Der Leib eine Schwiele, das Leben ein Kreuz

von Anne Peter

Berlin, 17. Dezember 2010. Es ist nun einmal die Zeit der frommen Sprüche. Doch jenes "Geben ist seliger als nehmen" passt nicht nur wunderbar in die Vorweihnachtszeit, sondern markiert auch treffend die moralische Deutlichkeit, die Dimiter Gotscheff mit seiner Adaption von Aki Kaurismäkis filmischem Kleinod "Der Mann ohne Vergangenheit" von 2002 verfolgt. Bei Almut Zilcher, die die Heilsarmistin Irma spielt, reiht sich der Satz in eine Reihe ähnlich gearteter Bibel-Sprüchlein ein, die Gotscheff seiner Version hinzufügt hat und in der natürlich auch das Kamel, der Reiche und das Nadelöhr nicht fehlen dürfen. Denkbar holzhammermäßig bringt er also die mit diesen frohen Botschaften beabsichtigte Anklage der bösen Ausbeuter unters Publikumsvolk.

Bei Kaurismäki ging das alles noch weniger deutlich und eindeutig ab. Der finnische Großmeister, der u.a. mehrmals aus politischen Gründen die Teilnahme am Auslands-Oscar-Wettbewerb verweigerte, erzählt in "Der Mann ohne Vergangenheit" die wundersame Geschichte eines Metallarbeiters, der eines nachts mit dem Zug in Helsinki ankommt und dort so brutal zusammengeschlagen wird, dass er sein Gedächtnis und um ein Haar sein Leben verliert – und dadurch gleichsam ein neues Leben gewinnt. Im Hafenviertel beginnt er unter Obdachlosen und armen Containerbewohnern noch einmal von vorn, jobbt bei der Heilsarmee, möbelt deren Kapelle auf, gerät in einen skurril-traurigen Banküberfall und erfährt gen Ende, dass er eine Frau bzw. Ex-Frau hat, was das Happy End mit Irma allerdings nicht aufhalten kann.

Kuschelecken im Plastetüten-Prekariatsuniversum

In Kaurismäkis Film war die Ex-Ehefrau keine so platt blöde, Finnland-selige Spießerin, wie sie es nun bei Gotscheff ist. Dort konnte man auch noch Mitleid haben mit dem kläglich um jeden Cent feilschenden Wachmann und Vermieter Attila, während er bei dem schmierig umher scharwenzelnden Michael Schweighöfer zur holzschnittigen Karikatur verkommt. Und obwohl nahezu unterunterbrochen und ziemlich gut Musik gemacht wird, vom finnischen Tango über plingelnden Walzer bis zu Angerocktem, lässt einen die mit über zwei Stunden arg zerdehnte Veranstaltung eigenartig kalt.

Gotscheffs Leib-und-Magen-Bühnenbildnerin Katrin Brack hat wieder eines ihrer Ein-Symbol-Bühnenbilder vor leerem Rundhorizont entworfen und macht aus dem Hafenviertel ein Viel-Taschen-Reich, ein Plastetüten-Prekariatsuniversum, wo man sich zum gemütlichen Jukebox-Hören im Container schon mal zu viert in eine jener robusten Großtaschen quetscht.

Vermutlich schwebte Gotscheff ein ankläglerischer Randfiguren-Reigen vor. Man raucht viel, steht noch mehr herum, und in alkoholisiertem Zustand schwankt man dann. Wolfram Koch zieht seinem Mann ohne Namen und Vergangenheit die Mundwinkeln herab und schaut unter tiefer gelegten Augenbrauen hervor, wortkarg und in der Mimik stoisch. Gemessen an der Wärmestrahlung des Films, schaut Gotscheff insgesamt distanziert, kaum liebevoll auf diese Gestalten der Peripherie. Wie verstellt scheint die Empathie auch dadurch, dass er Kaurismäkis Hafensiedlungs-Individuen weitgehend in einem lose gruppierten Kollektiv auflöst. Und wenn Gotscheff-Stammspieler Samuel Finzi im pinken Glitzer-Pailletten-Fummel lustig mit den Clowns-Augen rollt, tuntig seine Perücken-Strähnen zurückwirft und an der von Brack mitten im Bühnenbild platzierten Straßenlaterne turnt, gibt er seine Figur weitgehend der Lächerlichkeit preis.

