Unter dem Firnis das Tier

von Elena Philipp

Berlin, 16. Dezember 2010. Eine Fünferbande Kinder tobt auf dem Rasenrechteck mit Joe Keller (Jörg Pose), während rundherum das Publikum seine Plätze einnimmt. Das Licht ist golden wie an einem Spätsommertag. Federball, Football, Hula Hoop – heil ist das amerikanische Vorstadtleben, das Roger Vontobel zu Beginn seiner Inszenierung von Arthur Millers "Alle meine Söhne" vorführt. Es sind die paradiesischen Zeiten der Unschuld, in denen die Familie Keller in Eintracht mit ihren Nachbarn lebt. – Rummms, kracht eine Ladung Äpfel aus dem Schnürboden. Der Sündenfall.

Ein Zeitsprung. Die Kinder sind erwachsen. Chris Keller (Daniel Hoevels) ist Kompagnon in der väterlichen Firma, doch die familiäre Idylle ist rissig. Chris' Bruder Larry – im Krieg verschollen. Allein Mutter Kate (Ulrike Krumbiegel) hält zwanghaft an dem Glauben fest, dass ihr Sohn noch lebt. Dann war da der Vorfall in der Fabrik: Wer veranlasste die Lieferung schadhafter Zylinderköpfe an die Air Force? Vater Joe, der vor Gericht freigesprochen wurde, oder sein Partner Steve Deever, der im Gefängnis sitzt? Einundzwanzig Piloten kostete dieses Geschäft das Leben. Vielleicht sogar Larry.

Entschlacktes Spiel ohne Gummiknie

Die offene Schuldfrage, die Lebenslügen haben die Kellers erfolgreich hinter einer Fassade wohlanständiger Bürgerlichkeit verborgen. Sollen sich die Nachbarn doch das Maul zerreißen über Joe, so lange sie mit ihm Poker spielen. "Alle, die damals Mörder gerufen haben, nehmen heute mein Geld." Jörg Pose gibt den schlurfigen, vernuschelten Kumpel-Dad, der mit seinem Sohn traulich auf der Picknickdecke lümmelt. Ulrike Krumbiegel ist betont frisch und fröhlich, bringt Fahrt in die Inszenierung und versieht ihre Figur von Anfang an mit Untertönen: Kate wird hysterisch, sobald es um Larry geht, und herzlich zupackend, wenn es gilt, die Familienbande zu stärken. Jörg Pose lässt erst nach und nach etwas Lauerndes in Joe aufscheinen: Annie (Meike Droste) reist an, Deevers Tochter und die ehemalige Verlobte von Larry. Sie und Chris wollen heiraten – und bringen damit das Keller'sche Konstrukt ins Wanken.

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Meike Droste raucht im Vordergrund, hinten sitzen Ulrike Krumbiegel, Jörg Pose und Daniel Hoevels.
© Arno Declair

Texttreu bricht bei Vontobel die Lügenwelt zusammen. Geschickte Kürzungen steigern den Spannungsaufbau. Millers moralisches Stück, 1947 am Broadway uraufgeführt, ist ein veritabler Krimi, und Vontobels Inszenierung ist nicht länger als ein Vorabendfilm. Die Schauspielerführung ist genau, das Spiel entschlackt. Selbst Ole Lagerpusch kommt ohne Gummiknie-Nummern aus. Sein George – Annies Bruder – blickt irre, die linke Hand krampft sich zur Faust, als er Joe Keller anklagt, seinen Vater als Sündenbock missbraucht zu haben. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier läuft er an der Rasenkante vor und zurück, vor und zurück. Das Ehepaar Keller, das zunehmend monströse, Macbeth'sche Züge trägt, bemüht sich ihn einzufangen. Sie schmeicheln ihm mit den Verlockungen des Familienlebens, erinnern ihn an alte Zeiten.

"Ich habe es für dich getan!"

Das Taktieren der Figuren hat Vontobel in recht durchsichtige Raumrelationen übersetzt. Stellungskrieg: Drei gegen Einen, wenn Kate, Chris und Annie auf George einreden. In Feldherrnposition Jörg Pose, die Hand in der Hosentasche. Kalt kalkulierend bereitet er sich auf sein Duell vor, um Georges Einwände zu entkräften. Getreu dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Die Nachbarn? Neidisch! Georges Vater? Noch nie in der Lage, seine Schuld einzugestehen.

