Nichtstuerinnen von Welt

von Wolfgang Behrens

Berlin, 10. Dezember 2010. "Die Väter sind weg", sagt Lisa Lucassen einmal, noch ziemlich zu Beginn des Abends. Ja, in der Tat, sie sind weg (bzw. sitzen im Publikum), jene realen Väter, die das Performancekollektiv She She Pop für ihre preisgekrönte Produktion Testament auf die Bühne geholt hatte, um mit ihnen gemeinsam anhand von Shakespeares "König Lear" ihre in die Jahre gekommene Eltern-Kind-Beziehung zu besprechen.

Es war dies eine verquer komische, wundersam berührende Reflexion über den Generationenvertrag geworden, bei der Väter und Töchter – ob zum Schein oder wirklich, das sei dahingestellt – eine ganze Menge von sich preisgaben. Fragen wurden gestellt, die im alltäglichen Miteinander meist unter dem Teppich bleiben, und die Antworten darauf konnten spielerisch witzig, aber auch zutiefst schmerzlich sein. "Testament" wird in Erinnerung bleiben.

Die eigene Generation im Visier
Nun also sind die Väter weg, und die "Schwesternschaft", wie Lisa Lucassen sie nennt, ist wieder auf sich allein gestellt. Und wo der Widerpart der Altvorderen wegfällt, da gerät ganz und gar die eigene Generation in den Blick, in diesem Fall die heute Vierzigjährigen, laut Programmzettel eine "Generation von NichtstuerInnen". Da sich die schönsten NichtstuerInnen der Welt aber immer noch bei Tschechow finden, benutzen She She Pop dessen "Drei Schwestern" als Folie, um nach sich selbst zu schauen.

Herausgekommen sind so "7 Schwestern", die da wären: Olga, Mascha und Irina, mit denen sich die PerformerInnen über ein gutes Jahrhundert hinweg die Hand reichen, sowie Lisa Lucassen, Johanna Freiburg, Berit Stumpf und – als durchgegenderte Ehrenschwester – Sebastian Bark. Die vier Schwestern, die demnach faktisch zu sehen sind, haben es sich im Tschechow'schen Haushalt der Prosorows bequem gemacht: an verschiedenen Stellen des Foyers sind ein Wohnzimmer und eine Küche aufgebaut, irgendwo in Wohnzimmernähe gibt es auch eine Toilette, und hinter dem Theater befindet sich eine eher ungemütliche Laderampe, die als Terrasse ausgegeben wird. Live-Projektionen von diesen Spielorten werden auf Leinwänden in allen Größen und Formen auf der Bühne zusammengeführt.

Funkelnde Ironie
Tschechows Originalstück kommt als unvermeidlich gelbes Reclam-Heft daher, man liest darin am besten auf dem Klo. Und wenn dann im Text bestimmte Stichwörter fallen, beginnen sich die Vier über die Leinwände hinweg anzulächeln – technisch sehr hübsch, wie mitunter zwischen den Projektionen Blickkontakt suggeriert wird – und setzen sich ins Verhältnis zu diesen Stichwörtern. Zum Thema Arbeit beispielsweise, das der Drei-Schwestern-Bruder Andrej so gerne anspricht, fällt allen etwas ein, und sei es nur, dass man "She She Pop" gerade nicht bei einer Darstellung, sondern eben bei der Arbeit zusehen würde. Oder dass am Arbeitsbegriff gearbeitet werden müsse. Oder dass gemeinhin Muttersein nicht als Arbeit angesehen würde.

In den besten Momenten sind diese Kommentare von einer funkelnden Ironie. Wenn etwa Johanna Freiburg in einer Mischung aus schläfriger Hochnäsigkeit und verführerischer Spottlust groß in die Kamera blickt, im Anschluss an die verhasste Drei-Schwestern-Schwägerin Natascha ihre Mustermütterlichkeit anpreist und dabei Patiencen legt, dann hat das schon Charme.

Und wirklich bösen Witz hat die Szene, in der Sebastian Bark (in einer vermutlich vorproduzierten Videosequenz) den zwei- bis vierjährigen "She She Pop"-Kindern vorschlägt, endlich mal – anders als ihre Mütter – aus den Strukturen auszubrechen und rauszugehen, immer geradeaus. Aber bitte nicht wiederkommen und auf Nachfrage als Ziel "Nach Moskau!" angeben. Brav lallen die Kinder "Nach Moskau!" nach.

Sehnsucht nach den Vätern
Allein, es bleibt nicht aus, dass all das Gerede über Selbstverwirklichung und weibliche Neudefinitionen – so selbstentlarvend es auch intendiert sein mag – bald leerzulaufen beginnt. Als Tünche dient dann blinde Betriebsamkeit: Während recht beliebig Musik von Tschaikowsky bis Philip Glass eingespielt wird, wechseln die PerformerInnen hektisch die Räume und rennen dazu bevorzugt kurz über die Bühne, damit sich das Publikum ihrer realen Gegenwart versichern kann.