Ungelenke Avancen

Überhaupt schubst der Regisseur einiges unnötig grob in Richtung Komödie, was die zurückgenommene Komik von Kaurismäkis absurden Minimal-Dialogen unangenehm übertönt. Dem Vergleich zum Film kann die Inszenierung nicht entgehen – auch wenn sie sichtbar bemüht ist, diesen nicht einfach nachzustellen, sondern Verfremdungen einzubauen, Assoziationen anzulagern. Da werden etwa lange, poetische Regieanweisungen (aus dem Drehbuch?) eingestreut. Aus Kaurismäkis leise zauberhaftem Märchen macht Gotscheff eine leer dröhnende Sozialparabel, die überdeutlich herausposaunt, was im Film sehr subtil mitläuft.

Dass hier etwa eine Auferstehungsgeschichte erzählt wird, in der sowohl christliche Symbolik als auch die Heilsarmee eine gewisse Rolle spielt, unterstreichen die immer wieder zwischengeschalteten christlichen Lieder und Bibel-Verse, die gemeinsam gesungen oder von Zilcher aufgesagt werden. Die Sozialanklage wird mit Zusatztexten unterfüttert (Margit Bendokat: "Hände wie Reibeisen. Hornhaut an den Knien. Der Leib eine Schwiele"). Der Hund des geldgierigen Vermieters wird bei Andreas Döhler zur Unterwürfigkeitsfigur, die seinem Herrchen die Hand leckt und ihm die Geldscheine herbeibringt wie das weggeschleuderte Stöckchen. Und während sich Kati Outinens Film-Irma unendlich schüchtern den rührend ungelenken Avancen des namenlosen Mannes ergibt und minimalistischste Mimikveränderungen einen ganzen Herzensumschwung erahnen lassen, spielt Almut Zilcher alles Stocken und Stottern, jeden Verliebtheits-Verhaspler und Verlegenheitsblick mit dickem Ausrufezeichen.

Diesen Figuren haftet kein Zauber an, und wenn sie schweigen – was sie des Öfteren tun –, knistert kein Geheimnis, sondern wallt Langeweile durchs Parkett. So bleibt für den "Mann ohne Vergangenheit" der Griff ins DVD-Regal letztlich die bessere Alternative.

 

Der Mann ohne Vergangenheit
von Aki Kaurismäki
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ellen Hofmann, Komposition und Einstudierung: Alexander Dafov / Simon Jakob Drees, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Harald Baumgartner, Margit Bendokat, Andreas Döhler, Samuel Finzi, Wolfram Koch, Michael Schweighöfer, Almut Zilcher. Musiker: Simon Jakob Drees, Tobias Morgenstern, Scott White, Xell.

www.deutschestheater.de

 

Alles über Dimiter Gotscheff auf nachtkritik.de im Lexikon.


Kritikenrundschau

Man merke Gotscheffs Inszenierung das Bewusstsein für die Fallen der Vorlage deutlich an, so Christine Wahl im Tagesspiegel (19.12.2010). "Um drohenden Sozialkitsch zu vermeiden, sind die prekären Existenzen aus der Containersiedlung niemals ausschließlich warmherzige Individuen." Zweifellos leisten Gotscheff und seine Schauspieler an diesem zweistündigen Abend viel szenische Detailarbeit, "mal lauter und mal leiser, mal kabarettistischer und mal ausdifferenzierter, mal lustiger und mal zäher". Aber über mildhumorige Unterhaltsamkeit kommt der Abend, der auch so seine Längen hat, nicht hinaus.

