm der blinde Seher Teiresias kein weiser Verkünder, sondern ein recht scheußlicher Narr. Die fabelhafte Beatrice Frey zappelt sich kapriziös in eine aufgesetzte Ekstase, legt sich eine Fuchsstola auf den Kopf und greift affektiert zum Flachmann ("Höre meinen Rat", lallt sie, "betrinke dich sofort!"). Außerdem taucht sie ihre Finger tief hinein in die Erde der kleinen Blumentöpfe, wobei sich herausstellt, dass die apollinisch gepflegten Zierbäumchen in mit Kakao bedecktem Tiramisù wachsen, mit dem sie sich Gesicht und Hosenanzug besudelt. Um zu beweisen, dass auch sie feiern, frei sein, mithalten kann.

Die Tränen des Kadmos

Die Inszenierung setzt durchgängig auf solche biestigen, aber zurückhaltenden Travestien des Rausches, vor allem wenn sie den Pianisten Juri Kudlatsch Schumanns "Carnaval" zur Begleitung spielen lässt. Ganz im Sinne des Stückes, drückt sich in diesem zutiefst ironischen Rückgriff auf die Diszipliniertheit der Kulturmusik ein tiefes Unbehagen gegenüber aller Maßlosigkeit aus.

So dürfen dann auch aus dem Ordnungssucher Pentheus und seinem willfährig die Pflanzendeko trimmenden Adjutanten (Mathias Max Herrmann) schließlich die erbarmungswürdigen, tragikomischen Opfer eines grausamen Dionysos werden, den Sebastian Kaufmane zum langhaarigen Leistungsverweigerer im Schlabberpulli macht. Als apathischer Egomane lässt dieser zudem die Mutter des Pentheus zur Mörderin und zur verwahrlosten Hedonistin werden: Hanna Scheibe stakst im goldenen Partyfummel heran, offenkundig high, das blutverschmiert pöbelnde Wrack einer durchzechten Partynacht, von deren Grausamkeit wir nur durch den fiebrigen, aber nie deklamatorischen Botenbericht eines fassungslosen Mathias Max Herrmann unterrichtet werden.

Es passt zum Konzept dieser überaus konzentrierten, texttreuen Ausnüchterung, dass es keinen Chor gibt, sondern immer nur Menschen, nie Abstrahierende, immer nur Betroffene. Dabei wächst ausgerechnet der greise Ex-Regent Kadmos zum eigentlichen Helden heran, weil er zu Beginn glaubt, ebenfalls dem Imperativ des Rausches folgen zu müssen, und schließlich als Stimme des Abends in konservativer Verzweiflung auffährt, sich empört, um das Zerstörte trauert. Dieter Hufschmidts Tränen haben eine starke Wirkung, ebenso wie der grandiose Auftritt des von Dionysos bezwungenen Pentheus, wenn er entblößt, verheddert in heruntergelassener Hose, schmerzlich sexualisiert und jeglichen Verstandes beraubt, durch das Theaterfoyer irrt.

... und ein Epilog

Keine Kleinigkeit: Aus der unlösbaren Dialektik, die zwischen den Verheißungen der Libertinage und der Einforderung der Gottesfurcht keinen Ausweg findet, ist ein für seelische Regungen hochempfindliches, verstörendes Menschentheater geworden, das sich nicht so sehr dafür interessiert, wer recht behält, sondern dafür, wer warum zu leiden hat.

Und auch wenn man es lieber ignorieren würde, muss noch erwähnt werden, dass am Schluss Rainer Frank auf die Bühne kommt und auf recht uninszenierte Weise einen Erfahrungsbericht des französischen Autors Jean-Luc Nancy aufsagt. Es geht um die Folgen einer Herztransplantation, auch irgendwie ums Fremde in uns allen, aber das ganze Gerede hört sich bloß läppisch an. Unterstreicht aber immerhin, wie stark der Text des Euripides zuvor gewirkt hat und wie schonungslos uns von diesen Bakchen das Feixen verdorben worden ist.


