Swann im Amrainer Universum

von Beat Mazenauer

Luzern, 10. Dezember 2010. Die Freunde Baur und Bindschädler gehen und reden. Das heißt: Bindschädler spricht und Baur hört geduldig zu. Aus dieser Konstellation hat der Schweizer Autor Gerhard Meier (1917-2008) eine Roman-Tetralogie geschaffen, in der sich alles im Flecken Amrain konzentriert. "Amrain war das Zentrum der Welt", erinnert sich Bindschädler. So kennt man Gerhard Meier – doch dieser Gerhard Meier ist auf der Bühne des Luzerner Theaters kaum wiederzuerkennen.

In einer ausgeräumten, metallisch scheppernden Industriehalle bewegen sich fünf Personen und bilden mal monologisierend, mal interagierend, oft aber schweigend immer neue Figurationen. Zu Beginn schlagartig ins grelle Licht gerückt, hebt Bindschädler am Bühnenrand an zu einem Abschiedsmonolog auf Baur an, bis er von einem unsichtbar vorbeirasenden Zug unterbrochen wird. Derweil verheddert sich am Rand ein junges Paar konvulsivisch in ein Spiel mit Fäden, eine alte Frau souffliert, und die Magazinerin gibt sich unschlüssig beflissen. All dies geht gemächlich, ja schleppend vonstatten – eine Geduldsprobe.

Motive, Stimmungen, Zitate
Ueli Jäggis Adaption der Amrain-Romane verblüfft auf Anhieb und verunsichert zumindest jene, die sich bereits einen Begriff davon gemacht haben. Immerhin gilt Gerhard Meier als einer der großen Schweizer Autoren der letzten Jahrzehnte, es werden also Erwartungen gehegt. Doch Jäggi bürstet diese Bücher tüchtig gegen den Strich. Was in Luzern auf die Bühne kommt, gleicht auf den ersten Blick eher einem absurden Kammerspiel voll befremdlicher Handlungen.

Ist das adäquat, ist das gut? So ist die Frage wohl falsch gestellt. Im Untertitel heißt das Stück vielsagend "Auf der Suche nach der wiedergefundenen Zeit". Gerhard Meier pflegte zwei leidenschaftliche Vorlieben: einerseits zu Tolstoj, andererseits zu Proust. Deshalb lohnt es sich, in diesem Kontext eine Stelle aus den "Amrainer Gesprächen" zurate zu ziehen. Über Prousts Poesie schwärmt Meier: "Wie er seinen Teppich webt, diesen Riesenstoff handhabt, ohne aus der Gestimmtheit der Motive herauszufallen, ist einfach großartig".

Nach dieser Gestimmtheit der Motive sucht auch Ueli Jäggi, um sie auf die Bühne zu übersetzen. Sein Figurenensemble erzählt von Bindschädler und Baur, vom Weltzentrum Amrain, von der Weite Russlands, an welcher Napoleon in Tolstojs "Krieg und Frieden" scheitert. Aus Motiven, Stimmungen und Zitaten entsteht eine Bildercollage, die im Grunde viel über Gerhard Meier aussagt.

Beobachtungen eines provinziellen Kosmopoliten
Ueli Jäggi liefert eine eigenwillige, höchst anregende Interpretation, in der fünf Figuren das Amrainer Universum mit steifem Spiel repräsentieren, als ob sie in einem Metaraum agierten. Im Zentrum steht Bindschädler, der provinzielle Kosmopolit, der sich zitatweise an Meiers Texte hält – Thomas Douglas verkörpert ihn bauernschlau. Odette (Marie Ulbricht) und Swann (Nicolas Batthyany) sehnen sich in jugendlicher Unbedarftheit nach einander und nach der weiten Welt vor dem schmalen Fenster. Ihre körperlichen Verstrickungen wirken dabei ungelenker als die distanzierte Anziehung.

Die alte Lina (Janet Haufler), in kleinen autistischen Einlagen mit sich selbst beschäftigt, bleibt im Bühnenraum gefangen, derweil die Magazinerin (Wiebke Kayser) geschäftig durch die Lichtschranke zwischen drinnen und draußen pendelt. Im selben Raum bleiben sich die Fünf eigenartig fremd, doch wenn sie sich trotzdem gruppieren, so ergeben sich daraus oft feine komische Effekte. Arrangierter Turbinenlärm stört den gemeinsamen Gesang von "Im schönsten Wiesengrunde" derart, dass er gänzlich untergeht, bloß die Münder bewegen sich. Überhaupt dieses Dröhnen, Schnaufen, Zwitschern.

