Presseschau vom 9. Dezember 2010 – Jürgen Flimm wendet sich gegen die Begriffe "Werktreue" und "Regietheater"
Der Irrtum Werktreue
Der Irrtum Werktreue
"Woher kommt diese mimosenhafte Empfindlichkeit?", fragt Jürgen Flimm in seinem Werktreue-Vortrag, den die Berliner Morgenpost (9.12.2010) abdruckt. Wie kommt es, dass Theater- oder Opernbesucher bisweilen die Neugier zu Hause lassen, "der Status quo ist ein sicherer Begleiter, wie ein treuer Hütehund".
Der Klassiker bleibe "uns erhalten, wenn er klassisch wird, wenn er seine Zeiten überdauert und sich also auch in unserer Gegenwart regen und bewegen kann, seinen Kern, das was ihn im Innersten zusammenhält, wieder offenbart", erklärt Flimm. Welchem Kern solle man da also treu bleiben? Wenn Jan Kotts Satz, dass Hamlet wie ein Schwamm sei, der Gegenwart in sich aufsauge, stimme, "spiegelt Hamlet immer Neues wider: ein verbindliches Stück gibt es also nicht. Schon Shakespeare hat gelogen, gepfuscht, ja geklaut, abgekupfert. War er überhaupt der Autor? Das ist ja wirklich eine zweifelhafte Basis für Werktreuedebatten!"
Nein, es gebe "keine endgültige Perspektive auf Stücke, die für alle Ewigkeit den Grundton einer Interpretation anhält - auch und vor allem keine Form: die Moden wechseln schneller als Sonne und Mond." Der Begriff 'Werktreue' halte also kaum das, "was mancher Reaktionär, der die Zeiträder zurückdrehen möchte, sich verspricht". Auch der Begriff des "Regietheaters" sei eigentlich "Unsinn". Den Regisseur gebe es schließlich schon "seit der Erfindung des Probenleiters, also der Interpretation". Aber "was macht dieses Hassobjekt Regisseur eigentlich? Sagen wir mal ganz bescheiden, der ist eigentlich ein Übersetzer, wie aus einer zweidimensionalen Sprache ins dreidimensionale Bühnengeschehen, aus dem Büchlein direkt auf die Bretter, die die Welt bedeuten sollen". Schaffe er es nicht, "uns in den Dialog zu ziehen, uns mit auf eine Reise zu nehmen", habe er "seine Sache verwirkt: Nur mit Treue und sogenanntem "Regietheater" hat das alles gar nichts zu tun. Theater ohne Regie gibt es nicht - das ist ganz einfach dann lediglich Literatur."
Flimm erläutert auch, warum diese Debatten "nur bei uns, der Theaterkunst möglich" seien: "weil wir im utopischen Niemandsland der Gegenwart siedeln." Weil es uns im Gegensatz zu Bildender Kunst oder zur Literatur irgendwie gar nicht gebe. "Nur das Theater, die Oper, die Musik, zerstäubt im unwirklichen Augenblick und bleibt für immer und ewig: in unseren Köpfen, in der Erinnerung, der Rest ist Schweigen."
Über den umstrittenen Begriff der Werktreue schrieb im November 2007 auch Petra Kohse auf nachtkritik.de. Die letzte große Diskussion in dieser Sache wurde im Sommer 2009 nach Daniel Kehlmanns Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen geführt, deren Chef zum damaligen Zeitpunkt übrigens auch Jürgen Flimm hieß. Alles zur Kehlmann-Debatte hier.
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