Die Bakchen oder Der Eindringling
von Euripides mit einem Kommentar von Jean-Luc Nancy
Inszenierung: Christian Tschirner, Bühne: Aljoscha Begrich, Kostüme: Moritz Müller, Musik: Camill Jammal, Juri Kudlatsch, Dramaturgie: Aljoscha Begrich.
Mit: Sebastian Kaufmane, Florian Hertweck, Beatrice Frey, Dieter Hufschmidt, Hanna Scheibe, Mathias Max Herrmann, Rainer Frank, Juri Kudlatsch

www.staatstheater-hannover.de


Christian Tschirner begleitete 2009 den Theaterzug Orient-Express von Ankara nach Stuttgart und inszenierte dort sein unter dem Pseudonym Soeren Voima geschriebenes Stück 80 Tage, 80 Nächte.

Kritikenrundschau

Suche man für den Streit zwischen Pentheus und Dionysos Parallelen in der jüngeren Vergangenheit, dann lande man allzuleicht beim Generationskonflikt, "und so spuckt Christian Tschirners Time-Tunnel in Hannover die antiken Streithähne in jener Periode aus, als Hippies und Spießer sich bis zum Haarschnitt bekriegten. Nadelstreifen kämpft gegen Streifenpulli um die Führung im Dresscode des Bewusstseins", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (17.12.2010), das alles hat "Hollywood-Effekt im Wackelpudding-Format". Fazit: "Die intellektuelle Haltbarkeit der Geschichte, die im Programmbuch belegt wird, findet in dieser Schmalkost leider kein theatralisches Menü. Das Kochduell von Kopf und Bauch ergibt nur einen lau aufgetauten Klassiker."

In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (7.12.2010) stellt Stefan Arndt fest: "Eine griechische Tragödie ist kein 'Tatort'." In der Tragödie sei ein Mord nicht einfach Folge einer "für den Moment entglittenen Normalität". In der Tragödie sei vielmehr "die Eskalation" das Normale. Deshalb ist es für Arndt so unbefriedigend, wenn am Ende der Aufführung von Tschirner der "Gast" hereinschlendert und im Epilog des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy in "beiläufigen Talk-show-Tonfall" von Herztransplantation und Krebs erzählt. "Fremdheit und Tod, bei Euripides große Themen, bekommen plötzlich einen banalen Beigeschmack." Dabei hätten die Schauspieler vorher "so groß aufgespielt". Christian Tschirner finde einen "wunderbar leichten Mittelweg" zwischen klassischem Tragödienton und amüsanten Verrücktheiten. Dem Teiresias verleihe die "großartige Beatrice Frey" eine "entwaffnend debile Schamlosigkeit". Erst mit dem Auftritt von Hanna Scheibe als Agaue kippe dieses Gleichgewicht in Richtung Pathos. Bei ihr solle die Verzweiflung echt sein - und falle "so" ab gegen das vorangegangene Gottestheater des rächenden Dionysos.

Siegfried Barth, er schreibt für die Neue Presse (7.12.2010), die wie die Hannoversche Allgemeine im Madsack-Konzern erscheint, kam das "Cool Down" mit dem Nancy-Text am Ende des "aufgewühlten Dramas" ganz recht. Er findet: "Würde so eine wilde Geschichte heute geschrieben, käme wohl ein platter Horrorfilm mit Axt und Kettensäge dabei heraus." Bei Dionysos spürte Barth eine Melancholie, die "unterschwellig gefährlich wirkt und wohl nicht zufällig an Rockstar Jim Morrison erinnert", dessen Grenzüberschreitungen zum Dionysischen im Programmheft ausführlich gewürdigt würden. Regisseur Christian Tschirner spiele mit "Gratwanderungen", er falle aber nicht runter. Das aufblasbare Kissen-Monster sei "monströs an der Kante zum Lächerlichen". Wenn Agaue den blutigen Kopf des Pentheus nach Theben trage, seien "wir ganz nah an der Kettensäge", und Hanna Scheibe erreiche, als Agaue aus dem Rausch erwacht, die "Grenzen des tragisch Darstellbaren". Bei Dieter Hufschmidt als Kadmos und Beatrice Frey als blinder Prophet Teiresias sitze jedes Wort, und mancher Satz werde zum kraftvollen Hammer.

 

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