Gekitzelte Neugier, angeregtes Denken
Martin Schütz hat eine wunderbar befremdliche Tonspur komponiert, die zuweilen mehr sagt als viele Worte. Im Verbund mit effektvollem Licht (Peter Weiss) und der zweckmäßig schönen Bühne (Werner Hutterli) ergibt sich ein Ambiente, das überraschende Effekte ermöglicht. An Gerhard Meier gemessen, wirkt dies alles – wie bereits angedeutet – irritierend und zuweilen willkürlich. "In Amrains Welt" zerfällt in viele kleine Szenen, Verweise, Zitate und Wiederholungen, die nicht alle im selben Maße zwingend sind und nicht immer mit der gleichen Intensität gespielt werden.

In diesem Sinn bietet das Stück keine Einheit. Dennoch erzeugt es letztlich ein proustisch gestimmtes Muster und bildet so als Theatererlebnis ein assoziatives Ganzes. "In Amrains Welt" kitzelt die Neugier und regt zur Auseinandersetzung an. Gerhard Meier hätte ein solches Stück nie geschrieben – aber er hätte wohl daran Gefallen gefunden.

 

In Amrains Welt. Auf der Suche nach der wiedergefundenen Zeit
nach Texten von Gerhard Meier Theaterfassung von Ueli Jäggi und Malte Ubenauf
Inszenierung: Ueli Jäggi, Dramaturgie: Bernd Isele, Bühne: Werner Hutterli, Kostüme: Gertrud Rindler-Schanti, Musik: Martin Schütz.
Mit: Janet Haufler, Wiebke Kayser, Marie Ulbricht, Nicolas Batthyany, Thomas Douglas, Wolfgang Lauber.

www.luzernertheater.ch

 

Ueli Jäggi setzte 2009 Robert Walsers autobiografischen Roman Der Gehülfe kongenial in Szene. Die Theaterfassung entstand ebenfalls in Zusammenarbeit mit Malte Ubenauf und am Luzerner Theater. Als Schaupieler gehört Jäggi zur Marthaler-Family und spielte unter anderem in La Grande-Duchesse de Gérolstein, 2009 am Teater Basel.

 

Kritikenrundschau

"Es sind Texte wie Teiche: Klein sehen sie aus, und doch geht’s tief, tief hinunter", schreibt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (13.12.2010). Und kann man solche Texte "in den Strukturen eines Theaterabends stauen? Soll man das überhaupt?" Jäggi und Ubenauf haben diese Fragen mit Ja beantwortet, man habe aber bei dieser Uraufführung "das Gefühl, ganz woanders zu sein", die Atmosphäre des Abends habe "eher etwas von Jacques Tati". In Jäggis Inszenierung "fließt es nicht wie in Meiers Romanen, sondern es zuckt". Es gebe dabei "schöne Einfälle, berührende Augenblicke – und etliche Längen". Jäggis segele "hart am Wind der Flüchtigkeit, statt sich von Meiers Teichen weich schaukeln zu lassen".

Als eine "Landvermessung im Kopf" beschreibt Urs Bugmann (Zentralschweiz am Sonntag, 12.12. 2010) Meiers Texte. Die Bühne von Werner Hutterli entwerfe dafür einen "konkreten Raum", der "gleichzeitig in die Traumferne führt". Der Abend habe dabei durch die "langsamen Gesten" und "stummen Gänge", die "voller Rätsel sind", einen "Hang zur Melancholie". Jäggi erkläre Meiers Welt nicht, "er nimmt ihre Atmosphäre auf", und die Schauspieler "geben den Sätzen Körper, belassen die Bilder aber doch in ihrer Sphäre zwischen Traum und Rätsel. Leise und poetisch, langsam und vielleicht allzu rätselhaft ist dieser Abend".

"Mag ja sein, dass der Weltenwind in Amrain langsamer weht und die Toten mitten unter den Lebenden spazieren", findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.12.2010). "Aber so sterbenslangweilig sind sie dann doch nicht. Der Sinn entweicht in Jaeggis Theater bedächtig aus den Rohren und verdampft schnaufend in den Pausen." Zwar habe Jaeggi "aus der Amrain-Tetralogie eine nicht ungeschickte Textfassung erstellt", aber "auf der Bühne funktioniert das nicht. Meiers Erinnerungsstrom sperrt sich gegen jede dramatische Beschleunigung, aber die Entdeckung der skurrilen Langsamkeit wird ihm auch nicht gerecht."

 

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