"Es gibt Theaterabende, die genauso sind, wie man sie sich erhofft; Theater, das nur aus Sprache, Raum, Körpern und Musik besteht, in dem die Bühne beinahe leer, der Kopf der Zuschauer aber voller Bilder ist", findet dagegen Julia Encke in der FAZ Sonntagszeitung (19.12.2010). Gotscheff-Theater sei Schauspieler-Theater ohne Technikpomp, Requisitenplunder und Staffage: "Stoßen die Figuren mit Schnaps an, heben sie ihre imaginären Gläschen. Fährt ein Unternehmer mit dem Auto davon, geht er, die Hände am unsichtbaren Lenkrad." Lächerlich wirke das Prekäre der menschlichen Existenz, von der hier erzählt wird, dabei jedoch nie. "Immer neu und anders hallt es wider im groß angelegten Echoraum. Es gibt Inszenierungen, die wie Gefängnisse sind. Bei Gotscheff erfährt man als Zuschauer die größtmögliche Freiheit."

Gotscheff habe den vielfach ausgezeichneten Kaurismäki-Film in einige poetische Theatertableaus umgeformt, so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk Kultur vom Tage (18.12.2010). "Es fehlt nicht an netten schauspielerischen Miniaturen, auch nicht an atmosphärisch dichten Passagen, aber sie sind verstreut wie eine Nummernfolge, in der der Erzählfaden verloren geht." Gelegentlich verlassen die Figuren für Momente ihre Rolle und geben kurze philosophische Diskurse oder Bibelzitate von sich, aber auch die gehen in der losen Sammlung szenischer Momentaufnahmen verloren und verschaffen den Akteuren keine zusätzliche Tiefe. "Eine Reise nach Helsinki und zu den verschrobenen immerfort rauchenden und oft trinkenden Kaurismäki-Originalen der finnischen Hauptstadt kommt so nicht zustande."

"Finzi und Koch sind großartige Schauspieler, leider wissen sie das. Also spielen sie mit all ihren narzisstischen Möglichkeiten zwei Männer, die so unnahbar sind wie nur irgend möglich", schreibt Jürgen Otten angesichts des "Sollen wir uns schlagen?"-Dialogs in der Frankfurter Rundschau (20.12.2010). Den Männern, die diesen Dialog in Kaurismäkis Film sprechen, eigne "eine rührende, fast amateurhafte Authentizität. Diese Männer benötigen kein Bild von sich (...). Sie haben eine Distanz zu diesem Bild. Denn sie sind tatsächlich so. Und sie können auch gar nicht anders." Solche Männer gebe es in Finnland wirklich (allerdings: "nicht alle sind so"): "Jedes Wort, das sie sprechen, ist Untertreibung, Verdrängung, Sub- und Kontext. Und genau das ist es, was Kaurismäkis Filme so einzigartig hinreißend macht. Die Bilder erzählen das, was die Worte nicht sagen." Damit komme Gotscheff nicht zurecht. Er versuche "mit Macht, in die Geschichte eine zweite, theatral wie politisch wirksame Ebene einzuziehen", die dem Ganzen eine "kapitalismus- und religionskritische Moral" beimenge. "Und genau das geht kolossal schief." Das fange schon mit dem Bühnenbild an. "Was bei Kaurismäki ungemein poetisch ist, wirkt hier einfach nur bemüht." Der Abend präsentiere "eine Zirkusnummer nach der anderen. Manchmal ist es lustig, meistens albern, selten skurril."

"Rätselhaft" erscheint Matthias Heine von der Welt (20.12.2010) zunächst, was ausgerechnet Gotscheff an Kaurismäki und seinem Stoff interessiert haben könnte. Das Verbindende liege wohl darin, dass Finnland "als das osteuropäischste Land Nordeuropas" gilt. Auf der Bühne sehe man nun "schnauzbärtige Klischees, aber solche, die man lieben soll". Kaurismäki sei so etwas wie ein Anti-Brecht (bzw. Anti-Müller), "ein mild berauschendes Gegengift zu allen Zynismen. Bei ihm macht Armut nicht gemein, sondern gut." Kaurismäki glaube, anders als Brecht und Müller, "dass es innerhalb der Trostlosigkeit der Systeme noch Entscheidungsmöglichkeiten zur Güte gibt". Almut Zilcher schneide im "Direktvergleich mit Kaurismäkis ewiger Anti-Diva Kati Outinen (...) sehr, sehr ehrenhaft ab". Für Heine macht diese Aufführung "anschaulich, wie bühnenhaft Kaurismäkis Filme sind. Die Darsteller sind so virtuos wie immer bei Gotscheff, aber viel entspannter. Man sieht ihnen gern zu, es gibt was zu lachen, man lernt etwas und hinterher kann man sich mit gnadenlosen Hardcore-Brechtianern darüber streiten, ob Kaurismäki nicht die gesellschaftlichen Widersprüche verkitscht."