Spätestens dann sehnt man sich nach den Vätern zurück, die dem "Testament" eine gewisse Erdung und überhaupt erst einen tragenden Konflikt verliehen haben. Die "7 Schwestern" bleiben dagegen zweidimensional wie die Leinwandzuspielungen: Oberflächlich huschen sie von Gemeinplatz zu Gemeinplatz, etwas Neues über die Generation der NichtstuerInnen erfährt man nicht. Der Showdown führt alle vier noch einmal auf der "Terrasse" zusammen. Johanna Freiburg zitiert resümierend die Tschechow'sche Olga: "Man wird uns vergessen, unsere Gesichter, Stimmen und wie viele wir waren …"

Es steht zu befürchten, dass die "7 Schwestern" schneller vergessen werden, als es ihnen lieb sein kann.

 

7 Schwestern (UA)
Ein Gruppenportrait frei nach Tschechow von She She Pop
Konzept: She She Pop, Bühne: Sandra Fox, Kostüm: Lea Søvsø, Licht- und Videodesign: Jürgen Salzmann, Sounddesign: Jeff McGrory.
Mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Lisa Lucassen, Berit Stumpf. Die Kinder: Irene Galante, Greta Patten, Hugo Shaw.

www.sheshepop.de
www.hebbel-am-ufer.de

 

Mehr zu She She Pop gibt es im nachtkritik-Lexikon.


Kritikenrundschau

Für ihre Erfolgs-Produktion "Testament" luden sich die Performer drei ihrer leiblichen Väter auf die Bühne, "jetzt aber heißt es loslassen und wieder allein weitermachen - und entsprechend selbstbezüglich beleuchten die Diskurs-Theatraliker von She She Pop in ihrer jüngsten Inszenierung die eigene Generation der postfeministisch ermatteten Fortysomethings", so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (12.12.2010). "Bisweilen spiegeln sich die Tschechow-Rollen aufs Schönste in der Lebens- und Schaffenssituation der Performerinnen, etwa im Konflikt zwischen mutterstolzer und kinderloser She-She-Pop-Fraktion." Dann wieder werde lediglich ein erschöpfender Aktionismus produziert. "Wo der Abend hin will, wird nicht klar. Nach Moskau jedenfalls nicht, dieses Tschechow'sche Utopia taugt nur noch für eine feine ironische Pointe."

Der Bezug zu Tschechow werde von den Performern "fleißig gesucht", schreibt Ekkehard Knörer in der taz-Berlin (13.12.2010). Auf der Bühne selbst passiere wenig, "sie wird nur ausnahmsweise Handlungsort, und dann für so etwas wie Vorüberrennen, Rumsitzen, Blöddastehen". "Sieben Schwestern" sei so etwas wie "Live-Kino-Theater". So recht zueinander fänden Tschechow und She She Pop hier nicht. "Alles, was man über die 'Drei Schwestern' wissen muss, sagt Berit Stumpf halb ironisch gleich zu Beginn, sei dies: 'Das Stück lehrt, man darf das eigene Leben nicht vergeuden.' Als Tschechow-Exegese macht dieser Abend gewiss nicht Furore." She She Pop machten stets "programmatisch aus Privatem medial avanciertes Theater. Was sie verhandeln, auch diesmal, sind ganz exemplarisch ihre eigenen Leben." Doch "so sympathisch unvirtuos sie als generationentypische Vertreter ihrer selbst auftreten: Richtig viel Neues, Genaues, Aufregendes kommt nicht raus. Man nickt mit und dann wohlig ein und wacht wieder auf und lacht, wenn gegen Schluss die Kinder aus den Familienstrukturen gen Moskau geschickt werden. Wo Tschechow stets bitterböse ist, da sind She She Pop diesmal einfach zu nett."

Dass dieser Abend eine "Simultan-Kino-Show" ist, sei nicht das Problem, schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (14.12.2010). "Im Gegenteil, ohne diese Flucht in den medialen Form-Trick stünde er gänzlich schutzlos in seiner Dürftigkeit da." Denn so sympathisch die Grundstimmung dieser Inszenierung sei, sie wisse nichts zu erzählen: "Nichts, was über die aufgesagten Sätze hinausweisen würde. Nichts, was der Tschechow-Vorlage etwas irgend Relevantes hinzufügen oder auch nehmen würde. Es bleibt alles plan – und privat im Küchentischformat." Es werde immer "flugs zum nächsten Assoziationsschnipsel gehopst", zwischendurch höre man "Proseminaristisches über den Repräsentationsbegriff". Alle Konflikte und Kontroversen würden "auf ein bloß insiderisches Fußnotenniveau heruntergesumpft".

"Selbstironisch und angenehm uneitel" kreuzten She She Pop Tschechows "Drei Schwestern" mit ihrer eigenen Lebenssituation, befindet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (22.12.2010): "Frauen um die vierzig, halbwegs erfolgreich und zur eigenen Irritation in der Gemütlichkeit angekommen." Da verheddere sich dann eine von ihnen "in sinnfreien Gender-Gedankengängen: 'Diese Arbeit an diesem Projekt Frau-sein, das wird einfach nicht als Arbeit anerkannt.' Das sind Probleme." Auf Fragen nach Lebenssinn und ähnlichem hätten She She Pop genau so wenig Antworten wie Olga, Mascha und Irina in Tschechows russischem Salon: "Bei allen neckischen Überblendungen mit Tschechows Figuren kommt der kurze Abend über charmantes Befindlichkeitskabarett nicht hinaus, das aber mit Witz und guter Laune"

 

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