Keller siegt – nur um den Kampf gegen Chris zu verlieren. Kate hat sein Alibi entkräftet. Für Chris bricht die Welt zusammen. Daniel Hoevels brüllt außer sich, in hilfloser Wiederholung: "Was soll ich denn jetzt tun?" Er ohrfeigt Pose, seine Stimme überschlägt sich. Jörg Poses Gesicht wird lang und länger, der vormals schlaue Patriarch sackt zusammen. "Chris, ich habe es für dich getan", stammelt er. Für den Profit! Für die Familie! Keller vererbt die Schuld. Als topaktuelle US-Tragödie beglaubigt das Programmheft Millers Stück: Am 11. Dezember brachte sich der älteste Sohn des Investmentbetrügers Bernard Madoff um – genau zwei Jahre nachdem er und sein Bruder den Vater bei den Behörden anzeigten. Der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Kernfamilie wird bei Roger Vontobel einsichtig.

Alles schön und ein leises Misstrauen

Auch für die Raubtiermentalität findet er ein Bild: In einer Ecke des Spielfeldes rotten sich in gedimmtem Scheinwerferlicht Joe und Kate, Chris und Annie zusammen. Angela Meyer betritt das Rasenrechteck von der gegenüberliegenden Seite – und wie ein Mob beginnen die Vier sie zu bebrüllen. Das dauert nur wenige Sekunden, dann wird es wieder hell, und Meike Droste begrüßt die Nachbarin zuckrig: "Oh – Lydia." Unter dem dünnen zivilisatorischen Firnis lauert das Tier. Das wilde Rudel ist die Nachtseite der "heiligen Kellers", die Lydia neidisch beäugt.

So "well made" wie das Stück ist auch die Regie. Realismus, der sich nicht aufdrängt. Alles gut, alles schön. Und trotzdem, oder gerade darum bohrt da ein leises Misstrauen. Vielleicht liegt es an den allzu abgerundeten Kanten, an der Nostalgie, die die Inszenierung von Beginn an durchweht. Auch in Millers Stück gibt es die Sehnsucht nach dem Früher, aber sie kontrastiert, stets situationsgebunden, das brüchige Beziehungs- und Lügengeflecht. Vontobel verleiht "Alle meine Söhne" trotz der aktuellen Anklänge etwas allzu Überzeitliches, wenn er den Anfang ins goldene Gestern verlegt. Beinahe so, als wollte der 33-jährige Regisseur sagen: Früher war alles besser.


Alle meine Söhne
von Arthur Miller
Deutsch von Berthold Viertel
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Dagmar Fabisch, Musik & Video: Immanuel Heidrich, Dramaturgie: Anika Steinhoff. Mit: Meike Droste, Daniel Hoevels, Ulrike Krumbiegel, Ole Lagerpusch, Angela Meyer, Jörg Pose. Die Kinder: Leonard Däscher, Farajallah Diab, Lenz Lengers, Helena Lengers, Karolin Wiegers; Ersatz: Johannes Däscher

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Kritikenrundschau

Zwar verstehe Roger Vontobel es, mit seinen Schauspielern durch Schnoddrigkeit, Coolness und zupackende Munterkeit das 40er-Jahre-Milieu in eine heutige Atmosphäre zu wandeln, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (18.12.2010), "gegenwärtige, gedankliche Durchdringung der durchaus gegenwärtigen Keller-Geschichte" aber gelinge ihm nicht. Aus Sicht der Kritikerin überreizt der Regisseur seine Mittel gnadenlos, "was das Spiel sehr bald zur Effekthascherei verflacht". Aus dem psychologischen Kammerspiel des Ibsen-Schülers Arthur Miller werde "ein privates Psychoding" und am Ende verpuffe auch das in Hysterie. "Die Zuschauer sollen den analytischen, sezierenden Blick lernen, doch – und das ist das eigentliche Problem des Abends – analysiert oder seziert Vontobel selbst nichts."

"Man könnte den Regisseur Roger Vontobel als eine Art Dieter Wedel des Stadttheaters bezeichnen. In Dresden holte der 33-Jährige aus Schillers 'Don Carlos' gerade einen hochmodernen Politthriller heraus", so Christine Wahl im Tagesspiegel (19.12.2010). Aber: In einer ungefähren, diffusen Heutigkeitsbehauptung sitze diese Inszenierung fest. "Der Rollrasen mutiert zur Kampfarena, in der man sich gegenseitig an die Gurgel springt, wobei die enttäuschten Blicke und bebenden Münder auf Videowänden vergrößert werden. Statt Gegenwart gewinnt man aber nur den Eindruck leicht kitschiger Fernsehdramatik von gestern."