"Es funktioniert nicht alles, aber einiges an diesem Theaterabend", findet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (20.12.2010) und führt als Beispiel des Funktionierens das Katrin Bracks Bühnenbild an. In solchen Plastiktaschen transportierten normalerweise Händler und Schmuggler ihre Billigwaren, "diese Taschen sind die Container der Graswurzel-Globalisierung". Ein großer Moment sei es, wenn Koch als M. in seine Tasche einzieht und vier ausgewachsene Männer zur Einweihungsparty lädt, hier zeige sich "ein klares unsentimentales, ja, sehr lustiges Theaterbild von Armut, Not und jener lebensbejahenden Bescheidenheit, von der Kaurismäkis Filme erzählen". Auch die Kapelle helfe durch den Abend. Gotscheff und seine Spieler wollten "natürlich nicht den Film kopieren, sondern eine eigene Sprache finden" und näherten sich von zwei Seiten: "mit Pathos und mit Humor". Von den Schauspielern zeigt sich Seidler ziemlich angetan, doch "was dem Abend fehlt, ist der Bezug zur Wirklichkeit. Die interessiert Gotscheff offenbar nicht." Das alles sei "reine und feine Kunst, (...) ein schöner, leicht gedehnter Abend - ein Abend von großzügiger Unbekümmertheit, die allerdings seltsam unangebracht wirkt".

Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (20.12.2010) hat Finnen gesehen, die "unter so seltsamen wie anrührenden Verrenkungen versuchen, ihre Würde zu bewahren". Gotscheff übersetze Kaurismäkis Film "in ziemlich lässiges Theater". "Statt Sozialnaturalismus" gebe es hier "freies Spiel, statt Elendsbebilderung eine melancholische Clowneske". Kochs Mann ohne Vergangenheit sei, "anders als bei Kaurismäki, kein schwerer Brüter und wortkarger Stoiker, sondern ein schmaler Mensch, der sich wach und etwas verloren durch das Leben tastet", mit dem "traurigen Charme eines einsamen Straßenhundes". Dazu sorge Finzi "für komödiantische Leichtigkeit und Spielfreude".

Gotscheff schicke seine Figuren "in eine Welt heiter-resignativer Absurdität", schreibt Simone Kaempf in der taz-Berlin (20.12.2010). Dieses "Typenarsenal" führt er in "eine Reihung skurriler Ereignisse und Stationen, wie man sie auch aus dem Film kennt". Das Bühnenbild hingegen behaupte "weniger die Fantastik des Zufalls als Prekariatselend" behauptet. In Kaurismäkis Film reichten Blicke, "um ohne Dialog alles zu sagen. Bei Gotscheff überrascht es und wirkt fast fehl am Platz. Seine Stärke liegt auch dieses Mal wieder in der Schaffung eines Mentalitätsraums: eine Zwangsgemeinschaft, aufeinander angewiesen und gleichzeitig entsolidarisiert." Am Ende sei alles "dick aufgetragen: die Musik, das sich in die Länge ziehende Happy End, das Spiel mit der Verkleidung". Am ehesten erzählten noch die Plastiktaschen von Verwandlungsfähigkeit. Sie sind Schwitzstube, Umkleidekabine, Rettungsboot - "wie sich die Natur des bunten Plastiks suggestiv verändert, das sind kleine Kunststückchen, die den Abend insgesamt aber nicht verzaubern. Dazu artet die Spiellaune immer wieder allzu nervig aus." Der Witz, der hier als "Prinzip des Widerstands gegen die Verwirrungen des Lebens" benutzt werde, "drängt sich immer mehr in den Vordergrund, raubt der Inszenierung schließlich mehr Kraft, als er Bedeutung zurückgeben kann".

 

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