Wenig überzeugt zeigt sich auch Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (20.12.2010) von dem Versuch, Arthur Millers Frühwerk "zu reanimieren". Vontobel, "als Regisseur ein junger Milder", könne das "selbstgefällig moralisierende, wohl zu Recht kaum noch gespielte Stück nicht retten". Vieles darin klinge wie "Schulfunk". Die Inszenierung habe dem "außer ein paar wohltätigen Strichen (...) nichts hinzuzufügen". Miller banalisiere "das Ibsen-Muster verdrängter Schuld zum Well-Made-Play gefälliger Sozialkritik, Vontobel verdünnt weiter, bis nur noch eine ziemlich glatte Fernsehfilm-Dramaturgie übrig bleibt".

Auch Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen (2012.2010) ist der Abend "zu didaktisch". Claudia Rohners Bühnenbild verdeutliche schon zu Beginn, dass die Idylle "erhebliche Risse" habe. "Dementsprechend wirkt alles weitere immer nur demonstrativ gemütlich, gelungen, glücklich". Einerseits sei Millers "Themenkomplex in Sachen Profit und Militär speziell, andererseits in Bezug auf fatale Familiengeheimnisse sehr allgemein". Vontobel wisse "mit beiden Ebenen nichts anzufangen". Durch die Live-Übertragung auf zwei Leinwände "wird das statuarische Geschehen in seiner freudlos bemühten Deklamationsmonotonie noch besser sichtbar, als es der Aufführung bekommt. Die Kostüme und die eingestreuten Songs sind dezent Richtung fünfziger Jahre ausgewählt und wie die gesamte Atmosphäre völlig uninspiriert. Und unter der Käseglocke von Vontobels Regie-Leere geht dem Ensemble rasch die Luft aus."

Vontobel entwickele Millers Stück "mit schlichter realistischer Figurenführung", so Eberhart Spreng im Deutschlandradio (Kultur Heute, 18.12.2010). Der Regisseur hätte wohl gern "antikes Tragödienpotential freigesetzt", schließlich postiere er das Publikum "auf vier Arenatribühnen rings um den Schauplatz". Aber defekte Zylinderköpfe sind nun mal kein tragischer Götterfluch, weshalb der klassische Guckkasten "für den gesellschaftskritischen Realismus Millers (...) besser gewesen" wäre. Er hätte verhindert, "dass sich im weiten Raum die Spielbezüge zwischen den Figuren verlieren und sie hätte das Drama mit seinen Zeitbezügen besser verortet".

"Vontobel liebt's deftig, aber klassisch". Auch bei Millers "Alle meine Söhne" "staubt's, spritzt's und dunstet's", berichtet KLK überaus kurz in der Welt (20.12.2010). Das Kriegsheimkehrer-Drama bleibe hier "kammerspielhaft besonnen. Mit Recht entrückt Vontobel die Kriegsstory ins typisch Amerikanische. Bei uns freilich spielt weder die Familie noch die Schuld-Kategorie eine so große Rolle. Eine souveräne Fingerübung also: bescheiden, sachdienlich - nur vielleicht am falschen Stück."

Die schwer mit Moral beladene Geschichte bekomme Vontobel "wunderbar in den Griff", findet hingegen Katrin Pauly von der Berliner Morgenpost (19.12.2010), nämlich "indem er beherzt zusammenstreicht": kein Schuss am Schluss, fast keine Nachbarn. "In der Rolle der amerikanischen Neighbourhood statt dessen: wir, das Publikum." Die Videoübertragung sei "allerdings kontraproduktiv und vergrößert die bereits reduzierte Distanz wieder unnötig". Ansonsten erzähle Vontobel "angenehm konventionell und mit leichter Hand das schwere Familienbeben. Er platziert die Figuren auch physisch auf diesem Familientableau je nach den aktuellen Allianzen und kann dabei auf ein hervorragendes Ensemble vertrauen, das die Spannungsmomente dieses Vorstadtkrimis sensibel auskostet".

 

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